Was ukrainische Gewerkschafter:innen sagen

Solidarität im Krieg

Unter Kriegsrecht ist es für die ukrainischen Gewerkschaften schwierig, ihren üblichen Aufgaben nachzukommen. Ein Bericht, wie Gewerkschaf­terinnen und Gewerkschafter in Kiew die Situation im Land einschätzen.
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Kiew. In der vorvergangenen Woche verabschiedete der britische Gewerkschaftsdachverband Trades Union Congress (TUC) eine Resolution, in der es hieß: Die Organisation »verurteilt Russlands illegalen Angriffskrieg in der Ukraine unmissverständlich«. Die Resolution wurde nicht einstimmig verabschiedet, da einige wichtige Gewerkschaften entweder dagegen stimmten oder sich der Stimme enthielten. Aber es war dennoch ein Sieg für diejenigen, die die Ukrai­ne unterstützen und sich gegen die russische Aggression stellen.

Zu dieser Zeit befand ich mich in Kiew und traf Gewerkschaftsführer und Aktivisten. Zwei Frauen, die für ukrainische Gewerkschaftsverbände arbeiten, Olesia Briazgunova und Ivanna Khrapko, spielten eine Rolle bei jenem kleinen Sieg: In Videopräsentationen ermutigten sie die britischen Gewerkschafter, sich an die Seite der Ukraine zu stellen.

Nicht jeder in den britischen Gewerkschaften begrüßte ihr Eingreifen. Einige aus dem Pro-Putin-Lager bezeichneten sie als »Nazi-Mädchen«. Einige behaupteten, der TUC habe palästinensische Flaggen verboten, während er den ukrainischen Gewerkschaftern erlaube, ihre Flaggen zu zeigen, die angeblich Nazi-Symbole enthielten (was nicht der Fall war).

Die ukrainischen Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, die ich getroffen habe, wissen Entschließungen wie diese aufrichtig zu schätzen, und noch mehr, wenn es um praktische Solidaritätsaktionen geht. Das Erste, was mir in der ukrainischen Hauptstadt auffiel, waren die riesigen Stapel mit gespendeten Gütern in der Hauptgeschäftsstelle des Solidarity Center, einer internationalen Arbeiterrechtsorganisation, die mit dem US-amerikanischen Gewerkschaftsbund AFL-CIO verbunden ist. Der Leiter des Kiewer Büros, Tristan Masat, stellte eine Bergarbeiterin, Nataliya, vor, die dabei half, die Spenden in die Städte und Dörfer nahe der Front zu bringen.

Lage der ukrainischen Arbeiter:innen ist katastrophal
Während eines einwöchigen Aufenthalts in Kiew traf ich die Vorsitzenden der FPU (Gewerkschaftsbund der Ukraine) und der KVPU (Bund Freier Gewerkschaften der Ukraine, in deutscher Transkription: KWPU), der beiden größten Gewerkschaftsdachverbände des Landes. Ich traf führende Vertreter der Lehrergewerkschaft und Aktivisten der Eisenbahner-, Luftfahrt- und Bahnsteigarbeitergewerkschaft. Ich traf auch Aktivisten der Sozialen Bewegung (Sotsialnyi Rukh in englischer, Sozialnyj Ruch in deutscher Transkription), die einer sozialistischen Linken in der Ukraine am nächsten kommt.

Yevgen Stempkovsky von der Eisenbahnergewerkschaft sagte über deren Beziehungen zur Regierung: »Wir haben einen gemeinsamen Feind.«

Die Lage der ukrainischen Arbeiter und Arbeiterinnen ist derzeit katastrophal. Die Arbeitslosigkeit steigt. Ganze Wirtschaftszweige sind stillgelegt worden. Ich habe mit Veniamin Tymoshenko gesprochen, dem Vorsitzenden der unabhängigen Luftfahrtgewerkschaft, die Arbeiter vertritt, die arbeitslos sind, weil man nicht mehr nach Kiew fliegen kann. Tymoshenko ist so etwas wie eine Legende in der ukrainischen Arbeiterbewegung. Er hat vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geklagt, um das Streikrecht zu verteidigen – und gewonnen. Er trat ukrainischen Politikern, darunter auch Präsidenten, von Angesicht zu Angesicht entgegen.

Unter dem Kriegsrecht ist es für die Gewerkschaften nicht einfach, ihren üblichen Aufgaben nachzukommen. In den »vorübergehend besetzten Gebieten«, wie die Ukrainer den Donbass und die Krim nennen, lässt Russland die Gewerkschaften überhaupt nicht arbeiten. Verstöße gegen Arbeiterrechte sind allgegenwärtig.

Regierung nicht besonders arbeiterfreundlich
In der Ukraine sind die Gewerkschaften auch mit einer Regierung konfrontiert, die nicht besonders arbeiterfreundlich ist. Der Plan der Regierung Wolodymyr Selenskyjs, die Arbeitsgesetze des Landes zu reformieren, ist auf heftigen Widerstand gestoßen. Voriges Jahr haben FPU und KVPU gemeinsam eine globale Online-Kampagne auf der Website Labourstart gesponsert, in der die Regierung aufgefordert wurde, die vorgeschlagenen Gesetze zurückzuziehen. Als ich Yevgen Stempkovsky von der Eisenbahnergewerkschaft über deren Beziehungen zur Regierung befragte, sagte er: »Wir haben einen gemeinsamen Feind.« Er bezeichnete das derzeitige Verhältnis zur Regierung als »Waffenstillstand«.

Als die russische Invasion begann, meldeten sich viele Gewerkschaftsfunktionäre und -angestellte freiwillig zum Dienst in der Armee. Der Vorsitzende der FPU, Grygorii Osovyi, erzählte mir, dass 20 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder jetzt mobilisiert seien und für die Verteidigung der Ukraine kämpften. Als der Krieg begann, taten sich alle Gewerkschaften zusammen, um die ukrainischen Streitkräfte und die Flüchtlinge aus der Ostukraine zu unterstützen.

In der Zentrale der KVPU, des kleineren Gewerkschaftsdachverbands der Ukraine, führte mich ihr Vorsitzender Mykhailo Volynets, ein ehemaliger Bergarbeiter, in einen Konferenzraum voller Kisten. Darin befanden sich Plastikfolien, die in die Dörfer in der Nähe der Front geschickt werden. Der Kunststoff dient dort dazu, um Fenster zu ersetzen, die durch russischen Beschuss zerstört wurden.

Man kann gar nicht genug betonen, wie wütend die Ukrainer über die russische Invasion sind. Als ich versuchte, die heutige Situation in der Ukraine mit dem Spanischen Bürgerkrieg zu vergleichen – und darauf hinwies, dass es ausländische Freiwillige gibt, die gegen den Faschismus kämpfen, wie in den dreißiger Jahren –, fragte mich Olesia Briazgunova von der KVPU, ob es in Spanien einen Völkermord gegeben habe. Nein, es habe keinen gegeben. Sie sagte, dass es hier einen Völkermord gebe – und die Russen versuchten schon seit langem, die ukrainische Nation auszulöschen.

Ukraine kämpft für Freiheit
Georgy Trukhanov, der Vorsitzende der 1,2 Millionen Mitglieder zählenden Lehrergewerkschaft, steht vor noch nie dagewesenen Herausforderungen. Die Monatsgehälter der Lehrer sind auf umgerechnet 200 Euro gesunken, was etwa der Hälfte des ukrainischen Durchschnittslohns entspricht. Viele Lehrer haben sich freiwillig zur Armee gemeldet; sie können nicht eingezogen werden, da sie als unverzichtbare Arbeitskräfte gelten. Die Lehrer in den besetzten Gebieten sind gezwungen, ihren Unterricht auf Russisch umzustellen. Die ukrainische Sprache kann in diesen Schulen nicht gebraucht werden. Auf die Frage, ob es jemals Kontakte mit der russischen Lehrergewerkschaft gegeben habe, lautete die Antwort ja – bis 2014, als Russland die Aggression gegen die Ukraine begann.

Und dann sagte Trukhanov etwas Überraschendes. Die russischen Lehrer, sagte er, seien hier teilweise schuldig. Schuldig an was? Alle russischen Soldaten, die derzeit in der Ukraine kämpfen, hätten in russischen Schulen gelernt, sagte er. Sie seien zu dem erzogen worden, was sie geworden sind – Mörder und Vergewaltiger.

Die Ukraine kämpft um ihr Überleben, aber – wie Veniamin Tymoshenko sagte – sie kämpfen auch für Freiheit. Die Freiheit in Europa, nicht nur die ihre.
Was wünschen sich die ukrainischen Gewerkschaften von den Gewerkschaften in anderen Teilen Europas und der Welt? Sie wünschen sich Solidaritätsbesuche und freuen sich auf den bevorstehenden Besuch von führenden Vertretern internationaler und europäischer Gewerkschaften. Sie wollen praktische Hilfe – und freuen sich, dass Gewerkschaften wie die American Federation of Teachers Generatoren gespendet haben. Sie wollen, dass die Menschen begreifen, mit welchem Feind sie konfrontiert sind, und dass sie der Ukraine zur Seite stehen.

Sie wollen, was Gewerkschaften immer wollen und erwarten, und sie haben ein Wort dafür, das Gewerkschaften gerne benutzen: Solidarität.