Ein Nachruf auf Johan Cruyff

Ein Hauch des Libertären

Ein Nachruf auf Johan Cruyff.

Manchmal sind es die Verlierer, die zu den wahren Helden werden. Von allen WM-Turnieren der Geschichte ist das von 1974 das einzige, in dessen Nachbetrachtungen nicht der Sieger dominiert, sondern der Verlierer. »Der Pokal ging nach Deutschland, der Ruhm jedoch an die holländische Mannschaft«, schrieb der Corriere dello Sport nach dem Finale von München.
Eine ganze Generation verguckte sich in einen Haufen langhaariger und vor Selbstbewusstsein strotzender niederländischer Kicker, die die Herzen der Fußballfans im wahrsten Sinne des Wortes im Sturm eroberten. Für viele Beobachter hatten die Niederländer den »Fußball der Zukunft« demonstriert.
Anführer der Rasselbande war der 27jährige Amsterdamer Johan Cruyff, der seit einer Saison beim FC Barcelona spielte, nachdem er zuvor mit seinem Stammverein Ajax dreimal in Folge den Europapokal der Landesmeister gewonnen hatte.
Cruyff wurde zum besten Spieler der WM gewählt. Der Journalist Ulfert Schröder schrieb damals: »Cruyff hat fasziniert, Beckenbauer hat nur begeistert.«
Johan Cruyff war im Spätsommer 1973 seinem Mentor Rinus Michels nach Barcelona gefolgt. Auch Real Madrid hatte sich um Cruyff bemüht, aber der Umworbene war den »Königlichen« dann doch zu teuer. Außerdem ahnte Real-Boss Santiago Bernabéu, ein Sympathisant des Franco-Regimes, dass dieser Niederländer, »der aus einem fernen Land einen Hauch des Libertären brachte« (Javier Cáceres), zu seinem gestrengen Club nicht passen würde. »Er ist ein Crack, aber mir gefällt nicht seine Visage.« Niederländer standen in diesen Jahren bei den Diktatoren in aller Welt unter dem Generalverdacht der Subversion im Dienste der liberalen Demokratie.
Am 17. Februar 1974 unterliegt Real Madrid im eigenen Stadion dem FC Barcelona mit 0:5. Im Zentrum des spektakulären Auftritts steht ein überragender Johan Cruyff. Kein anderes Vereinsspiel im Europa nach dem Zweiten Weltkrieg dürfte eine so große politische Symbolkraft entwickelt haben wie dieser Clasico. In den Franco-Jahren galten Siege über Real stets als verwegene Form politischer Opposition, aber dieses 0:5 war das Verwegenste schlechthin. Cruyff war nun nicht mehr nur ein Fußballspieler. Kataloniens Bürger tauften ihn El Salvador (»Der Erlöser«).
Der 17. Februar 1974 wird später zum Anfang vom Ende der Diktatur verklärt. Am Ende der Saison 1973/74 feiert Barca den ersten spanischen Meistertitel seit 14 Jahren. Der »König«, wie Cryff auch genannt wurde, selbst erinnert sich: »Was mich am meisten erstaunte, war, dass die Menschen auf der Straße zu uns nicht ›Glückwunsch‹ sagten, sondern ›danke!‹ Alles, was sie sagten, war ›danke‹, überall.«
1988 wird Johan Cruyff Trainer des FC Barcelona. Wie schon bei seiner ersten Ankunft 1973 ist Cruyff auch 15 Jahre später zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort. Seine Visionen für die Blaugrana passen perfekt zur gesellschaftlichen Dynamik im Barcelona jener Jahre, das sich auf die Olympischen Spiele 1992 vorbereitet. Cruyff verspricht: »Mein Team wird dem Angriffsfußball verpflichtet sein. Ich betrachte das nicht als Risiko. Im Gegenteil. Ich glaube, dass die Mannschaft, die den mutigsten Fußball spielt, am Ende auch die meisten Trophäen gewinnen wird.«
Der Trainer Cruyff wird nun noch viel prägender für den FC Barcelona, als es der Spieler Cruyff gewesen ist. Er hinterlässt die tiefstmögliche Spur, nämlich eine Ausbildungs- und Spielphilosophie, die alle Altersgruppen der Junioren und die Seniorenteams integriert und seine Amtszeit überlebt. Cruyff implementiert sämtliche Elemente des heutigen Barca-Fußballs: Ballbesitz (Cruyff: »Die beste Verteidigung ist Ballbesitz«), Kurzpassspiel, Direktspiel, Positionswechsel, offensives Pressing, Balleroberung anstatt klassischer Verteidigung. Barcas Zentralverteidiger Ronald Koemann: »Die Art, wie wir unter Cruyff spielten, war revolutionär. In meinen Augen war es manchmal zu angriffslustig, aber so war Cruyff halt. Unser Spiel war voller Risiken. Ich war nicht einmal ein richtiger Verteidiger. Wann immer sich die Gelegenheit ergab, musste ich mit dem Ball ins Mittelfeld vorrücken. Wir kreierten Spiele, die fantastisch anzuschauen waren. Aber wir wurden auch bestraft. Wir ließen hinter unserer weit aufgerückten Abwehr viel Raum. Aber Cruyff sagte, wir würden die Mehrzahl der Spiele gewinnen – und er hatte recht.«
In der von Cruyff reformierten Nachwuchsakademie La Masia wird fast ausschließlich mit dem Ball trainiert. Kraft, Ausdauer, Schnelligkeit – das alles verbessern die Nachwuchskicker spielerisch. Ganz im Cruyff’schen Sinne (»Fußball ist ein Spiel für den Kopf«) wird das Hirn statt der Muskeln geschult. Es geht um Ideenreichtum, Beweglichkeit, Überblick, Entscheidungsfreude und schnelle Entscheidungen. Das verwirrende Kurzpassspiel, das unter diesen Bedingungen entsteht und zum Kennzeichen des Barca-Fußballs wird, firmiert in Spanien noch heute als el cruyffismo.
Medien und Fans küren Cruyffs FC Barcelona zum Dream Team. Günter Netzer ist noch Jahre später begeistert: »Das Ideal war der FC Barcelona unter Johan Cruyff. Das war Schönheit, Dominanz, Tempo und große Klasse, waren physische Fitness und technische Fertigkeiten, mit denen man gar nicht erst darüber nachdenken muss, was mit dem Ball passiert. Bei Cruyff mussten Abwehrspieler stürmen, die Mittelfeldspieler arbeiten und Tore schießen und die Stürmer notfalls auch mal im Mittelfeld aushelfen.«
1992 gewinnt das Dream Team den Europapokal der Landesmeister. Der 1:0-Sieg über Sampdoria Genua ist die Krönung der Ära Johan Cruyff.
Als sich die Ergebnisse verschlechtern, wird Cruyff im Mai 1996 entlassen. Das Verhältnis zum Barca-Boss Josep Lluís Nunez war nie von Spannungen frei. »Ich fühle mich mehr als Spieler denn als Vorstandsmitglied«, hatte Cruyff bereits wenige Monate nach seinem Amtsantritt erklärt. Für ihn sei Fußball »ein ständiger Kampf zwischen der Kabine und den Führungsgremien«. Fast alle Präsidenten seien »zu Recht oder zu Unrecht ein notwendiges Übel«.
Jorge Valdano, Fußballweltmeister 1986 und später Fußballdirektor bei Real Madrid, schreibt anlässlich der Entlassung: »Sie hassen den Unzähmbaren, den Launischen, den Provokateur, und sie hassen ihn so sehr, dass sie vergessen haben, was er erreicht hat und für was er steht. Da sie auch Angst vor ihm haben, haben sie zwei Jahre abgewartet, in denen er nichts gewann, um ihm den endgültigen Schlag zu versetzen.«
Johan Cruyff zählt zu den genialsten und am nachhaltigsten wirkenden Trainern der Fußballgeschichte. Seine Trainerkarriere währte gerade einmal elf Jahre, in denen er lediglich bei zwei Vereinen arbeitete, aber in Spanien hat Cruyff cruyffistas geschaffen. Sein berühmtester Schüler wird Pep Guardiola.
Ohne Johan Cruyff und sein Dream Team hätte es das Barca, das seither noch vier weitere Male den Europa-Pokal gewann, nicht gegeben. Und auch nicht das Spanien, das 2008 und 2012 Europameister und 2010 Weltmeister wurde.
Am Samstag bestritt der FC Barcelona den Clasico mit Trikots, auf denen »Grácies Johan« geschrieben stand. Darunter die Werbung für Qatar Airways. Cruyff war damals dagegen, dass der Club, der von sich behauptet, mehr als nur ein Club zu sein, seine Brust verscherbelte. »Wir waren einmalig in der Welt. Man holt jetzt viel Geld, gibt aber viel weg – zu viel. Was ist Barcelona? Eine Leitlinie. Barca ist: Alle können Fußball spielen, Kleine und Große. Barca ist Katalonien. Barca ist Anstand, Qualität in der Erziehung. Barca heißt Repräsentieren. Und Geld kommt nicht an erster Stelle.«