In Syrien gibt es neue Proteste gegen die Herrschaft Bashar al-Assads

Gegen Armut, Amphetamine und Assad

Hunderte von Menschen sind in ganz Syrien auf die Straße gegangen und haben inmitten einer Wirtschaftskrise den Rücktritt von Präsident Bashar al-Assad gefordert.

Eigentlich könnte sich der syrische Diktator Bashar al-Assad zurücklehnen. Zwölf Jahre nach Beginn des Aufstands gegen ihn, nach Bürgerkrieg, Interventionen aller Art und mehr als 300.000 Toten, steht er alles in allem als Sieger da. Er hat sich an der Macht gehalten, auch wenn er nicht ganz Syrien kontrolliert: Der Nordwesten wird von der Türkei und islamistischen Gruppen mit mehr oder weniger festen Beziehungen zur Türkei dominiert. Im Nordosten besteht de facto ein von einer kurdischen Miliz kontrolliertes Gebiet, hierzulande als Rojava bekannt.

Ein großer Teil der dortigen kurdischen Bevölkerung besteht aus Nachkommen von Flüchtlingen, die nach einem Aufstand vor 100 Jahren aus der Türkei gekommen sind. Unter anderem deshalb bewohnen sie vor allem einen breiten Streifen entlang der türkischen Grenze. Doch stabil ist dieses Rojava keineswegs. Das liegt nicht nur an türkischen Drohungen, Angriffen unter anderem mit Drohnen und der türkischen Unterstützung von übriggebliebenen Gruppen des sogenannten Islamischen Staats (IS). Zudem leben weiter im Landesinneren bis zum Fluss Euphrat vorwiegend konservative sunnitische Arab­er:innen. Ihnen bietet das kurdische Rojava weder ein politisches Programm noch ökonomische Aussichten.

Eigentlich sind die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) – eine Allianz oppositioneller sunnitischer, christlicher und kurdischer Milizen, dominiert von den Volksverteidigungseinheiten (YPG), einem Ableger der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê, PKK) in Syrien – nur deshalb so weit vorgerückt, um dem IS das Gebiet nicht als Basis zu lassen. Nebenbei verfolgten die verbündeten USA auch die Absicht, dem Assad-Regime die Kontrolle über die Ölförderanlagen in dem Gebiet zu entziehen. Das sollte auch Assads Bündnispartner Iran treffen. Nun könnte das Gebiet zur Gefahr für die US-Präsenz in Syrien werden. Ende August lieferten sich regionale Stämme heftige Kämpfe mit den SDF, was auch Angriffe auf die im Nordosten stationierten US-Truppen zur Folge haben und die Region weiter destabilisieren könnte.

Am 20. August überfilen Demons­trant:innen im mehrheitlich drusischen Regierungsbezirk al-Suwayda das örtliche Büro von Assads Ba’ath-Partei und demonstrierten dann tagelang mit der Parole »Brot, Freiheit, Würde« gegen seine Herrschaft.

Den größeren Rest Syriens kontrolliert Assad unangefochten, es gibt nur kleinere Scharmützel. Auch diplomatisch läuft es für das Regime gut. Die Arabische Liga hat Syrien und damit die Regierung Assad wiederaufgenommen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan fordert, auch auf Drängen Russlands und des Iran, nicht mehr Assads Sturz, sondern sucht einen Kompromiss, der natürlich zu Lasten der Kurd:innen gehen könnte. Dass es vor allem im türkisch kontrollierten Gebiet noch immer bewaffnete Islamisten gibt, mag Assad als Garantie dafür sehen, dass sich zumindest die alevitische Minderheit, der er selbst angehört, sowie die christliche und drusische Minderheit nicht gegen ihn wenden.

Um so größer mag für Assad die Über­raschung gewesen sein, als im mehrheitlich drusischen Regierungsbezirk al-Suwayda am 20. August Demons­trant:innen das örtliche Büro seiner Ba’ath-Partei überfielen und dann tagelang mit den Parolen »Brot, Freiheit, Würde« gegen seine Herrschaft demonstrierten. Dabei schwenkten sie Fahnen in den Farben der Drusen: Grün, Rot, Gelb, Blau und Weiß. Der südsyrische Regierungsbezirk hat rund 375.000 Einwohn­er:innen, von denen weit über 80 Prozent der drusischen Minderheit angehören, einer Religionsgemeinschaft, die einst als schiitische Abspaltung entstand. Die zweitgrößte Gruppe besteht aus Christen, sunnitische Muslime kommen auf nur zwei Prozent, obwohl sie die Mehrheit der Einwohner des Gesamtstaats stellen.

Im März 2011 sprang der Funke der Revolution vom benachbarten sunnitischen Bezirk Dara’a sofort auf al-Suwayda über. Die Hauptstadt des gleichnamigen Gouvernements wurde aber, anders als Dara’a, kein Zentrum des bewaffneten Widerstands und blieb die meiste Zeit Assads ruhiger Hinterhof im Bürgerkrieg. Diesmal steckte der Protest von al-Suwayda sofort Dara’a an und setzte sich vereinzelt im Raum von Damaskus und in Aleppo fort. Schließlich gab es sogar in der westlichen Küstenstadt und Assads alevitischer Hochburg Latakia Proteste. Dabei fällt die Dauer der Proteste und die Erneuerung von direkt gegen das Regime gerichteten Parolen auf, die an den Beginn der Revolution vor zwölf Jahren erinnern.

Nach zwölf Jahren Bürgerkrieg und Sanktionen leben nach Schätzung der UN 90 Prozent der Bevölkerung Syriens unter der Armutsgrenze.

Unmittelbarer Auslöser der Empörung war die Aufhebung von Preissubventionen, die die hohe Inflation weiter anheizte. Nach zwölf Jahren Bürgerkrieg und Sanktionen leben nach UN-Schätzung 90 Prozent der syrischen Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Der Wertverlust der syrischen Lira hat sich beschleunigt. Zahlte man für einen US-Dollar im März 2011 noch 47 Lira, so sind es auf dem Schwarzmarkt mittlerweile 15.000. Zum Schuljahresbeginn müssen Taschen, Hefte und Stifte angeschafft werden, viele Familien haben nicht das Geld dafür. Anderen Familien geht es überdies um das Schicksal von Familienangehörigen, die inhaftiert oder verschwunden sind.

Zu alldem kommt noch ein spezielles Problem: Captagon. Das mittlerweile als illegale Droge geächtete ehemalige Arzneimittel auf Amphetaminbasis wird in Syrien in großen Mengen hergestellt. Als Droge putschte es Kämpfer auf und ist außerdem mittlerweile der wichtigste Exportartikel. Nach Informationen der New York Times kontrolliert einen großen Teil der Produktion und des Vertriebs die 4. Panzerdivision der syrischen Armee. Befehligt wird die Eliteeinheit von Maher al-Assad, dem Bruder des Präsidenten.

Die syrische Wirtschaft hängt an Captagon, wenn auch nicht alle in gleicher Weise profitieren, doch kursieren die Pillen auch in Syrien selbst und machen Jugendliche süchtig. Rami Abou Diab, Doktorand am Institut Français de Géopolitique, sagte dem Nachrichtenportal al-Monitor, die grassierende Amphetaminabhängigkeit sei der Hauptgrund, weshalb sich viele Frauen und gläubige Drusen an den Protesten in al-Suwayda beteiligen: Sie fürchten um den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Bisher hat das syrische Regime auf die Proteste kaum reagiert, vermutlich um seine Rückkehr auf die internationale Bühne nicht durch Bilder zu stören, die an 2011 erinnern. Doch die Probleme von damals sind weder gelöst noch vergessen.