Debatte über den Imperialismus

Realer Imperialismus und Mythenbildungen

Weder der Kampfbegriff der »Zivilisation« noch die Globalisierungskritik haben analytische Trennschärfe.

Die Weltlage ist weder von einem Netzwerk mit einem »produktiven Innerhalb« (Toni Negri) geprägt noch von einer einheitlichen »Weltinnenpolitik«. Schon gar nicht haben Kapitale, wie ich in dieser Artikelserie las, den Spaß am Krieg verloren, weil er Geld kostet. Der US-Botschafter in Saudi-Arabien sagte nach dem Golfkrieg: »Nur die spanische Eroberung der Neuen Welt hat mehr eingebracht.« Der Raub fremder Mehrwertmasse kann Kriegsgeräte profitabel machen, und nicht jede historische Epoche begnügt sich mit Terms of Trade, Schuldentilgung und anderen Profittransfers ins Zentrum.

Das prägende Merkmal der Weltpolitik ist die rasende Regression (Rückkehr zu älteren Verhaltensweisen bei Verlust des höheren Niveaus) zum klassischen Imperialismus mit Eroberungen, Protektoraten und nationalen Konkurrenzen. Das vergangene, etwas höhere Friedensniveau beruhte auf der Existenz des sowjetischen Gegenblocks, der die Expansion und die Lust, übereinander herzufallen, bremste. Seit der Westen seine Klammer verloren hat, brechen die Dämme. Die Militärdoktrinen wurden auf die jeweils nationale Sicherung von Märkten, Rohstoffen, Transportrouten und die Beseitigung von Renegaten-Staaten umgeschrieben.

Die USA sind aufgebrochen, die Besitzstände zu ihren Gunsten zu korrigieren. Zbigniew Brzezinski hatte 1999 in seinem Buch »Die einzige Weltmacht - Amerikas Strategie der Vorherrschaft« angekündigt: Wegen der Schwäche Europas und Russlands habe »Amerika nur eine kurze historische Chance«, die »Anarchie« auf der Welt zu beseitigen und »die Gefahr eines Aufstiegs einer neuen Macht hinauszuschieben«. Es wäre fahrlässig, die Chance verstreichen zu lassen, zumal es in der Geschichte des Imperialismus völlig normal ist, dass eine Weltmacht ihre Einflusssphären ausdehnen will und nicht abwarten möchte, bis andere Gegner aufgestiegen sind.

Die USA erfreuen sich, wenn man Henry Kissingers Buch »Die Herausforderung Amerikas - Weltpolitik im 21. Jahrhundert glaubt, »zu Beginn des neuen Jahrtausends einer Stellung in der Welt, mit der sich keines der Imperien der Vergangenheit messen kann«. Als Folge dieser Macht sind ihre »Truppen über die ganze Welt verstreut« und verwandeln sich gern in »permanente militärische Bindungen«, weil »Kapital den höchsten Gewinn sucht bei möglichst geringem Risiko«. In dem »gnadenlosen weltweiten Feldzug« geht es nur nebenbei darum, Terroristen zu verhaften. »Vor allem geht es darum, sich nicht die außerordentliche Gelegenheit nehmen zu lassen«, das »internationale System« mit einer »Betonung des nationalen Interesses« zu korrigieren.

»Trotz der viel beschworenen Globalisierung gibt es« nämlich »geopolitische Realitäten, die modische Träumereien von einer Universalität ad absurdum führen«. Schon »der Wettstreit um den Zugang zum Erdöl und seine Transportrouten« könnte sich »als gewichtiges Hindernis einer koordinierten Politik erweisen«. Wenn große Korrekturen angesagt sind, ist ein nicht kriegsfähiger Imperialismus nur ein halber. Deshalb will die EU bis 2003 eine Eingreiftruppe mit über 100 000 Soldaten, 400 Kampfflugzeugen und 100 Schiffen aufstellen, die mindestens ein Jahr lang Krieg führen kann, und zwar autonom, »wie nationale Streitkräfte«. Für den Fall, dass die EU losschlägt, »werden die Vereinigten Staaten« aber »nicht ruhig zusehen können« (Kissinger), zumal Deutschland ohne Bindung an die USA »ein Anker« fehle, »um nationale Impulse zurückzuhalten«, die immer wieder auf einen Gegenblock mit Russland zusteuern. Es sei völlig offen, ob »die Nationen des Westens sich wieder auf einem Kurs befinden, der sie zweimal fast vernichtet hätte«.

Auch in Asien braut sich einiges zusammen. Japan hat sich den zweitgrößten Kriegsetat auf der Welt erschlichen und pflegt wieder Großmachtambitionen, und wenn China weiter so nachindustrialisiert und rüstet wie Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg, wird es »zum Rivalen der Vereinigten Staaten«. Eine Entscheidungsschlacht ist aber »nicht im ersten Viertel des Jahrhunderts« zu erwarten. Vorher wären Kriege um die Vorherrschaft in Asien unter Beteiligung von »Indien, China, Japan und Russland nicht gänzlich undenkbar«. So oder so: Wenn in Asien »eine Hegemonie droht, würde Amerika ebenso einschreiten wie im Zweiten Weltkrieg gegen Japan«. Vorher geht's um den Nahen Osten.

Der Duden definiert Imperialismus als »die Bestrebung einer Großmacht, ihren politischen, militärischen und wirtschaftlichen Macht- und Einflussbereich ständig auszudehnen«. Der britische Ökonom John Atkinson Hobson sprach von der Ausdehnung der Akkumulation auf das Ausland, sofern die inländische Kapitalanlage Schwierigkeiten bereite. In Lenins Katalog ist mit Ausnahme seines faulenden Kapitalismus vieles aktuell. Mit allen Definitionen ließe sich etwas anfangen, mit den um sich greifenden Mythenbildungen leider nichts. Der Mythos vom Krieg der Zivilisation geht auf Herrn Kipling zurück, der den Imperialismus als Bürde des weißen Mannes begriff, Barbaren humanitäre Werte und Kultur bringen zu müssen. Diese Definition erlebt ihre Renaissance bei Linken und Außenministern. Zivilisation muss nicht erklärt werden, sie steht heute nur für imperialistische Expansion und die alte Mythenfunktion: die Bindung des Einzelnen an die Gruppe, die sich im Weckruf der bedrohten Stämme des Abendlandes spiegelt.

Während die aggressive »Zivilisation« als Kampfbegriff eingesetzt wird, suggeriert der Globalisierungsmythos nur ein Bescheidwissen über nichts. Die einen bringen den europäischen Imperialismus gegen den amerikanischen in Stellung. Andere beklagen, dass die »westfälische Ordnung, die das moderne Staatensystem bis in das 20. Jahrhundert geprägt hatte«, zersetzt wird (Joachim Hirsch). Der westfälische Friede beendete 1648 den 30jährigen Krieg. Die nächsten 300 Jahre verbieten jede romantische Begräbnisrede auf die Epoche der Nationalstaaten. Er meint auch nur die guten »keynesianisch-sozialstaatlichen Strukturen der Nachkriegszeit«, in der Adenauer regierte. Mit dem Staat, der ohne globale Hindernisse angeblich Gutes im Schilde führt, wird das Subjekt, das allein für Verbesserungen sorgen kann, ausgelöscht. In der Adenauer-Ära gab es nur günstigere Bedingungen für die Durchsetzung: die Frontstellung zum Hauptfeind und die Prosperität. Der Kapitalismus springt nicht von Keynes zu Adam Smith, sondern kehrt zur Normalität zurück, seit er auf nichts mehr Rücksicht nehmen muss.

Der Staat wird nicht aufgelöst, er kümmerte sich als »die Form, in welcher die Individuen einer herrschenden Klasse ihre gemeinsamen Interessen geltend machen« (Marx), schon immer um das expansive Kapital und verfolgt damit das eigene Interesse, so viel Profit wie möglich aus der Welt in das eigene Staatsgebiet zu lenken. Mit dem Raub eines möglichst hohen Quantums festigt er Macht und Spielraum. Auch die Imperialisten wollen einen starken Staat. Nach innen, um den Verzehr von Profit durch Menschen, die selber keinen Mehrwert schaffen, ohne Risiko zu minimieren, und nach außen, um andere Staaten gefügig zu machen.

China schützt als starker Staat die Wachstumszone. Die USA sind ein mächtiger Staat, der wenig für Soziales verprasst, dem Kapital vorschreibt, wo es keine Geschäfte machen darf (Kuba, Iran, Irak), und andere Staaten liquidiert. Als der Enron-Konzern baden ging, sagte Finanzminister O'Neill: »Firmen kommen und gehen.« Weltkonzerne verschwinden, aber nicht der Staat. Die Vereinigung der Staaten auf einen Globalisierungsnenner ist Humbug. Es gibt starke Staaten (USA, Deutschland), schwache (Somalia), neue (Kasachstan), aufgelöste (Jugoslawien) und einverleibte (DDR).

Die »Globalisierung« hat wenig Neues zu bieten. Der Geldtransfer in Nanosekunden kann es bis heute nicht mit dem Schwarzen Freitag aufnehmen. Der Kapitalexport fällt mit fünf Prozent vom Investitionsvolumen klein aus, gemessen an den 40 Prozent im britischen Empire. Die Trennung der Kapitale in ein raffendes und ein schaffendes kannte Hitler schon, und »was die Weltwirtschaft angeht, so ist sie verflochten«, schrieb Kurt Tucholsky.

Das hielt den Krieg nicht auf, weil Kapital bei sinkender Profitrate schnell entflochten ist, wie es die nationale Regression lehrt. »Solange alles gut geht, agiert die Konkurrenz als praktische Brüderschaft«, schrieb Marx, aber »sobald es sich nicht mehr um Teilung des Profits handelt, sondern um Teilung des Verlustes, sucht jeder« so viel wie möglich »dem anderen auf den Hals zu schieben«, und die »Konkurrenz« verwandelt sich »in einen Kampf der feindlichen Brüder«.

Jede Epoche hat auch Neues zu bieten. Konzerne leisten sich in Afrika Privatarmeen für Diamanten-, Kautschuk- und Ölfelder, die den Staat entlasten, aber Vorboten nationaler Eingriffe sein können. Das Just-In-Time-Prinzip diszipliniert Menschen in der Arbeit und in seiner internationalen Version Staaten. Arbeit und Freizeit verschmelzen zu einem immer betriebsameren Ganzen. Es gibt Datenübertragungen, die Standorte vernetzen, aber die Vaterländer nicht überflüssig machen. Es gibt eine Mediendominanz mit Derrick und Britney Spears, die den Hungertod und Splitterbomben aber nicht relativieren sollte, und gar schrecklich ist die Vorstellung, im Boot mit Oskar Lafontaine, Attac, schlesischen oder baskischen Fanatikern gegen amerikanischen Rock und Pop zu kämpfen.