Die Debatte um Entebbe und den linken Antisemitismus

Die Stunde des linken Revisionismus

In der Debatte über die »Operation Entebbe« will Markus Mohr die Linke insgesamt vom Vorwurf des Antisemitismus freisprechen.

Im November 1999 erklang lauter Jubel in den Wohnzimmern und Hobbykellern der einheimischen Revisionisten. Der Grund: Das Hamburger Institut für Sozialforschung kündigte an, die Wehrmachtsausstellung zu schließen, um sie konzeptionell zu überarbeiten. Vorangegangen war eine jahrelange Debatte, in der den Ausstellungsmachern um Hannes Heer handwerkliche Mängel und sogar Fälschungen vor­geworfen wurden. Zwar fand die unabhängige Expertenkommission, die vom Institut eingesetzt wurde, unter den fast 1 500 Fotos nur zehn, die falsch beschriftet waren. Das ist eine Fehlerquote von unter einem Prozent. In den Sozialwissenschaften gilt das als überaus seriös. Die Öffentlichkeit wollte davon allerdings nichts wissen. Hannes Heer galt fortan als Eiferer, die Wehrmachtsausstellung in ihrer ursprünglichen Form als unredlich. Die Rede von der verbrecherischen Wehrmacht war erneut diskreditiert.

Markus Mohr bezweckt nun etwas Ähnliches. Allerdings heißt der Verein seines Vertrauens nicht Wehrmacht, sondern radikale Linke. Der frühere Autonomenhäuptling und einige seiner Mitautoren haben es sich zum Ziel gesetzt, vermeintliche Legenden um die Flugzeugentführung nach Entebbe zu entkräften.

Um sein Entschuldungsnarrativ aufrechterhalten zu können, muss Mohr unterschlagen, dass auch die Mehrheit der Israelis Juden sind.

Im Juni 1976 hatte ein Kommando der Revolutionären Zellen (RZ) und der palästinensischen Wadi-Haddad-Gruppe eine französische Verkehrsmaschine gekapert, um Gesinnungsgenossen aus Gefängnissen in Israel und anderen Staaten freizupressen. Bereits während der Entführung wurde darüber berichtet, dass die Geiselnehmer die jü­dischen von den nichtjüdischen Passagieren getrennt hätten.

Nichts spricht dagegen, bisherige Lesarten der Operation Entebbe in Frage zu stellen. So haben Mohr und seine Mitautoren auch Interessantes in Erfahrung gebracht. Sie können zeigen, dass Joschka Fischers Behauptung, wegen Entebbe auf Distanz zur militanten Linken gegangen zu sein, eine Erfindung ist. Der damalige Außenminister bemühte sie, als er sich Anfang der Nullerjahre dafür rechtfertigen musste, in seiner Jugend an einer Propagandaveranstaltung der PLO in Algier teilgenommen zu haben. Darum geht es Mohr allerdings nicht. Er will dem Unternehmen Entebbe keine weitere Fußnote hinzufügen, sondern die Linke insgesamt vom Vorwurf des Anti­semitismus freisprechen. Sein Argument geht ungefähr so: In Entebbe sei nicht zwischen Juden und Nichtjuden, sondern allenfalls zwischen Israelis und anderen Staatsbürgern unterschieden worden. Das sei aber nicht anti­semitisch, sondern höchstens antizionistisch. Dieser Unfug kulminiert in der Frage, ob Entebbe als »ultimativer Beweis für den Antisemitismus der Linken gelten« könne. Indem Mohr Zweifel an einem der bekanntesten Beispiele für den Antisemitismus von links sät, will er die Rede vom linken Judenhass insgesamt in Frage stellen. So geht linker Revisionismus.

Das Problem ist nur: Mit den Quellen, auf die sich Mohr beruft, lassen sich seine Behauptungen gar nicht belegen. Zwar haben Alexander Sedlmaier und Freia Anders 2013 in einem Aufsatz für das Jahrbuch für Antisemitismusforschung, den Mohr in seinem Band dokumentiert, gezeigt, dass sich auch unter den freigelassenen Geiseln Juden aus Israel und anderen Staaten befanden. Wie es dazu kam, wissen allerdings auch sie nicht. Viele Möglichkeiten gibt es nicht: Vielleicht hat das Kommando die Selektion tatsächlich anhand der Staatsbürgerschaft vorgenommen, vielleicht konnten die freigelassenen Geiseln ihre Herkunft geheimhalten. Möglicherweise wollten sich die Entführer aber auch nur derjenigen entledigen, die sie für weniger pflegeleicht hielten: Unter den freigelassenen Israelis befanden sich viele ältere Frauen und Kinder.

Fest steht jedenfalls, dass auch Juden ohne ­israelischen Pass in der Gewalt des Kommandos blieben. Einige von ihnen wollten ihre Leidensgenossen nicht verlassen. In mindestens einem Fall lässt sich nachweisen, dass ein orthodox gekleideter Jude – kein Israeli – von den Entführern festgehalten wurde. Unzweifelhaft ist auch, dass die Geiselnehmerin Brigitte Kuhlmann einem Mann die Kippa vom Kopf schlug. Auch darauf verweisen Sedlmaier und Anders. Mohr jedoch interessiert sich nicht dafür. Während seine Gewährsleute noch erklären, dass der Quellenbefund »uneindeutig« sei, ist für Mohr alles klar. Wer seiner Lesart widerspricht, ist ein verbohrter Anhänger des »Selektionsnarrativs«.

Doch selbst wenn die Entführer anhand der Staatsbürgerschaft selektiert hätten: Was würde sich dadurch ändern? Um sein Entschuldungsnarrativ aufrechterhalten zu können, muss Mohr unterschlagen, dass auch die Mehrheit der Israelis ­Juden sind. Genau das war nämlich der zentrale Grund dafür, dass sich die deutsche Linke ebenso zwanghaft wie strömungsübergreifend dem Antizionismus verschrieb. Abgesehen von den USA gab es keinen anderen Staat, in dessen Ablehnung sich die verfeindeten Fraktionen der Linken spätestens ab 1967 so einig waren.

In dieser Fixierung verschaffte sich der deutsche Antizionismus Geltung. Denn wie auch die Biographien etlicher Wortführer der Protestbewegung zeigen – von Rudi Dutschke über Bernd Rabehl bis zu Horst Mahler – war die Neue Linke weniger neu als deutsch. Um den insgeheim ersehnten Schulterschluss mit den Eltern vollziehen zu können, der das bewusstlose Ziel so mancher Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg war, musste die Erin­nerung an das Ereignis abgewehrt werden, das die Familienzusammenführung behinderte. Auschwitz hatte nicht nur den fortschrittsfrommen Optimismus der Zwischenkriegszeit dementiert, an den die Protestbewegung bei aller Distanz zur »alten« Linken anknüpfen wollte. Obendrein hatte die Verschmelzung von Bevölkerung und Regime, die sich vor allem an der Vernichtung der europäischen Juden zeigte, in Deutschland zugleich den Bezug auf die Nation diskreditiert. Die Existenz Israels wiederum erinnert permanent an Auschwitz. Als wollten sie Freuds These über den Wiederholungszwang von Neurotikern bestätigen, benahmen sich Vertreter der Neuen Linken wie von einer unsichtbaren Hand aus dem Führerbunker gelenkt. »Die Abwehr an die Erinnerung an das Unsägliche, das geschah«, so schrieben Horkheimer und Adorno einmal, »bedient sich eben der Motive, welche es bereiten halfen«: antisemitischer Raserei, die sich lediglich neu ausprägt.

Vor allem die RZ verhielten sich in den siebziger Jahren wie die letzten versprengten Einheiten der Wehrmacht oder des Volkssturms. Sie ernannten die Deutschen im Stil der National-Zeitung zu einem von den Amerikanern »kolonisierten Volk«, sprachen von »Volksfeinden« und vom »Volkskrieg«. Zugleich arbeiteten sie sich an den ehemaligen Befreiern, den Überlebenden des Holocaust und ihren Nachkommen ab. Ob die Juden, auf die sie es abgesehen hatten, einen israelischen Pass besaßen, war ihnen oft egal: Zionist war eine Chiffre für Jude. So berichtete der RZ-Aussteiger Hans-Joachim Klein aus dem Jahr von Entebbe, dass die Gruppe zeitweise überlegt habe, Heinz Galinski, den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde von Berlin, zu ermorden. Die RZ dementierten 1979 halbherzig, erklärten jedoch, dass Galinski »alles andere« als ein jüdischer Gemeindevorsitzender sei. Darum solle die Linke überlegen, welche Rolle er für die »Verbrechen des Zionismus« spiele – und »was man in einem Land wie dem unseren dagegen machen kann«. Das war ein kaum verhohlener Aufruf zu einem Anschlag.

Im November 2000 bestätigte der Aussteiger Gerd Schnepel schließlich, dass die Wadi-Haddad-Gruppe, mit der die RZ auch jenseits von Entebbe eng zusammenarbeiteten, Galinski zeitweise als Ziel für »irgendeine Art von po­litischer Aktion« im Auge hatte. Der Plan wurde zwar nicht weiter verfolgt. Noch in ihrer Kommandoerklärung zur Erschießung des hessischen Wirtschaftsministers Heinz-Herbert Karry von 1981 sprachen die Revolutionären Zellen jedoch von den »zionistischen Verwicklungen« ihres Opfers. Auch Karry, einer der ersten Juden, die es seit der Ermordung Walter Rathenaus auf einen deutschen Ministerposten geschafft hatten, besaß keinen israelischen, sondern einen deutschen Pass.

Das alles weiß Markus Mohr selbstverständlich. Anstatt sich wenigstens auf die halbherzige Selbstkritik zu beziehen, um die sich die Revolutionären Zellen seit den Achtzigern bemühten, will er sich dem linken Erbe stellen – und zwar »ohne überbordende Distanzierungsbemühungen«. Sein Verständnis für die linken Nazimethoden scheint jedenfalls größer zu sein als seine Kritik daran. Martin Janders Vorwurf, Mohr gehöre zu »Kunzelmanns Erben«, ist damit überaus berechtigt. Vielleicht ist er sogar etwas zu ­freundlich.