Fehler im System

Nach dem spektakulären Erfolg Le Pens bei den französischen Präsidentschaftswahlen mobilisieren jetzt seine Gegner.

So hatten sie sich ihre Ankunft wohl nicht vorgestellt. Am vergangenen Samstag kamen die etwa 60 Teilnehmer des Fußmarsches der Sans-papiers, der »illegalen« Immigranten, in der französischen Hauptstadt an. Ursprünglich wollten die Marokkaner, Algerier, Tunesier und Senegalesen, die Ende März in Marseille gestartet waren, mit ihrem Marsch den sozialistischen Präsidentschaftskandidaten Lionel Jospin an ein Versprechen erinnern, das er 1997 gegeben hatte. Damals stellte er eine Legalisierung des Aufenthaltsstatus für Illegale in Aussicht.

Doch alles kam anders als erwartet. Jospin schied bereits in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen aus, der Konservative Jacques Chirac steht nun am kommenden Sonntag in der Stichwahl dem Rechtsextremen Jean-Marie Le Pen gegenüber. Die Sans-papiers hingegen standen plötzlich an der Spitze eines Zuges von mindestens 60 000 Teilnehmern, die gegen den Altfaschisten protestierten.

Auch in zahlreichen anderen französischen Städten kam es zu Protestveranstaltungen. In Grenoble nahmen 20 000 Menschen an der größten Kundgebung der letzten 40 Jahre teil. In Marseille, Toulouse, Bordeaux und Strasbourg demonstrierten mehrere tausend Menschen.

Seit dem spektakulären Erfolg Le Pens vom vorletzten Sonntag reißen die Demonstrationen gegen den rechtsextremen Präsidentschaftskandidaten nicht mehr ab. Zahlreiche Schüler und Studenten beteiligen sich daran, aber auch Immigranten in einem bisher nicht erlebtem Ausmaß sowie linke Organisationen.

Die bürgerliche Rechte hingegen verurteilt die Mobilisierung auf der Straße, der erzkonservative frühere Premierminister Edouard Balladur warnte gar vor Gewalttaten und der Gefahr eines Bürgerkrieges. Der Höhepunkt der Demonstrationen gegen Le Pen wird am 1. Mai erwartet. An diesem Tag mobilisieren die Gewerkschaften und die Linksparteien gegen Le Pen. An diesem Tag will aber auch die extreme Rechte ihren jährlichen Aufmarsch abhalten, mit dem sie die »Nationalheilige« Jeanne D'Arc feiert.

Was Le Pen betrifft, wissen die Sans-papiers bereits, welche Zukunft sie zu erwarten haben. »Wir werden Internierungslager errichten, in denen sie relativ bequem darauf warten können, nach Hause zu gehen«, tönte der Gründer und Präsident des Front National (FN) am Donnerstag der vergangenen Woche beim Fernsehsender LCI. Im Parteiprogramm des FN wird der Ausschluss jener, die keine französischen Staatsbürger sind, von allen Sozialleistungen gefordert.

Es gilt aber als nahezu ausgeschlossen, dass Jean-Marie Le Pen in der Stichwahl gegen den Amtsinhaber Jacques Chirac siegen wird. Chirac kann auf die Unterstützung zumindest eines Teils des linken Wählerpotenzials zählen. Le Pen selbst hat am vergangenen Donnerstag die Erfolgsmarke bei 30 Prozent der Stimmen bei der Stichwahl angesetzt. Bereits dies wäre enorm, auch wenn eine niedrige Wahlbeteiligung dafür sorgen könnte, dass es dazu kommt.

Ein solches Resultat würde es dem FN erlauben, auch künftig als ernsthafte Alternative bereit zu stehen. Für den Fall, dass die Sozialdemokraten die Parlamentswahl im Juni gewinnen und es zu einer erneuten Kohabitation kommt, könnte sich der FN als wichtigste Oppositionskraft profilieren. Außerdem wäre ihm ein starker Mitgliederzuwachs so gut wie sicher.

Der FN kann neue Kader gut gebrauchen. Paradoxerweise hat die extreme Rechte ihr mit Abstand bestes Resultat zu einem Zeitpunkt erzielt, an dem die Zahl ihrer Mitglieder stark zurückgegangen ist.

Ihr aktueller Erfolg basierte vor allem auf der Medienpräsenz ihres »starken Mannes«. Im März hatte er wegen der fehlenden Unterschriften von 500 Mandatsträgern - der Voraussetzung für eine Kandidatur zur Präsidentschaft - großen Wirbel in den Medien ausgelöst. Mit dieser Kampagne hatte er es am Ende doch geschafft, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. Und gleichzeitig konnte er sich einmal mehr als »Opfer des Systems« profilieren.

Le Pen konnte in diesem Jahr vorwiegend auf den Wählerstamm setzen, den die extreme Rechte bereits seit Mitte der neunziger Jahre für sich gewonnen hatte. 4,8 Millionen Franzosen wählten ihn in der vergangenen Woche. Hinzu kommen noch die 664 000 Stimmen, die für seinen rechtsextremen Konkurrenten Bruno Mégret abgegeben wurden. Dies entspricht, im Vergleich zu den letzten Präsidentschaftswahlen von 1995, einem Zuwachs von etwa 900 000 Stimmen.

Woher diese neuen Wähler kamen, hat eine Auswertung der konservativen Tageszeitung Figaro ergeben. 27 Prozent der Anhänger des rechtsbürgerlichen EU-Gegners Charles Pasqua wählten dieses Mal rechtsextrem. Ein weiterer Teil kommt von den bisherigen Wählern der ultraliberalen Partei Démocratie Libérale (DL) Alain Madelins, eines Verehrers von Silvio Berlusconi.

Die soziale Zusammensetzung der Wählerschaft Le Pens hat sich hingegen seit 1995 wenig verändert. Ähnlich wie damals hat er in den unteren sozialen Schichten am besten abgeschnitten. Jeder vierte Arbeiter und rund 30 Prozent der Erwerbslosen stimmten, ersten Wahlanalysen zufolge, für den rechtsextremen Kandidaten. Allerdings ist die Wahlenthaltung in diesen Teilen der Gesellschaft besonders hoch.

Unter den traditionellen Mittelschichten, den Handwerkern und Kleinunternehmern, sind Anhänger Le Pens mit rund 19 Prozent leicht überrepräsentiert. Der Anteil der FN-Stimmen unterliegt jedoch auch starken regionalen Schwankungen und ist im Südosten Frankreichs mit Abstand am größten. Im Elsaß hat der FN bereits den Status einer Volkspartei. Auch in den industriellen Krisenzonen sowie den Trabantenstädten der Ballungszentren liegt der FN-Anteil seit Jahren auf konstant hohem Niveau.

Dort hatten die Linke und die Arbeiterparteien bereits Anfang der neunziger Jahre besonders hohe Einbußen erlitten, als Folge der enttäuschenden Bilanz der Linksregierungen unter François Mitterrand.

Es gibt auch einige lokale Ausnahmen, so beispielsweise im nordfranzösischen Calais, wo Le Pen in diesem Jahr offenbar frühere Linkswähler gewinnen konnte. Der seit einem Jahr schwelende Konflikt um das Flüchtlingszentrum des Roten Kreuzes in Sangatte, wo die »Illegalen« auf die Überfahrt nach Großbritannien warten, hat dort offenbar eine wichtige Rolle gespielt.

Was waren die Themen, die die FN-Wähler bewegten? Für 58 Prozent aller Wahlberechtigten, aber für 74 Prozent der Wähler Le Pens stellte die »Innere Sicherheit« das wichtigste Thema des Wahlkampfs dar. 60 Prozent der FN-Wähler nannten »die Immigration« als Motiv für ihre Entscheidung - mehr als dreimal so viel wie unter den restlichen Wählern. Alle anderen Probleme, wie beispielsweise Arbeitslosigkeit, soziale Ausgrenzung oder Armut, sind hingegen für die Anhänger des FN-Präsidenten weniger wichtig als für den Durchschnittswähler

Das mag überraschen, da die Mehrheit der FN-Wählerschaft nicht gerade zum wohlhabenden Teil der Gesellschaft gehört. Eine Erklärung für dieses Phänomen besteht darin, dass die Wähler Le Pens nicht mehr an politische, kollektive und solidarische Lösungen der sozialen Probleme glauben. Der Erfolg des Law-and-Order-Diskurses der extremen Rechten beruht gerade auf der diffusen Gewalt in den Banlieues, in denen sich die sozialen Probleme konzentrieren.

Nicht alle Anhänger Le Pens sind Rassisten. Auch einige Immigranten, die in den so genannten Problemzonen wohnen, haben für ihn votiert. Sie glauben, dass die harte Hand des Altfaschisten lediglich die »Unruhestifter« bedrohe. Sie haben dabei einen Umstand übersehen. Ausnahmslos alle Wähler von Jean-Marie Le Pen haben für einen Rassisten gestimmt.