PJ Harveys neues Album ist eine Ode an ihr Geburtsland

Americana für England

PJ Harvey hat für ihr neues Album »I Inside the Old Year Dying« von ihrem Weltverbesserungstrip Abstand genommen und sich von einem Gedichtband inspirieren lassen, den sie im vergangenen Jahr veröffentlichte und in dem es um England geht.

Mit dem Allmächtigen hatte es Polly Jean Harvey schon immer – aber nicht im buchstäblichen Sinne. Dass sie in ihren Liedern immer wieder Gott anrief, um Rat bat, anbetete, gar anflehte, geschah nicht aus religiösem Eifer, sondern einer Konvention folgend, die sich im Folk, im Jazz, im Hard Rock, kurz, überall in der Popmusik finden lässt. Manchmal, und im Falle von PJ Harvey geht es da meist um extremen Herzschmerz, meint man eben, nur noch der da oben könnte helfen.

Auch auf ihrem kürzlich erschienenen zehnten Album »I Inside the Old Year Dying« wird gleich im ersten Lied gebetet: »Prayer at the Gate« heißt das Lied, aber anders als bei Bob Dylan (einem von Harveys großen Vorbildern) wird hier nicht an die »heaven’s door« geklopft, sondern an die Pforte des Todes, »death’s door«. Wer allerdings klopft, das wird aus dem assoziativen Text nicht klar. Aber ein Name taucht auf, der Name eines, wie der Text nahelegt, spirituellen Herrschers. Er lautet Orlam.

»Orlam«, das ist auch der Titel eines Buchs, das Harvey geschrieben hat und das 2022 erschien. Der Band, der aus Gedichten besteht, die sich als eine lange Erzählung lesen lassen, spielt im Südwesten von England, in der Grafschaft Dorset, aus der Harvey stammt. Das Besondere: Der Text ist im Dialekt des Landstrichs verfasst. Er erzählt die Geschichte des Mädchens Ira und ihres Bewachers Orlam, der alles sehende Augapfel eines Lamms. Das Buch ist Coming-of-Age-Geschichte und englische Folklore in einem und half Harvey durch eine Phase, in der sie laut eigener Aussage wieder mal ein gebrochenes Herz hatte, allerdings nicht wegen eines Geliebten, sondern weil sie nach ihrem 2016 erschienenen Album »The Hope Six Demolition Project« ihre Verbindung zur Musik verloren hatte. Eigentlich undenkbar bei solch einer Vollblutmusikerin.

»I Inside the Old Year Dying« ist ein großartiges Album, eines, das man mit derselben Konzentration hören muss, die man auch für das Lesen von Gedichten aufbringen würde.

Das neue Album ist aber nicht einfach eine Vertonung ihrer Gedichte. Viel mehr haben diese sie inspiriert, an »I Inside the Old Year Dying« zu arbeiten. Harvey hat in mehreren Interviews darauf hingewiesen, dass zwischen dem Verfassen eines Gedichts und eines Songtexts Welten lägen – Gedichte zu schreiben sei viel schwerer. Ein wenig Dialekt hat sie aber dennoch hinübergerettet: Das dritte Lied heißt, mit einem mundartlichen W, »Lwonesome Tonight«.

Nicht nur der Gedichtband stand in den vergangenen Jahren auf Harveys To-Do-Liste: 2019 erschien ein geradezu furchtbarer Dokumentarfilm über die Sängerin mit dem Titel »A Dog Called Money«, der in seinem Moralismus nur von dem Album übertrumpft wurde, das ihm vorausgegangen war.

»The Hope Six Demolition Project« drehte sich um Armut und Krieg, kam nicht ohne politisch bizarre Vergleiche aus, frönte einem stupiden Antikapitalismus (»They’re gonna put a Walmart here«, sang Harvey in einem Song fast wie ein Mantra, in der Absicht, den US-amerikanischen Konsum zu denunzieren) und klang dabei wie christlicher Rock für den Kirchentag, was auch die gezwungen experimentell wirkenden Passagen, in denen etwa ein wildes Saxophon zu hören war, nicht ändern konnten. Harvey hatte mit diesem Album, das absurderweise ihr bis dato erfolgreichstes war, mit allem gebrochen, was ihre Karriere ausgemacht hatte: mit ihrem immer wechselnden, aber doch distinktiven Sound, ihrem Thema der (enttäuschten) Liebe, ihrem sprachlich brutal abstrakten und dabei doch extrem konkreten, nämlich Bilder heraufbeschwörenden Songwriting und einem Thema, das sie erst kurz zuvor für sich entdeckt hatte: England.

»Let England Shake« war 2011 erschienen und behandelte Themen, die denen von »The Hope Six Demolition Project« durchaus ähnelten, verursachte aber nicht solche Fremd-schamgefühle wie sein Nachfolger. Es ist tatsächlich eines von Harveys besten Alben, eine bitterböse Liebeserklärung an England (»I live and die through England / Through England /It leaves a sadness«) voller wunderschöner Kompositionen und assoziativer Texte, die eher Fragen aufwerfen, als besserwisserische Antworten zu geben wie die von »The Hope Six Demolition Project«.

Harvey nahm ihr neues Album wieder mal mit den Produzenten John Parish und Flood auf

Im Studio. Harvey nahm ihr neues Album wieder mal mit den Produzenten John Parish und Flood auf

Bild:
Steve Gullick

»Americana« nennt man in den Vereinigten Staaten die ikonischen Kulturprodukte, angefangen bei Apple Pie über Jeans bis hin zu Baseball oder den Gemälden von Norman Rockwell. Dazu gehört natürlich auch die Musik des Landes, der Blues, der Folk, der Rock, der Country. Während die englische Kultur natürlich selbst vor lauter Tradition kurz vor dem Bersten steht, beinhaltet diese in der Populärmusik nicht unbedingt, Flora und Fauna zu besingen, wie es in den USA bis heute auch im alternativen Folk üblich ist. Ausnahmen gibt es freilich: 1968 veröffentlichten die Kinks das Album »The Kinks Are the Village Green Preservation Society«, auf dem Ray Davies munter über begrünte Dorfplätze, Flüsse und faule Katzen sang.

Auf »I Inside the Old Year Dying« klingt das nun alles ziemlich anders als bei den Kinks, aber auf eine gewisse Weise haben die Alben eben doch etwas miteinander zu tun: Dass Harvey ihren Weltverbesserungstrip vom vorherigen Album aufgegeben hat, um über Eichen, Schäfer und Wälder zu singen (wobei auch mal eine Pepsi oder ein Sandwich erwähnt wird), ist eine Ansage – indem sie das fortführt, was die Kinks einst taten und was sie selbst schon mit »Let England Shake« begonnen hat, nämlich gewissermaßen Americana für England zu entwerfen, hat sie auch bravourös wieder zur Musik zurückgefunden.

»I Inside the Old Year Dying« ist ein großartiges Album, eines, das man mit derselben Konzentration hören muss, die man auch für das Lesen von Gedichten aufbringen würde. Die Arrangements sind reduziert, der hymnische Sound des Vorgängers passé. Harvey tut es auch gut, sich ihrer Marotte, nämlich sich für jedes Album ein besonderes Instrument auszusuchen (das Klavier auf dem phantastischen »White Chalk«, die Zither auf »Let England Shake« und das Saxophon auf »The Hope Six Demolition Project«), entledigt zu haben: Auf »I Inside the Old Year Dying« hört man eine klassische Gitarre-Schlagzeug-Instrumentierung, keines der Instrumente ist dominant. Im Vordergrund steht die Stimme der Sängerin, die dieses Mal besonders zart und zerbrechlich daherkommt. Tatsächlich, so erzählte Harvey, hätten ihre Produzenten Flood und John Parish, mit denen sie bereits seit Jahrzehnten zusammenarbeitet, immer ihr Veto eingelegt, sobald sie ihre »PJ-Harvey-Stimme« angeschlagen habe.

Darüber, was genau denn das Typische an der Stimme von Harvey ist, kann man geteilter Meinung sein: In ihrer Frühphase bediente sie sich einer bluesigen, äußerst dunklen Stimme, in den vergangenen Jahren kletterte diese auch mal in die Höhe. Aber dennoch trifft die Anekdote einen Punkt, denn nichts an »I Inside the Old Year Dying« klingt in dem Sinne typisch für Harvey, während es aber gleichzeitig auch nicht so wirkt wie ein kompletter Neuanfang. Es ist vielmehr ein Solitär in der Diskographie der Musikerin – und genau deswegen so hörenswert.

PJ Harvey: I Inside the Old Year Dying (Partisan Records)