Nach Aussagen von Überlebenden verursachte die griechische Küsten­wache die Bootskatastrophe von Pylos

Tödliches Manöver

Aussagen von Überlebenden zufolge verursachte ein Abschleppversuch der griechischen Küstenwache das Kentern eines Flüchtlingsboots, bei dem mehrere Hundert Menschen starben.

Es ist wohl noch schlimmer als das Unglück vor Lampedusa, bei dem am 3. Oktober 2013 mehr als 360 Geflüchtete ums Leben kamen: Auf dem am 14. Juni etwa 50 Seemeilen vor Pylos in inter­nationalen Gewässern gekenterten Fischkutter befanden sich wahrscheinlich bis zu 750 Geflüchtete. Nur 104, allesamt jüngere Männer, konnten gerettet werden. Ältere sowie Frauen und Kinder hatten keine Chance. Sie waren nicht auf Deck, sondern kauerten zusammengepfercht im Rumpf des 30 Meter langen Boots, sogar im Maschinenraum. Den Aussagen von Überlebenden zufolge waren knapp 100 Kinder an Bord.

Das Boot legte von Tobruk ab, einem de facto vom Warlord Khalifa Haftar kontrollierten Gebiet, das nominell der international nicht anerkannten ostlibyschen »Regierung der nationalen Einheit« untersteht. Die EU hat dort kaum Einfluss. Es gibt eine regelrechte Indus­trie, die Fischkutter von allem befreit, was die Menschenschmuggler als Ballast ansehen – dazu gehören auch Rettungswesten. Es sind oft kaum seetaugliche rostige Stahlboote, deren Lecks notdürftig zugeschweißt werden. Dringt Wasser ein, sinken solche Boote oft binnen Minuten.

Ein Angehöriger von Opfern der Katastrophe von Pylos gab an, seine Verwandten hätten jeweils 6.000 US-Dollar für die Überfahrt bezahlt. Je mehr Geflüchtete auf ein Boot gebracht werden, desto größer ist der Gewinn. Die Geflüchteten sehen die Boote erst auf dem Meer, sobald sie in die Fänge der Schlepper geraten sind, gibt es kein Zurück mehr. Die Schlepper bewerben ihre Dienste offen in sozialen Medien wie Facebook. Sie stellen die Fluchtroute über das Meer geschönt dar und beteuern, dass ihre Schiffe sicher seien.

Offenbar kam ein sehr großer Anteil der Geflüchteten an Bord des vor Pylos gesunkenen Boots aus Pakistan, nach Angaben der dortigen Behörden waren es mindestens 350. Es kam in Pakistan zu mehr als 20 Festnahmen wegen des Verdachts des Menschenhandels. Premierminister Shehbaz Sharif rief eine Staatstrauer aus und gründete eine Untersuchungskommission, die bis Ende Juni Pläne für weitere Schritte vorlegen soll. Es wird erwogen, rechtliche Schritte gegen Griechenland, möglicherweise auch gegen die EU einzuleiten. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte im März 2020 ausdrücklich die restriktive griechische Flüchtlingspolitik gelobt und nannte Griechenland »den Schild Europas«. Der griechischen Küstenwache wird nun vorgeworfen, die Geflüchteten an Bord des Kutters grob fahrlässig oder gar vorsätzlich in Gefahr gebracht zu haben.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte im März 2020 ausdrücklich die restriktive griechische Flüchtlingspolitik gelobt und nannte Griechenland »den Schild Europas«.

»Wenn sie uns in Ruhe gelassen hätten, wären wir nicht gesunken«, sagte ein Überlebender dem US-amerikanischen Nachrichtensender CNN. Andere sagten aus, das Boot sei gekentert, als es ruckartig abgeschleppt worden sei. Die griechische Küstenwache soll auf diese Weise versucht haben, den Fischkutter in italienische Gewässer zu schleppen – dann wäre Italien für die Geflüchteten verantwortlich gewesen. Für diese Annahme spricht, dass ein unweit des Unglücksorts im Hafen von Gythio vor Anker liegendes modernes Rettungsschiff der Küstenwache nicht zum Einsatz kam. Zudem hat die Küstenwache das mindestens elf Stunden lang manövrierunfähig im Meer treibende Boot beobachtet, ohne eine Rettung einzuleiten.

Der Pressesprecher der Küstenwache, Nikos Alexiou, sagte: »Wir dürfen in internationalen Gewässern kein Schiff betreten, das nicht am Drogenschmuggel oder einer anderen besonderen Straftat beteiligt ist. Das Boot transportierte – illegal – Menschen.« Hilfsangebote seien von der Besatzung des Boots abgelehnt worden. Das ist möglich, Anrufe von Geflüchteten an Bord, die Hilfe anforderten, gab es jedoch. »Es gab eine Verantwortung des griechischen Behörden, eine Rettung zu koordinieren, um diese Menschen sicher an Land zu bringen«, urteilt Vincent Cochetel, der Sonderbeauftragte des UN-Flüchtlingshilfswerks für die Mittelmeerregion.

Zur Besatzung des Boots gehörten mutmaßlich unter anderen neun Ägypter, die in Griechenland in Untersuchungshaft genommen wurden. Ihnen wird auch »Einschleusen von illegalen Migranten ins griechische Staatsgebiet« vorgeworfen – obwohl das Boot es nie bis in griechische Hoheitsgewässer geschafft hat. Maßgeblich für die Anklage sind Zeugenaussagen anderer Überlebender, welche die neun als Besatzungsmitglieder identifiziert haben. Die Zeugenaussagen, das Kentern sei durch einen Schleppversuch der griechischen Küstenwache ausgelöst worden, gelten der griechischen Justiz hingegen offenbar als weniger glaubhaft.

Kritik an der Küstenwache äußerte vor allem linke Parteien wie Syriza. Für den konservativen Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis ähnelt dies schon Landesverrat. »Es ist sehr traurig, dass Syriza die Küstenwache wegen des tragischen Schiffbruchs von Pylos angreift. Und es ist wirklich sehr unangenehm zu sehen, dass genau die gleichen Argumente von der offiziellen Türkei und der türkischen Propaganda reproduziert werden«, sagte er in einer Wahlkampfrede auf der Halbinsel Chalkidiki. Mitsotakis warb damit, dass er die Grenzen Griechenlands effektiv gegen Geflüchtete abgeschottet habe.

Sollte die Katastrophe von Pylos einen Einfluss auf die Parlamentswahl am Sonntag gehabt haben, schlug dies nicht zugunsten der Befürworter einer weniger harten Asylpolitik aus. Mitsotakis’ Partei Nea Dimokratia kam auf 40,6 Prozent der Stimmen, etwa das gleiche Ergebnis wie bei den Wahlen im Mai, erhält nach dem nun gültigen neuen Wahlrecht jedoch zusätzliche Mandate als stärkste Partei und damit eine absolute Mehrheit. Syriza verlor zwei Prozentpunkte und rutschte unter 18 Prozent. Mit den Spartiates (Spartaner, knapp 4,7 Prozent) zog zudem neben Griechische Lösung und Niki eine weitere rechtsextreme Partei ins Parlament ein.

Am Montag wurde Mitsotakis erneut als Ministerpräsident vereidigt. Er hat im Wahlkampf eine weitere Verschärfung der Migrationspolitik angekündigt, so soll der bereits 37, 5 Kilometer lange stählerne Zaun am griechisch-türkischen Grenzfluss Evros um weitere 35 Kilometer ausgebaut werden.