Nazigold in Datenströmen

Neal Stevensons »Cryptonomicon« verbindet den Zweiten Weltkrieg und die Hacker-Kultur des heutigen Kalifornien, Informationstechnologie und die Kunst der Verschlüsselung.

Es gibt Bücher, die sieht man und vergisst sie nicht wieder. Sie tauchen mal hier auf und mal da; man beobachtet, wie sie bei Geburtstagen jemandem mit Verschwörerblick in die Hand gedrückt werden; in Editorials von Zeitschriften wird ihr Titel gedroppt. Man beginnt sich ein wenig umzuschauen. Misstrauisch gegenüber Geheimtipps, neugierig gegenüber dem, was man nicht kennt, stellt man fest, dass es dazugehörige Homepages gibt, und schließlich besorgt man sich das Buch. Es kommt ins Haus, man wiegt es in der Hand, es ist gebunden wie eins der Bücher aus dem vergangenen Jahrhundert, man fängt an zu lesen.

»Cryptonomicon« heißt es, und die Geheimnistuerei und das wissende Herumreichen haben einen Grund. Es gibt wenige Orte, wo sich Links-Perry-Rhodisten, Produzenten von Musik aus Strom, die Kittler-Jugend, Hans-Henny-Jahnn-Jünger, verstreute Lesegruppen von einschlägigen Philosophiebüchern französischer Autorenduos, Thomas-Pynchon-Exegeten, Chaos-Computer-Club-Sympathisanten, Linux-Entwickler und Open-Source-Software-Newsgroups-Betreiber oder postautonome Abhörparanoiker »Guten Tag« sagen können. »Cryptonomicon« ist einer davon.

Quer durch die verschiedenen Zeitebenen der Geschichte taucht immer wieder ein Buch auf - das titelgebende »Cryptonomicon«. Ein Kompendium der Verschlüsselungstechnik, entstanden im 17. Jahrhundert, aber von jedem Leser weitergeschrieben und mittlerweile kein einfach zuzuordnender Text mehr, sondern eine Sammlung verschiedenster kryptografischer Anwendungen. Ein Buch, das mal auf amerikanischen Dachböden gefunden wird und mal in japanischen Luftschutzkellern. Und der Roman selbst setzt dies noch fort, durch einen Anhang mit der Anleitung zu einer Verschlüsselungstechnik namens Solitaire. Ein Umstand, der es schwierig macht, digitale Kopien des Buchs zu exportieren, da diese unter die US-amerikanischen Kriegswaffenkontrollgesetze fallen.

Es geht also um Kryptografie: Die Schlüsseltechnologie des Informationszeitalters - das, was alle wollen und brauchen, die in den verschiedenen Abteilungen der Welt das Sagen haben: Groß- und OffShore-Banken, Militär und Geheimdienste jeder Fahne. Das, womit derjenige, der darüber verfügt, bestimmen kann, wer wann was weiß. Gleichzeitig ist es natürlich auch genau das, was im Zentrum der Hacker-Kultur steht und dabei eine denkbar große Schnittmenge mit dem hat, was man in unseren Breiten ganz unhip Datenschutz nennt. Kryptografie betrifft jeden, der sich dieses Buch online bestellt und dafür seine Kreditkarte benutzt.

»Cryptonomicon« ist ein Hacker-Roman. Ein Roman, der den Hacker als universales Role-Model für denjenigen in die Literatur einführt, der sich keine 0 für eine 1 vormachen lässt, eine kalifornische Endneunziger-Version des kritischen Intellektuellen. Und die Reihe der Hacker in »Cryptonomicon« reicht von Archimedes und Daedalus bis zu den beiden Protagonisten des Romans, Lawrence Waterhouse und sein Enkel Randy.

Lawrence Waterhouse ist ein ziemlicher Taugenichts, ein Landei, das gerne Orgel spielt und einen begnadeten Blick für Zahlenreihen hat. Eine Kombination, die ihn im Laufe des Romans den ersten Computer erfinden lässt. Doch zunächst befinden wir uns in den späten dreißiger Jahren an der US-amerikanischen Ostküste. Durch Zufall hat Waterhouse ein Stipendium für ein Mathematikstudium bekommen, und mit zwei Studienfreunden macht er eine Radtour: Alan Turing, dem Erfinder der nach ihm benannten Maschine - dem Blueprint aller Computer -, und Rudolf von Hacklheber, deutscher Mathematiker, der bald darauf nach Berlin verschwindet, um Verfahren zu entwickeln, wie die deutsche Armee ihren Funkverkehr verschlüsseln kann.

Sein Enkel Randy ist genauso ein Nichtsnutz, die Achtziger hat er vor Computern verdaddelt, anstatt zu studieren. Das hat ihm zwar eine Reihe von Engagements bei diversen Garagenfirmen eingebracht, aber im Unterschied zu seinen Kumpels von damals, die jetzt Paläste in der Größe von Flugzeug-Hangars bewohnen, hat Randy seine Anteile an diesen Start-Ups immer zu früh verkauft oder zu spät, oder sie sind irgendwelchen Rechtsstreitigkeiten zum Opfer gefallen. Und jetzt ist ihm auch noch seine Freundin davongelaufen. Zeit also, sich eine neue Aufgabe zu suchen. Und so startet er mit seinem Partner Avi das größenwahnsinnige Unternehmen, im Südpazifik einen Daten-Hafen zu eröffnen, einen Ort, der den Informationsfluss frei von jeder Art von Kontrolle zulässt und perspektivisch auch als Ort der Ausgabe einer virtuellen Währung dienen soll.

Das ist die Ausgangssituation, und von hier aus entfaltet Stevenson ein Szenario, das nichts weniger versucht, als in einer großen Erzählung die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zu schildern, aus der Perspektive des Computer-Kalifornien der späten Neunziger. Denn Computertechnologie ist Kriegstechnologie. Ohne den Krypto-Krieg zwischen den Deutschen und den Alliierten um die deutsche Verschlüsselungsmaschine Enigma hätte sich die Entwicklung all dieser Maschinen niemals so sehr beschleunigt. »Cryptonomicon« erzählt von der Geburt der Informationstechnologie aus dem Geist des Zweiten Weltkriegs und beschreibt diesen Krieg als Infowar.

Lawrence Waterhouse wird als amerikanischer Verbindungsoffizier nach England verlegt, um zusammen mit Alan Turing an der Entschlüsselung des deutschen Marine-Funkverkehrs zu arbeiten. Doch den Alliierten nützt ihr Wissen wenig, denn wenn sie es nutzen würden, um deutsche U-Boote oder Konvois auf den Grund des Meeresbodens zu schicken, dann würden die Deutschen wissen, dass die Alliierten wissen, was die Deutschen wissen. Das wiederum würde bedeuten, dass neue Codes ausgegeben werden würden.

Und so schicken die Alliierten Geheimkommandos los, um Zufälle zu inszenieren, die es den Deutschen plausibel machen sollen, dass bestimmte Informationen in Feindeshand gelandet sind. Bobby Shaftoe leitet solch ein Kommando, errichtet Fake-Geheimdienst-Zentralen in Sizilien, lässt vor Norwegen Schiffe sinken und will doch eigentlich nichts als zurück nach Manila, wo seine schwangere Verlobte im anti-japanischen Untergrund kämpft. Und auch diese beiden tragischen Helden haben eine Enkeltochter, Amy Shaftoe, die vierzig Jahre später Randy Waterhouse in Manila den Kopf verdreht.

Neal Stevenson surft durch alle wichtigen Daten des amerikanischen Kriegs im Südpazifik: den Angriff auf Pearl Harbour, die Schlacht von Guadalcanar, den Verlust und die Rückeroberung von Manila. General Douglas MacArthur hat mehrere Gastauftritte, genau wie Ronald Reagan, außerdem geht es um die japanische Besetzung von Shanghai und um den deutschen U-Boot-Krieg. Natürlich geht es um Geld und Gold - das Nazigold -, denn jenseits aller übergreifenden Ideen und Entwürfe, auch aller persönlichen Verstrickungen sind es die Geldströme, die die beiden Zeitebenen miteinander verbinden und sich mit den Datenströmen überlagern.

Zu guter Letzt handelt »Cryptonomicon« ganz hollywoodistisch-amerikanisch auch davon, dass die Welt ein kleines Stück vorangebracht und ein bisschen weiter nach Westen geschoben werden kann, wenn sich alle zusammentun, deren Herz am rechten Fleck sitzt. Ganz kalifornisch verbindet sich hier die Abneigung, Steuern zahlen zu müssen, mit der Antipathie gegen die Anwälte von Großkonzernen und mit globalen Erlösungsphantasien.

Neal Stevenson gilt als Hacker-Autor. In »Snow Crash« von 1992 hatte er mit der The Street genannten virtuellen Welt ein ähnlich dichtes und gut funktionierendes Bild für die Zukunft einer virtuellen Realität entworfen, wie William Gibson in seinem Roman »Newromancer«, wo er den Cyberspace erfand, jenen gerade an Trennschärfe und damit an Konjunktur gewinnenden Begriff. Doch Stevenson schreibt nicht nur Science-Fiction, er veröffentlicht auch Aufsätze über die Vor- und Nachteile verschiedener Computer-Betriebssysteme und von Open-Source-Software. Stevenson weiß also, wovon er spricht, wenn in »Cryptonomicon« Computer detail-Probleme erörtert werden.

Wahrscheinlich hat er auch deshalb das besondere Vertrauen all jener Computergeeks und Cypherpunks, die er in »Cryptonomicon« als Secret Admirer auftreten lässt - eine graswurzelanarchistische Hacker-Guerilla, die Eingriffe in die Freiheit der Information, sei es von Seiten des Staats oder von Großkonzernen, mit dem Lahmlegen von deren Computern beantworten.

In Deutschland ist »Cryptonomicon« noch ein geheimer Treffpunkt; in den USA ist es ein Ort des freundlichen »Hallo« der verschiedensten Fraktionen des diffusen, gegenkulturell geprägten Nicht-Einverstanden-Seins. Und damit schaffte es das Buch dort bis auf den ersten Platz der amazon. com-Bestsellerliste.

Neal Stevenson: Cryptonomicon. Avon Books, New York 1999, 920 S., $ 27,50. In Deutschland für rund DM 55 über www.amazon.de zu beziehen