Nancy Frasers »Der Allesfresser« bietet keine neuartige Kritik des Kapitalismus

Nach den Heuschrecken kommt der Allesfresser

Die US-amerikanische Philosophin Nancy Fraser prägt in ihrer Streitschrift »Der Allesfresser« eine neue Metapher für den Kapitalismus. Aber hat die Autorin damit wirklich eine »neue Theorie des Kapitalismus« vorgelegt?

Nancy Fraser skizziert in ihrem neuen Buch »Der Allesfresser« den Kapitalismus als eine auf mehrfacher Ausbeutung basierende Gesellschaftsordnung, die ihre eigenen Grundlagen zerstört.

Fraser sieht weite Teile der heutigen Linken vor die falsche Wahl gestellt, den Kapitalismus grundsätzlich anzuerkennen oder die Forderung nach Umverteilung allein in den Vordergrund zu stellen. Deshalb würden regelmäßig sogenannte identitätspolitische Anliegen gegen die soziale Frage ausgespielt – und umgekehrt. Doch schlössen sich Arbeitskampf und Feminismus, Mietproteste und das Eintreten für Minderheitenrechte keinesfalls aus, argumentiert Fraser.

In ihrem neuen Buch plädiert die US-amerikanische Philosophin im Gegenteil dafür, diese Kämpfe gemeinsam zu denken und zu führen. Denn sie alle richteten sich nur gegen verschiedene Ausprägungen desselben selbstzerstörerischen Systems: die kapitalistische Gesellschaftsordnung. Diese sei verantwortlich für Hungerlöhne und nicht entlohnte Hausarbeit, Kita-Mangel und Klimakatastrophe, neue Grenzzäune und kaputte Infrastruktur, Kinderarmut, Pandemien und rassistische Gewalt, kurzum: alle Krisen der Gegenwart. »Wir haben es mit einer allgemeinen Krise der gesamten Gesellschaftsordnung zu tun, in der all diese Katastrophen konvergieren, sich gegenseitig verschärfen und uns zu verschlingen drohen.«

»Es fehlen uns also ganz allgemein Konzepte des Kapitalismus und der kapitalistischen Krise, die unserer Zeit angemessen sind. Kannibalischer Kapitalismus, so behaupte ich, ist ein solches Konzept.« Nancy Fraser

Fraser argumentiert mit Karl Marx und, wie sie sagt, über ihn hinaus, indem sie dessen Beschreibung von Ausbeutung und Enteignung auf neue Bereiche ausweitet. Ihre Marx-Rekonstruktion scheint allerdings wacklig, wenn sie seine Ausführungen über »die sogenannte ursprüngliche Akkumulation« (Das Kapital) mit Marx’ eigener Position verwechselt – um dann zu behaupten, dass Marx der Enteignung bestimmter Menschengruppen zu wenig Beachtung geschenkt habe.

Fraser betont immer wieder, dass sie den Kapitalismus nicht als Wirtschaftsform »denkt«, sondern als eine eigene Gesellschaftsordnung analog zum Feudalismus. In dieser Ordnung stehe demzufolge die Ökonomie mit anderen gesellschaftlichen Bereichen in Beziehung und profitiere von ihnen beziehungsweise beute diese Frasers Meinung nach nicht ökonomisch strukturierten Bereiche aus. Namentlich sind das die Familie beziehungsweise die Gemeinschaft, das Ökosystem, staatliche beziehungsweise öffentliche Institutionen und auf Rassismus basierende Ungleichverteilung. Ohne die Formen der maßgeblich von Frauen geleisteten und selten entlohnten reproduktiven Sorgearbeit könne die kapitalistische Wirtschaft nicht existieren. Gleiches treffe auf die ökologischen Grundlagen zu derer sich die Wirtschaft einfach bediene und die sie immer weiter zerstöre. Drittens bilde das Gemeinwesen mit seinen öffentlichen Gütern eine Basis der Ökonomie, die viertens nicht ohne Enteignung nach rassistischen Kriterien funktioniere.

Diese notwendigen, den Kapitalismus erst ermöglichenden Beziehungen werden ausgeblendet, so Fraser, wenn man ihn lediglich als Wirtschaftsform demokratischer Gesellschaften verstehe. Deshalb erfassten sogar viele Kritiker nicht, wie die nichtökonomischen Bereiche »kannibalisiert« und aufgezehrt würden: Kapitalismus ist in Frasers Worten eine Gesellschaftsordnung, »die es einer offiziell als solche bezeichneten Wirtschaft erlaubt, monetären Wert für Investoren und Eigentümer anzuhäufen, während sie den nicht ökonomisierten Reichtum aller anderen verschlingt.« Der ökonomische Bereich zehrt, um im Bild zu bleiben, von den anderen, die seine Grundlagen bilden.

Diese Verzahnung verschiedener kritischer Aspekte macht den Charme von Frasers Ansatz aus – allerdings nur für all jene, die sich erstmalig mit Kapitalismuskritik beschäftigen. Denn neu ist es wahrlich nicht, den Kapitalismus als Totalität zu verstehen. Das ist linker common sense. Schon der vulgärmarxistische historische Materialismus charakterisierte den Kapitalismus nicht als Form des Wirtschaftens, sondern als Gesellschaftsform. Er löste nach Sklavenhalter- und antiker Städtegesellschaft die Feudalgesellschaft ab – so lernte es etwa jedes Kind in der DDR. Und welche kritische Kapitalismustheorie würde ihn aufs in Geldform quantifizierte Marktgeschehen reduzieren? Dass die Ökonomie alle möglichen anderen Bereiche der Lebenswelt durchdringt, ist Grundlage linker Kritik.

Frasers Modell, wie die Krisen konvergieren, geht auch nicht so analytisch sauber auf wie behauptet. Weil sie die genannten vier Hintergrundbedingungen des Kapitalismus als gleichberechtigt nebeneinander denken möchte, ist sie gezwungen, diese wie eigene voneinander weitgehend unabhängige Sphären oder Bereiche darzustellen. Zu dem, was sie mit dem Sozialen, Ökologischen und Politischen benennt, stehen Rassismus und rassistische Enteignung aber in anderer Relation. Die Enteignung der Indigenen und Völkermord sowie die besondere Benachteiligung rassifizierter Bevölkerungsgruppen finden eben nicht in einem Bereich statt, der sich analytisch von den anderen klar abgrenzen lässt, sondern ereignen sich zusätzlich, etwa wenn eine nichtweiße Frau unbezahlte Care-Tätigkeit leistet und zudem Diskriminierung ausgesetzt ist.

Fraser gibt selbst zu, dass diese Enteignung in der Geschichte des Kapitalismus ein wichtiger Faktor war und noch immer stattfindet. Aber Rassismus sei keine notwendige Bedingung für den Kapitalismus, auch andere Abwertungen könnten diese Funktion übernehmen. Und sie übernehmen sie bereits, wenn etwa Langzeitarbeitslose als »Sozialschmarotzer« beschimpft werden. Ausschlüsse und Unterordnungen können viele Formen annehmen. Warum dieser Bereich dann den anderen Grundbedingungen gleichrangig ist, beantwortet sie nicht. Und das festzustellen, heißt nicht, Rassismus in irgendeiner Art zu leugnen.

Solche argumentativen Schwächen ginge nicht ganz so problematisch, würde es Fraser nicht ausdrücklich darum eine neue Theorie des Kapitalismus vorzulegen, die die ­alten zu ersetzen trachtet. »Es fehlen uns also ganz allgemein Konzepte des Kapitalismus und der kapitalistischen Krise, die unserer Zeit angemessen sind. Kannibalischer Kapitalismus, so behaupte ich, ist ein solches Konzept.« Und misst man sie am eigenen Anspruch, dann ist sie aufgrund ihrer unsauberen Argumentation, die nicht einmal den Status und die Interdependenz ihrer vier Möglichkeitsbedingungen des Kapitalismus klar herausarbeitet, gescheitert.

Auf die Kannibalismus-Metapher ist Fraser offenbar sehr stolz. Sie steht auch im Titel der englischen Originalausgabe: »Cannibal Capitalism. How Our System Is Devouring Democracy, Care, and the Planet – and What We Can Do about It«. Dass der Begriff selbst rassistische Implikationen hat, weiß auch Fraser; »er wurde«, schreibt sie im Vorwort, »in einer Umkehrung der tatsächlichen Kon­stellation auf Schwarzafrikaner angewandt, die doch eigentlich Opfer der euroimperialen Ausbeutung waren«. Ihr gehe es nun darum, »den Spieß umzudrehen und das Wort hier als Bezeichnung für die kapitalistische Klasse zu verwenden – eine Gruppe, die sich von allen anderen ernährt«.

Weitgehend synonym verwendet sie den Begriff des »Allesfressers«, der es dann auch in den Titel der deutschsprachigen Ausgabe geschafft hat. Die Zoologie definiert den Allesfresser als ein Tier, das sowohl von pflanzlicher wie von tierischer Nahrung lebt; umgangssprachlich ist es die abschätzige Bezeichnung für einen Menschen, der viel und wahllos isst. Den Allesfresser, so legt es das Motiv auf dem Cover der bei Suhrkamp erschienenen Ausgabe nahe, soll man sich als eine Schlange vorstellen, die sich in den Schwanz beißt. Fraser charakterisiert diese »Ouroboros« genannte Figur als »sich selbst kannibalisierende Schlange«. Allerdings handelt es sich beim »Ouroboros« um ein antikes Bildsymbol, das für zyklische Ewigkeit steht. In der mittelalterlichen Alchemie symbolisierte es einen ewigen Kreislauf, die Wandlung und Erneuerung der Materie, ja: Harmonie. Ouroboros frisst sich gerade nicht alle Lebensgrundlagen weg, sondern reproduziert sie genau in dem Maß, wie sie sie verzehrt.

Das Buch besticht eher durch Überredungskunst als durch Analytik. Die Autorin kehrt immer wieder auf einzelne Punkte zurück, mäandert und wiederholt sich. Fraser hat absolut recht, wenn sie alle möglichen Krisen und Ungerechtigkeiten skandalisiert. Und gewiss hängen diese alle zusammen. Es mag für eine politische Praxis natürlich weniger wichtig sein, ob Fraser eine glasklare neue Theorie vorlegt. Allerdings hat sie auch über eine solche Praxis wenig zu sagen. Es ist von einem neuen Sozialismus die Rede, der eben diese Krisen überwinden soll. Sie skizziert einen solchen am Schluss ihrer Schrift, aber bringt auch hier nichts Überraschendes vor. Wie man eine solche gerechtere Gesellschaftsform etabliert, bleibt ungeklärt, wenn Nancy Frazer das Buch mit dem Satz beschließt: »Es ist an der Zeit, endlich herauszufinden, wie man die Bestie aushungern und dem kannibalischen Kapitalismus ein für alle Mal ein Ende machen kann.

Nancy Fraser: Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt. Aus dem Englischen von A­ndreas Wirthensohn. Suhrkamp, Frankfurt/M. 2023, 282 Seiten, 20 Euro