Friedensmacht im Tarnanzug

Wie konnte Deutschland so normal werden? Der Autor Marcus Hawel versucht sich an einer Erklärung, betreibt jedoch Politikberatung. von peter bierl

Im Jahr 1900 metzelten deutsche, britische, französische, japanische, amerikanische, russische und österreichische Truppen den so genannten Boxer-Aufstand in China nieder. Die Strafexpedition stand unter deutschem Kommando und würde heute von Kriegstreibern als »humanitäre Intervention« oder »multinationale Sicherheitsvorsorge« bezeichnet. Immerhin hatten Rebellen europäische Missionare und Diplomaten getötet und belagerten das Gesandt­schaftsviertel in Peking. Der Sozialdemokrat Karl Kautsky prognostizierte später, ein Staatenbund werde imperialistische Konkurrenz, Wettrüsten und Kriegsgefahr beenden.

Diese Ultraimperialismusthese hat sich spätestens im Sommer 1914 blamiert. Neu aufgelegt haben sie Negri und Hardt mit ihrem Empire-Ansatz, dem manche Linke heute anhängen. Mar­cus Hawel hält wenig von der These und plädiert auf sympathische Weise für den Imperialismusbegriff. Der Politikwissenschaftler hat ein Buch über die Normalisierung der deutschen Außenpolitik verfasst. Er analysiert, welche Mittel und Wege die herrschende Klasse und ihr leitendes politisches Personal gefunden haben, Machtpolitik zu betreiben. Die Erinnerung und das Gedenken an die NS-Verbrechen werden funktionalisiert. Die »Normalisierung« zieht Militäreinsätze in aller Welt nach sich. Hawel zeigt die Entwicklung von Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) bis zum Verteidigungsminis­ter Peter Struck (SPD) auf. Unter Kohl beschloss der Bundessicherheitsrat 1982, »Out-of-Area«-Einsätze seien verfassungswidrig, wenn die Bun­desrepublik nicht angegriffen werde. Struck behauptete, Deutschland müsse am Hindukusch verteidigt werden.

Hawel skizziert in seinem Buch mit dem Titel »Die normalisierte Nation. Vergangenheitsbewäl­tigung und Außenpolitik in Deutschland« überzeugend, wie deutsche Politiker europäische und transatlantische Institutionen nutzen, um »nationale Interessen« zu vertreten, gegen die USA und europäische Verbündete, gelegentlich ganz brachial wie im Fall der Anerkennung der Sezession Sloweniens und Kroatiens 1991. Heute sei Deutschland ein »Global War Player«, dessen Rüstungsausgaben – im Jahr 2002 sprach der Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat, von 220 Milliarden Euro – nur von den USA und Großbritannien übertroffen werden. Die wichtigsten Ereignisse auf dem Weg zum derzeitigen Status waren der Anschluss der DDR, den die deutsche Regierung gegen die Bedenken der ehemaligen Alliierten und anderer Nachbar­staaten durchsetzte, das Schüren der Bürgerkrie­ge in Jugoslawien durch die Regierung Kohl/Gen­scher und der Angriff auf Jugoslawien 1999, den die Regierung Schröder/Fischer vorbereitete und ausführte. Hawel leugnet dabei die Verbrechen paramilitärischer und militärischer serbischer Banden nicht, wie es der ignorante Teil der Antiimperialisten und Antideutschen tut. Jugoslawien war für ihn kein sozialistisches Bollwerk. Dort regierte zeitweise eine Koalition der pseudosozialistischen Partei und der faschistischen Serbischen Radikalen Partei.

Die »Normalisierung« basiert auf der Annahme, Deutschland habe sich als Demokratie bewährt. Hawel präsentiert dazu schöne Zitate, auch von Liberalen und Linken, etwa von Andrei S. Markovits und Simon Reich: »Tatsächlich können nur wenige Regierungen so bewunderns­werte Erfolge zu ihren Leistungen rechnen wie die der alten Bonner Republik, die nicht zuletzt eine stabile Republik geschaffen hat. Jetzt ist Berlin gefordert, die zweite, gewissermaßen komplementäre Aufgabe zu erfüllen: nämlich Deutschland zu einem normalen Land zu machen und dabei auch seine Macht zu normalisieren.«

Schlussstrichtiraden im Stil von Franz-Josef Strauß, Alfred Dregger und Martin Walser sind für die »Normalisierung« weniger brauchbar als das Gerede Joschka Fischers und anderer, gerade wegen Auschwitz müsse Deutschland überall »humanitär intervenieren«. Deshalb machen deutsche Intellektuelle und Politiker überall Hitlers Wiedergänger aus, so Enzensberger 1991 in Saddam Hussein und Joschka Fischer 1999 in Milosevic. Warum derzeit in Deutschland kaum jemand den iranischen Präsidenten Mahmoud Ahmadinejad als »neuen Hitler« ausmacht, erklärt Hawel nicht, wie ihm überhaupt wenig zum Islamismus einfällt, außer dass George W. Bush diesen dämonisiere. Schwach ist auch, dass die Analyse in diesem eben erschienenen Buch mit dem Irak-Krieg 2003 endet.

Richtig ist Hawels These, dass deutsche Groß­machtpolitik im europäischen Tarnanzug auftritt. »Deutschland kann nur im Gewand von Europa als Weltmacht zurückkehren, so wie Preu­ßen es nur in Gestalt des Deutschen Reiches konnte«, schreibt der Autor. Darum forciere Deutschland die europäische Integration und den Aufbau einer EU-Armee, die irgendwann autonom neben der Nato und US-Truppen existieren werde. Nachzulesen ist in dem Buch auch der Wandel der Grünen, den der Parteihalblinke Ludger Volmer 1995 auf den Begriff brachte: »Wer nicht bereit ist, Kriege zu füh­ren, wird nie auf der Regierungsbank sitzen.«

Wer solche Perlen finden will, muss sich durch die ersten 150 Seiten quälen, die Hawel im typisch deutschen Politologenslang geschrie­ben hat. Mein Lieblingssatz ist dieser: »Die Nach­kriegs­zeit bis 1989/90 als zweite Nor­ma­li­sie­rungs­­phase hat es mit der Realisierung der Vor­bedingungen einer vollständigen Re-Souveränisierung des nach 1945 in seiner Souveränität aberkannten deutschen Staates zu tun gehabt, die bis 1989 nur in eingeschränktem Maße zurückerlangt werden konnte.«

Die im Bürokratendeutsch beliebte Passivkon­struktion lässt handelnde Subjekte verschwinden. So schreibt Hawel, im 19. Jahrhundert »ent­stand allmählich eine Art volkstümlicher Patrio­tismus« in Deutschland, als sei er vom Himmel gefallen und nicht von Intellektuellen propagiert worden. Hawel meint, Johann Gottlieb Fichte (1762 bis 1814) sei nicht in einen »Kontext von Ursache und Wirkung« mit dem Nationalsozialismus zu bringen. Dass Fichte den Juden lieber die Köpfe abschlagen wollte, als ihnen Bürgerrechte zu gewähren, verschweigt der Autor. An anderer Stelle schreibt Hawel, die »ostdeutsche Emanzipationsbewegung« sei 1989/90 mit taktischen Schachzügen »in eine nationalisierende Manövriermasse« verwandelt worden, als hätten viele Demons­tranten in der DDR nicht längst eine deutsch-nationale Perspektive gehabt.

Hawel unterstellt das Vorhandensein einer pazifistischen Mehrheit in Deutschland, ohne sich zu fragen, warum 1999 kaum jemand gegen den Jugoslawien-Krieg protestierte, aber vier Jahre später die Massen auf die Straße strömten, als Schröder gegen die USA hetzte. Das deutsche Volk scheint immer gut zu sein, volkstümlich-patriotisch im 19. Jahrhundert, sozialistisch in der DDR, friedensbewegt heute. Darum meint Hawel, deutsche Außenpolitik könne andere Formen annehmen, würde sie nur demo­kratisch kontrolliert.

Geht er anfangs, gestützt auf Adorno, Horkheimer und das Wertgesetz, auf den Zusammen­hang von Kapitalismus und Krieg ein, endet er als Politikberater: Er sucht eine »emanzipative Alternative zur vorherrschenden Normalität im Rahmen kapitalistischer Staatlichkeit«. Sie besteht seiner Ansicht nach darin, dass Staaten verantwortlich mit den eigenen wie den fremden Gewaltpotenzialen umgehen. Europa wäre eine Friedensmacht, würde es bloß auf das Mili­tär verzichten und eine Weltintegration anstreben. Eine »angemessene Normalität« würde ein­treten, wenn »die Integration der Welt am Beispiel Europas fortgeführt wird«. So könnte die Welt also doch am europäischen und deutschen Wesen genesen.

Marcus Hawel: Die normalisierte Nation. Vergangenheitsbewältigung und Außenpolitik in Deutschland. Offizin-Verlag, Hannover 2007, 448 S., 24,80 Euro