Susan Neimans Buch gegen die »wokeness« hat der nichts entgegenzusetzen

Sozialdemokratie ist nicht links

Die Philosophin Susan Neiman kritisiert in ihrem Buch angeblich die woke Bewegung – spricht darin aber viel lieber kritisch über Israel, statt Triggerwarnungen oder »kultureller Aneignung« eine Abfuhr zu erteilen.

»Die Deutschen haben eine unglaubliche Angst, nur einen kritischen Satz zu Israel zu sagen«, erzählte die Philosophin Susan Neiman im August der Frankfurter Rundschau – indirekt verteidigte sie mit diesem eh nicht zutreffenden Satz auch noch den Israel-Kritiker und Hochstapler Fabian Wolff, als ob dessen Aussagen für sie selbst nach seiner Enttarnung noch Wert hätten. Neiman hat in den letzten Jahren mit einiger Leidenschaft Israel-Kritiker verteidigt – zum Beispiel den Philosophen Achille Mbembe, der gar ein Vorwort für ein Buch geschrieben hat, dass sich für BDS ausspricht.

Man lehne die Boykottkampagne gegen Israel ab, hieß es 2020 zwar lax in dem Text der »Initiative GG 5.3 Weltoffenheit«, den Neiman als Direktorin des Einstein-Forums unterzeichnete, um fortzufahren, dass die BDS-Resolution des Deutschen Bundestags eine »missbräuchliche Verwendung des Antisemitismusvorwurfs« zur Folge habe. Noch eine von diesen woken Aktivisten gegen Israel, denkt man da, doch weit gefehlt: Neiman ist, zumindest was der Titel ihres neuen Buchs »Links ist nicht woke« verspricht, eine Gegnerin der wokeness. Mit einigem Stolz sagt Neiman schon zu Beginn des Buches, dass sie sich gern eine »Sozialistin« nennen lasse – und eine Linke.

Neiman ist eine Sozialistin ohne eine Idee von Revolution, mit einer autoritären Vorstellung von Arbeit und windelweichen Forderungen.

Was für Neiman allerdings »links« ist, das ist für einen Linken tatsächlich nur schnöde Sozialdemokratie. Thomas Piketty zitierend tritt Neiman beispielsweise für die banale Forderung nach Steuererhöhungen ein, ein »partizipatorischer Sozialismus« schwebt ihr vor, das Wort »Gerechtigkeit« führt sie so gern im Mund wie eine Funktionärin der Linkspartei, und schlussendlich bedeutet »Linkssein« für Neiman schwammig, dass Ansprüche nicht utopisch bleiben sollen. Ungebrochen herrscht bei ihr die Rede vom »Fortschritt« und statt vom Kapitalismus ist viel öfter vom seit Jahren vielbeschworenen und dabei immer nur kulturell-gefühlig interpretierten Neoliberalismus die Rede – dem Neiman entgegenhält, es sei doch dem Gedeihen der Menschen viel zuträglicher, »produktiv in einer Gemeinschaft zu arbeiten«, was ihr, so muss man sagen, zu Recht den Vorwurf einbringt, ein Hippie zu sein, wie sie lamentiert.

Man wundert sich nach all diesen Aussagen nicht darüber, dass Neiman eine glühende Anhängerin des ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama und Mitglied der Grundwertekommission der SPD ist. Eine Sozialistin ohne eine Idee von Revolution, mit einer autoritären Vorstellung von Arbeit und windelweichen Forderungen. Dass sie sich selbst als »Sozialistin« bezeichnen lässt, ist langweiliger radical chic – tatsächlich ist Neiman, wie »Links ist nicht woke« zeigt, eine bornierte bürgerliche Philosophin (»Dieses Buch habe ich in der Hoffnung geschrieben, dass Philosophie die Verwirrungen auflösen kann, die von der Theorie gestiftet wurden«): Zwar fragt sie sich, wieso sich die Linke in weiten Teilen vom Bekenntnis zum Universalismus verabschiedet hat und stattdessen einem Stammesdenken anhängt, nimmt sich aber des möglichen Grunds dafür, des Aufstiegs der Identitätspolitik, nur sehr vage an – was befremdlich anmutet, wenn man schon mit einem solchen harschen Buchtitel vorprescht.

Neiman geht es zunächst darum, den Universalismus und damit die Aufklärung und ihre Autoren (namentlich Kant und Diderot, über Ersteren hat sie 1994 ein ganzes Buch verfasst) vor der Verklärung zu retten. Dabei macht sie tatsächlich eine gute Figur, wenn manches auch etwas abgedroschen klingt: Die Debatten über den Universalismus werden bereits seit einigen Jahren geführt, und zwar in Neimans Sinne von denen, mit denen sie für gewöhnlich nichts zu tun hat: von Antideutschen.

Neiman geht in jedem Fall in die Vollen und stellt zu Recht heraus, dass es die Aufklärung war, die als erste Kritik am »Eurozentrismus« und Kolonialismus formulierte – und zwar »auf der Grundlage universalistischer Ideen«. »Wer eine prägnante Schmäh­rede gegen Fanatismus, Sklaverei, koloniale Ausplünderung und andere europäische Übel sucht«, dem empfiehlt sie Voltaire, und Diderot liest sich für sie stellenweise wie Frantz Fanon. Diderot, so erzählt Neiman weiter, schrieb wie auch andere Autoren viel unter Pseudonym, und zwar regelrechte Kampfschriften gegen die Kolonisierer, in denen aus der Sicht der Kolonisierten Aufstandsphantasien geschürt wurden. Diderot sprach gar von einem »schwarzen Spartacus«, der den Befreiungskampf anführen würde.

So sehr Neimans Engagement in Bezug auf den Kolonialismus und seine Rezeption durch die Autoren der Aufklärung lobenswert ist, so sehr wirkt es dann auch wie ein Kalkül, dass sie das Thema aufbringt. »In Deutschland, wo man jahrzehntelang mit den Verbrechen an den Juden beschäftigt gewesen war, verschaffte sich endlich die Forderung Gehör, die kurze, aber brutale Kolonialgeschichte anzuerkennen«, schreibt Neiman salopp an einer Stelle.

Tatsächlich kommt die Shoah und vor allem Israel immer mal wieder in dem Buch vor, aber eher beiläufig, nicht als einzelnes Kapitel, und immer mit einem despektierlichen Tonfall garniert. »Wir sind frei geboren und geneigt, Freiheitsbeschränkungen abzuwehren – wie die jüngsten Proteste von Hongkong bis Tel Aviv belegen«, schreibt Neiman beispielsweise, Äpfel und Birnen vergleichend. Doch es kommt noch härter: »Linke, die die Idee des Universalismus verwerfen, sollten dies bedenken: Es gibt kein erfolgreicheres Beispiel für die Identitätspolitik auf der Basis der Beschwörung früheren Opferseins als den jüdischen Nationalismus israelischer Politiker vom Schlage eines Benjamin Netanjahu.«

Dass das »Opfer« Mitte des 20. Jahrhunderts in den Blick der Geschichtswissenschaft und des Aktivismus geriet, ist eine kluge Beobachtung von Neiman, und auch die, dass sich in jüngster Zeit eine »Selbststilisierung zum Opfer« durchgesetzt hat, die deshalb so perfide ist, weil sie die wahren Opfer von zum Beispiel rassistischer Gewalt verhöhnt. Das allerdings dem jüdischen Staat zum Vorwurf zu machen, der ja überhaupt nur deswegen gegründet wurde, damit Juden nie wieder zu Opfern werden müssen (zumal Juden ja immer noch Opfer von Antisemitismus überall auf der Welt sind), geht schon in Neimans eigener Logik nicht auf und entblößt ihr Ressentiment gegen Israel nur umso mehr.

In dieselbe Kerbe haut Neiman dann ein weiteres Mal, wenn sie konstatiert, dass »das deutsche Selbstbild nun im Kern von der Beziehung zwischen jüdischen Opfern und deutschen Tätern bestimmt« sei und daraus schlussfolgert, es falle den Deutschen schwer, »in den Juden noch etwas anders als nur Opfer (zu) sehen«. Wenn sie dann fortfährt, dass der gemeine Deutsche stillschweigend der Auffassung sei, dass »die Stimme des Schmerzes so authentisch wie keine andere sei«, was die Deutschen dazu bringen würde, »besonders jüdisch-nationalistischen Stimmen zu vertrauen, die das jüdische Opfertum betonen«, dann muss man daraus schlussfolgern, dass ­Neiman – die der Meinung ist, das Opfer-Narrativ sei Kern der woken Bewegung – nicht nur das Gedenken an die Shoah für woke hält, sondern auch für nicht links, immerhin heißt ihr Buch ja so.

Statt die woke Bewegung für ihre Nachlässigkeit in Bezug auf die Shoah zu kritisieren, hält sie die Deutschen aufgrund ihres angeblichen Vertrauens in »jüdisch-nationalistische Stimmen« für »ein wenig masochistisch«. Die Deutschen, am Ende doch auch ein wenig das Opfer? Sie hören auf jeden Fall den Universalisten nicht zu, zu denen Neiman sich selbst zählt, die der Meinung sind, dass auch »­Palästinenser als Menschen Menschenrechte genießen«. Man darf schlussfolgern: Identitätspolitik machen in der allerausgeklügelsten Form die Juden aus Israel.

Einer, der mit dem Universalismus nicht sehr viel zu schaffen hatte, war Michel Foucault, der von Neiman extrem grob angefasst wird. Ein ganzes Kapitel widmet sie ihm, um ihm mit Noam Chomsky zu unterstellen, ein »amoralischer Mensch« gewesen zu sein, seine Vernunftkritik (die sie kurioserweise mit Adornos gleichsetzt) als Resultat eines binären Denkens zu kritisieren, um ihm vorzuwerfen, er denke Macht zu ubiquitär, oder um ihn schlicht »nihilistisch« zu schimpfen.

Man freut sich, dass Foucault einmal nicht wie eine Art Heilsbringer bejubelt wird, wie das üblicherweise der Fall ist, und man reibt sich die Hände darüber, dass Neimans Milieu auf dieses Kapitel überhaupt nicht nett reagiert, sondern es für undifferenziert hält. Natürlich kann man Foucault mit Gründen für einen Nihilisten halten, doch Neiman liegt eben an anderer Stelle falsch, worauf auch bereits Philipp Sarasin in der Zeit eingegangen ist: Foucault für ­einen Vorreiter der Wokeness zu halten (wie es übrigens Anhänger wie Gegner des Philosophen unter unterschiedlichen Vorzeichen tun), ist gelinde gesagt falsch.

Mit Foucaults Abneigung gegen das Geständnis und das Wissen (vor allem das über sich selbst) und mit seiner Amoralität ist keine wokeness zu machen, deren identitätspoli­tische ­Rituale wie zum Beispiel die »Identifikation mit einem Geschlecht« ­genau auf das angewiesen sind, was Foucault so verachtete. Dass er in den Gender Studies immer noch hoch­gehalten wird, wäre ein gutes Thema für ein Essay, doch die queeren ­Theoretiker wagen sich nicht ran, weil sie keinen Heiligen ihres Feldes vom Sockel stürzen ­wollen – und Leuten wie Neiman scheint das einfach zu hoch zu sein.

Dass Neiman überhaupt etwas grundlegend Kritisches über die woke Bewegung sagen würde, kann man eh vergessen, denn sie spielt das Spiel der Aktivisten durchaus mit: Auch Neiman quatscht von »anderen Kulturen« und davon, dass »wir alle« eine »Vielzahl von Identitäten besitzen« (und führt als Illustration ein ziemlich krudes Beispiel an: »Wenn wir morgens unseren Liebhaber verlassen und in die berufliche Rolle an unserem Arbeitsplatz schlüpfen, hat sich unsere Identität abermals verändert.«) Auch Neiman denkt nicht daran, ihre »Positionalität« zu verschweigen (dazu zählt unter anderem, dass sie in den USA und Europa gelebt hat und »meistens als weiße Frau codiert« werde). Und gleich zu Beginn ihres Buches verkündet sie ritterlich, dieses enthalte keine »Tiraden gegen Cancel Culture«.

Über die derzeit brennenden Themen wie »kulturelle Aneignung« oder die diversen Gendertheorien verliert sie erst gar kein richtiges Wort, lässt es sich aber nicht nehmen, nochmal ordentlich in eine andere Richtung nachzutreten: »Eine übermäßige Beschäftigung mit der Vergangenheit macht es oft schwierig, die Gegenwart wahrzunehmen, und erst recht die Zukunft. Im Falle Deutschlands ist die Fixierung auf einen Aspekt der Vergangenheit, den deutschen Antisemitismus, von einem solchen Übereifer bestimmt, dass der Blick auf die Gegenwart verstellt wird. Vor allem lenkt sie die Aufmerksamkeit vom Rassismus gegenüber anderen Minderheiten ab, insbesondere gegenüber Muslimen. Dabei ist dieser Rassismus manchmal tödlich.«

Um wokeness im engeren Sinne geht es Neiman hier gar nicht mehr, sondern um ihren Übereifer, die deutsche Erinnerungspolitik zu denunzieren – nicht präsent gewesen ist ihr beim Schreiben dieser Zeilen wohl, dass 2019 der Rechtsextremist Stephan Balliet versuchte, in Halle eine Synagoge zu stürmen, und in seinem Livestream bekannte, er glaube nicht, dass es den Holocaust jemals gegeben habe.

Das Problem an wokeness ist nicht, dass ihre Vertreter gegen Rassismus und Diskriminierung, gegen Sexismus und Transphobie sind, das Pro­­blem ist nicht so sehr, dass sie lieber Foucault als Kant lesen (obwohl ein wenig Kant ihrem Denken zweifelsohne guttun würde), das Problem ist nicht wirklich ihr radikales Auftreten oder ihre Abkehr von mancher linken Orthodoxie. Das Problem mit der wokeness ist, dass sich ihre Vertreter zu sektenähnlichen Grüppchen zusammenrotten, in denen nicht mit Vernunft, sondern mit persönlicher Betroffenheit argumentiert wird – und man sich jeder Erfahrung beraubt, die diese Selbstbezogenheit brechen könnte, und deswegen so gerne Filme, Bücher und Aussagen mit Triggerwarnungen überzieht. Solch eine Kritik wäre notwendig. Susan Neiman hat sie nicht vorgelegt.

Susan Neiman: Links ist nicht woke. Übersetzt aus dem Englischen von Christiana Goldmann. Hanser, Berlin 2023, 176 Seiten, 22 Euro