Eine Abstimmungsniederlage der israelischen Regierungskoalition heizt den Streit über die Justizreform neu an

Chaos in der Koalition

Eine Abstimmungsniederlage der israelischen Regierung heizt den Konflikt über die umstrittene Justizreform erneut an.

Jerusalem. Etwa 100.000 Protestierende in Tel Aviv, landesweit 150 Demonstrationen – eine Abstimmungsniederlage der Regierungskoalition von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu im israelischen Parlament, der Knesset, hat den Streit über die geplante Justizreform aufs Neue angeheizt. Am Mittwoch vergangener Woche wurde die Oppositionspolitikerin Karine Elharrar von der liberalen Partei Yesh Atid als Vertreterin des Parlaments in die Kommission gewählt, welche die Richter des Landes ernennt. In der geheimen Abstimmung bekam sie mindestens vier Stimmen von Abgeordneten der Regierungskoalition. Die Abgeordnete Tali Gottlieb von Netanyahus Partei Likud hingegen erhielt wesentlich mehr Nein- als Ja-Stimmen. Der zweite für Parlamentarier reservierte Platz in dem neunköpfigen Gremium zur Richterwahl bleibt nun zunächst unbesetzt; die Vakanz soll mit einer weiteren Abstimmung in einem Monat gefüllt werden. Bis dahin bleiben die Parlamentsabgeordneten der Regierungskoalition ohne Repräsentation in der Kommission.

Nach der Abstimmungsniederlage kündigte Netanyahu bei einer Kabinettssitzung am Sonntag an, die umstrittene Justizreform wiederaufzunehmen und auch gegen die Stimmen der Opposition durchzusetzen. Das Reformvorhaben, in dem Kritiker eine Gefahr für die israelische Demokratie sehen, war nach Massenprotesten und internationaler Kritik, nicht zuletzt aus den USA, temporär ausgesetzt worden. Bei von Staatspräsident Yitzhak Herzog moderierten Gesprächen versuchen Regierung und Opposition seit Wochen, einen Kompromiss für die Justizreform auszuarbeiten.

Mit der Ankündigung, die Reform auch ohne Zustimmung der Opposition durchzudrücken, entspricht Netan­yahu Forderungen seines Justizministers Yariv Levin (Likud) und anderer Hardliner in seiner Koalition, die zu den treibenden Kräften der Justizreform gehören. »Anstatt Levin zu feuern, wendet sich Netanyahu von der israelischen Gesellschaft ab«, kritisierte Oppositionsführer Yair Lapid (Yesh Atid) die Ankündigung des Ministerpräsidenten.

Die Reformbefürworter wollen das Komitee so umgestalten, dass die Regierungskoalition allein darüber entscheiden kann, wer in Israel Richter wird. Kritiker sehen darin eine Gefahr für die Unabhängigkeit der Justiz.

Manche Beobachter meinen jedoch, Netanyahu versuche lediglich, nach dem Abstimmungsfiasko die Gemüter in den eigenen Reihen zu beruhigen, und wolle nur solche Teile der Justizreform im Parlament zur Abstimmung bringen, über die man sich während der Gespräche beim Präsidenten bereits mit der Opposition geeinigt hat. Diese Einschätzung vertraten zum Beispiel die Reporterinnen Yaara Shapira und Ayala Hasson vom staatlichen Fernsehsender Kan 11. Andere sind sogar der Auffassung, dass Netanyahu die Reform in ihrer ursprünglich vorgesehenen Form bereits abgeschrieben habe. »Wenn Sie mich fragen, hat Netanyahu bereits vor einer ganzen Weile entschieden, dass diese Reform nicht durchkommen wird«, sagte der Journalist Menachem Horowitz am Freitag voriger Woche in einem Interview mit dem beliebten privaten Fernsehsender Keshet 12.

Dem steht ein Bericht von Michael Shemesh auf Kan 11 vom Sonntag entgegen, wonach Netanyahu einem Kreis von Ministern versichert habe, auch die besonders umstrittene Umstrukturierung der Kommission zur Richterwahl durchbringen zu wollen. Dabei handelt es sich um einen der Hauptstreitpunkte zwischen Regierung und Opposition. Die Reformbefürworter wollen das Komitee so umgestalten, dass die Regierungskoalition allein da­r­über entscheiden kann, wer in Israel Richter wird. Kritiker sehen darin eine Gefahr für die Unabhängigkeit der Justiz.

Dieser Disput spielte auch bei den Vorgängen eine Rolle, die zur Abstimmungsniederlage der Koalition führten. Entgegen einer seit Jahren üblichen Praxis, wonach Regierung und Opposition je einen der beiden für Parlamentarier reservierten Sitze in dem Gremium einnehmen, bestanden die Hardliner aus Netanyahus Koalition diesmal darauf, beide Plätze mit Abgeordneten der Regierung zu besetzten. Damit wollten sie sich dafür schadlos halten, dass das Komitee bislang nicht umgestaltet worden ist.

Die Opposition drohte damit, die Verhandlungen beim Präsidenten platzen zu lassen, sollte ihnen die Repräsentation im Gremium für die Richterwahl verwehrt bleiben.

»Wir haben immer wieder gesagt, dass wir beide Sitze im Komitee für die Richterernennung brauchen, weil es in seiner derzeitigen Form nicht ausgewogen ist«, sagte Kultur- und Sportminister Miki Zohar (Likud) am Freitagabend voriger Woche auf Keshet 12. Die Opposition drohte hingegen damit, die Verhandlungen beim Präsidenten platzen zu lassen, sollte ihnen die Repräsentation im Gremium für die Richterwahl verwehrt bleiben. Dies wollte Netanyahu verhindern, weil er ein damit verbundenes Wiederaufflammen der Massenproteste und eine diplomatische Krise mit den USA fürchtete, denen er zugesagt hatte, das israelische Justizsystem nur in Absprache mit der Opposi­tion zu reformieren.

Um Zeit zu gewinnen, wollte Netan­yahu die Wahl der parlamentarischen Vertreter im Komitee zur Richterwahl aufschieben. Unmittelbar vor der Abstimmung hatte Netanyahu Berichten israelischer Medien zufolge angeordnet, dass seine Koalition keine Kandidaten für die Wahl aufstellen und gegen die Kandidaten der Opposition stimmen solle. So sollten die vakanten Plätze zunächst unbesetzt bleiben.

Während der Abgeordnete Yitzhak Kroizer von der nationalreligiösen Partei Otzma Yehudit, der von der Regierungskoalition für das Komitee für die Richterwahl nominiert worden war, der Weisung Netanyahus folgend seine Kandidatur zurückzog, entschied Gottlieb, dennoch zu kandidieren – sie erhielt 15 Stimmen. Die Koalitionsdisziplin brachen aber auch jene mindestens vier Abgeordnete der Regierungskoalition, die für die Kandidatin der Opposition stimmten. »Netanyahu war mal ein starker Betrüger. Jetzt ist er ein schwacher Betrüger«, kommentierte Oppositionsführer Yair Lapid den Ausgang der Abstimmung.