In der Westbank kam es zur größten israelischen Militär­operation seit Jahrzehnten

Kämpfe in Jenin

In der Westbank sind die heftigsten Auseinandersetzungen seit Jahrzehnten zwischen den israelischen Streitkräften und militanten palästinensischen Gruppen entbrannt.

Jerusalem. Es war die größte Militäroperation in Jenin seit 20 Jahren. Am Montag vergangener Woche rückte die israelische Armee mit rund 1 000 Soldaten in die Stadt im Norden der besetzten Westbank ein, die seit langem als Hochburg terroristischer Gruppen gilt. Die Operation war Berichten israelischer Medien zufolge seit vielen Monaten von Armee und Geheimdienst vorbereitet worden. Sie sollte »der israelischen Armee die Handlungsfreiheit geben, nach Jenin hineinzugehen, ohne dass dies zu Kampfhandlungen führt«, so der Militärexperte und ehemalige Sprecher der israelischen Armee, Ronen Manelis.

Mitte Juni eskalierte der Versuch israelischer Sicherheitskräfte, zwei Terrorverdächtige in dem Flüchtlingslager festzunehmen, zu schweren Kämpfen. Militante Palästinenser zündeten eine Bombe unter einem israelischen Armeefahrzeug, es kam zu Schießereien. Die israelischen Soldaten wurden mit einem Hubschrauber evakuiert.

Die Militäroperation konzentrierte sich auf einen lokalen Ableger der Terrororganisation Islamischen Jihad, das sogenannte Jenin-Bataillon, sowie auf andere kleinere bewaffnete Gruppen in der Stadt und im dortigen palästinensischen Flüchtlingslager. Bei dem Einsatz stellte die Armee größere Mengen Waffen, Sprengstoff, Minen und anderes Kriegsmaterial sicher, hob nach Angaben der israelischen Online-Nachrichtenseite Mako mehrere Labore zur Produktion von Sprengstoff und Kommandozentralen zur logistischen Planung von Anschlägen aus und nahm 30 Palästinenser fest.

Der Times of Israel zufolge ist die Anzahl der während der Operation getöteten Palästinenser unklar, palästinensische Gesundheitsbehörden sprachen demnach von 13 Toten, der IDF-Sprecher Daniel Hagari von 18. Den IDF zufolge habe es sich dabei ausschließlich um Terroristen gehandelt, die während des Einsatzes in Kampfhandlungen mit den israelischen Soldaten verwickelt gewesen seien. Mindestens 100 Palästinenser wurden verletzt, darunter auch Zivilisten. Auf Seiten der israelischen Streitkräfte gab es einen Toten, es wird noch untersucht, ob der Soldat von der Kugel eines Palästinensers oder seiner eigenen Leute getötet wurde.

Während und nach dem Militäreinsatz wurden in Israel mehrere Anschläge verübt. Am Dienstag vergangener Woche steuerte ein Attentäter ein Auto in eine Gruppe von Menschen auf einem Bürgersteig an einer belebten Hauptstraße im Nordosten Tel Avivs. Auf Videoaufnahmen einer Sicherheitskamera, die in den israelischen Medien gezeigt werden, ist zu sehen, wie der Attentäter den Wagen verlässt und mit einem Messer auf Fußgänger einsticht, bis er von einem Passanten erschossen wird. Die Tageszeitung Yedioth Ahronoth berichtete von neun Verletzten. Die Hamas bezeichnete den Anschlag als »erste Reaktion auf die Verbrechen der Besatzung im Flüchtlingslager Jenin«.

Nach einer Reihe palästinensischer Anschläge hat die israelische Armee mit einer der größten Militärope­rationen der vergangenen 20 Jahre Razzien in der Westbank durchgeführt.

In der darauffolgenden Nacht, als sich das israelische Militär bereits aus Jenin zurückzog, wurde der Süden Israels mit fünf Raketen aus dem Gaza-Streifen beschossen. Die israelische Armee reagierte nach Berichten des Fernsehsenders Kan 11 mit der Bombardierung von zwei Zielen im Gaza-Streifen. Wenige Stunden später wurden der Tageszeitung Maariv zufolge in der jüdischen Siedlung Har Brakha in der Westbank Schüsse aus einem fahrenden Auto abgefeuert, dabei ein Gebäude und ein Auto leicht beschädigt, Menschen jedoch nicht getroffen. Am Tag danach, ebenfalls in der Westbank, erschoss ein Palästinenser einen israelischen Soldaten in der Nähe von Kedumim. Die Hamas bekannte sich zu dem Anschlag.

Jenin gilt als Hochburg des Terrorismus. Nach Angaben des israelischen Militärs wurden seit Anfang des Jahres von hier aus mindestens 50 Schussattentate auf Israelis geplant und verübt, 19 Attentäter sind Maariv zufolge hier untergetaucht.

Das vergangene Jahr war sowohl für Palästinenser als auch für Israelis im Westjordanland und in Israel selbst das Jahr mit den meisten Toten durch Terror und Terrorbekämpfung seit mehr als einem Jahrzehnt. Seit Anfang 2022 hatte Israels Armee nach einer Reihe palästinensischer Anschläge wiederholt Razzien ausgeführt. Die Gewalt von israelischen Siedlern gegen Palästinenser hat in den letzten Monaten ebenfalls zugenommen, wie CNN berichtet. Mehr als 440 Angriffe von Siedlern auf Palästinenser, die von körperlichen Angriffen bis hin zu Sachbeschädigung reichen, wurden demnach allein in der ersten Hälfte dieses Jahres von der Uno registriert.

Formal untersteht Jenin der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), CNN zufolge hält sie sich aber seit Jahren aus dem Lager heraus und hat die dortige »Sicherheitskooperation« mit Israel auf ein Minimum reduziert. Jenin ist dicht besiedelt und hat eine der höchsten Armutsquoten im Westjordanland, wie die Uno berichtet. Schätzungsweise 17.000 Palästinenser leben in einem Gebiet, das weniger als einen halben Quadratkilometer groß ist. Das israelische Militär beschuldigt militante Gruppen regelmäßig, Kämpfer in städtischen Gebieten wie Flüchtlingslagern zu stationieren.

Der Fernsehsender Reshet 13 berichtet von 1.000 Sprengsätzen, die bei der Operation vergangene Woche ausfindig gemacht und zerstört worden seien. Der Fernsehsender Keshet 12 zeigte Aufnahmen von einer Rakete, die israelische Soldaten nach Angaben des Senders im Keller einer Moschee gefunden hatten. Im Interview mit der Tageszeitung Yedioth Ahronoth berichtete ein israelischer Soldat, wie seine Einheit einen mit versteckten Sprengladungen präparierten PKW sichergestellt habe, der für einen Terroranschlag in Israel vorbereitet gewesen sei.

Kan 11 zeigt Bilder von den durch die Militäroperation zerstörten Straßen des palästinensischen Flüchtlingslagers. »Die Lage der Gesundheitsversorgung im Bereich Jenin ist gerade sehr schwierig. Die Krankenhäuser sind mit Verletzten überfüllt. Außerdem sind sie voll von Menschen, die dort Unterschlupf suchen, nach denen ihnen gesagt worden ist, dass sie ihre Häuser verlassen sollen«, sagte die Gesundheitsministerin der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mai al-Kaila, in einer Fernsehansprache während der IDF-Operation. Tausende Einwohner waren gezwungen, das Lager zu verlassen, und kehrten in ein weitgehend verwüstetes Gebiet zurück.

Die 48stündige israelische Militäraktion war die größte im vom Islamischen Jihad dominierten Jenin seit 2002. Damals reagierte die israelische Armee auf Terroranschläge im Rahmen der Zweiten Intifada mit einer Militäroperation, durch die die Zahl der Anschläge gesenkt, diese aber nicht vollständig unterbunden werden konnten.