Die Zahl der Übergriffe auf Juden und jüdische Einrichtungen in Deutschland steigt rasant

Keine Sicherheit für Juden

Die Übergriffe auf Juden und jüdische Einrichtungen in Deutschland nehmen seit dem 7. Oktober rasant zu. Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus verzeichnet im Vergleich zum Vorjahreszeitraum einen Zuwachs an antisemitischen Vorfällen um 240 Prozent. Die Berliner Integrationsbeauftrage sorgt sich hingegen um ein Erstarken des antimuslimischen Rassismus.

Tarik S. habe nach proisraelischen Demonstrationen in Nordrhein-Westfalen gesucht; nicht allerdings um seine Empathie für die von der Hamas Ermordeten, Verschleppten und Verletzten und deren Angehörige zum Ausdruck zu bringen. Den Sicherheitsbehörden zufolge habe er mutmaßlich mit einem Lastwagen durch eben jene Menschen rasen wollen, die friedlich auf der Straße ihre Trauer zum Ausdruck brachten.

Offenbar gab es einen Hinweis eines ausländischen Geheimdiensts. Die Wohnung von S. wurde daraufhin durchsucht, Datenträger wurden beschlagnahmt und am Mittwoch vergangener Woche folgte der Haftbefehl. Der Anwalt des Beschuldigten versicherte immerhin, dass »Osama al-Almani« (Osama der Deutsche), so dessen Kampfname, an einem Aussteigerprogramm teilgenommen habe, dessen Erfolg ihm damals ausdrücklich bescheinigt worden sei. Der Welt zufolge hat »der Deutsche« bereits für den »Islamischen Staat« in Syrien gekämpft und war für diesen eine Art Werbeträger; er habe beispielsweise in einem Video neben einer enthaupteten Person posiert.

Wie ebenfalls die Welt berichtete, schätzt Sinan Selen, der Vizepräsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, die Lage nach dem Hamas-Angriff als »geeignet« ein, »Mobilisierungspotential in der extremistischen und terroristischen Community weltweit und einen Solidarisierungseffekt herbeizuführen mit den entsprechenden risikoerhöhenden Elementen«. Das verändere den Zustand der öffentlichen Sicherheit grundlegend.

Einen kleinen Vorgeschmack gab es in Deutschland bereits. Nachdem die Hamas, mittlerweile zum zweiten Mal, zum »Tag des Zorns« aufgerufen hatte, ermutigte auch die Terrorgruppe al-Qaida ihre Anhänger zu Angriffen auf Juden; zwei konkurrierende jihadistische Organisationen, vereint in ihrem gemeinsamen Hass. Mittlerweile gehen Bilder in den sozialen Medien viral, die die Flagge al-Quaidas auf einer israelfeindlichen Demonstration in Hamburg zeigen.

Die Polizei wäre mit dem Schutz einer israelsolidarischen Demonstration überfordert gewesen.

Gesagt, getan. Am 19. Oktober flogen um drei Uhr morgens zwei Brandsätze in Richtung der Synagoge der Gemeinde Kahal Adass Jisroel in Berlin-Mitte. Glücklicherweise kam niemand zu Schaden und auch das Gebäude blieb unversehrt. Die Zornigen trafen die Synagoge nämlich nicht. Drei Tage später flogen dann Steine in ein Fenster des Jüdischen Krankenhauses im Berliner Stadtteil Wedding.

In beiden Fällen konnten die Täter entkommen. Die Motive sind noch unklar, hieß es in vielen Presseberichten. Für die Verfasser bleibt also abzuwarten, ob es sich bei den Angreifern um Zornige handelte, oder ob es reiner Zufall war, dass es beide Male jüdische Einrichtungen traf.

Noch bevor all das geschah, hat der Bundesverband der Recherche- und ­Informationsstelle Antisemitismus (Rias) einen ersten Monitoring-Bericht veröffentlicht, der antisemitische Vorfälle mit Bezug auf die Terrorangriffe auf Israel zwischen dem 7. und 15. Oktober dokumentiert und auswertet. Das Ergebnis ist erschreckend: Insgesamt 202 verifizierte Vorfälle in Deutschland weist der Bericht aus, das entspricht 22 pro Tag. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum sei das ein Zuwachs um 240 Prozent.

Beispielsweise sei bereits am 7. Oktober eine israelsolidarische Versammlung in Kassel gestört worden. Ein Passant habe gedroht, dass das, was in Israel passiert sei, auch bald in Deutschland passieren werde. Bei einer anderen Veranstaltung in Hessen habe eine Passantin gerufen: »Schweigeminute für Israel und ein paar toten Juden, schon peinlich, Digga.« Und bei einer Veranstaltung in Wuppertal habe ein Teilnehmer die bestialischen Morde der Hamas als legitimen Widerstand romantisiert.

Und die antisemitischen Übergriffe und Drohungen gehen weiter. Der Berliner Zeitung zufolge teilte eine Polizeisprecherin dem Anmelder einer Demonstration mit, es sei »unser gesetzlicher Auftrag und unser Selbstverständnis, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu schützen«, warnte aber, diesem Auftrag im konkreten Fall nicht nachkommen zu können.

Demons­triert werden sollte am 20. Oktober in Berlin-Neukölln. Dort sollten weiße, mit Helium gefüllte Ballons mit der Aufschrift »Free Gaza from Hamas« aufsteigen. Auf zwei Videowagen sollten Fakten über die Hamas gezeigt werden. Die Versammlungsbehörde riet indes davon ab; die Polizei wäre mit dem Schutz der Demonstration überfordert gewesen. Der Veranstalter musste absagen. Bereits am 11. Oktober hatte die Deutsch-Israelische Gesellschaft eine Kundgebung in Neukölln zum Gedenken an die Opfer der Hamas aus Sicherheitsgründen abgesagt.

Unter dem Hashtag #HassBeimNamenNennen veröffentlicht der Zentralrat der Juden mittlerweile, welch ekelhafte antisemitische Hetze er in den Sozialen Medien zugesendet bekommt. Ein User fragte beispielsweise: »Wie viele Juden passten in eine Gaskammer?«. Eine andere schreibt, Juden seien »keine Menschen«, sondern »Tiere«.

Und der Hamburger Rabbiner Shlomo Bistritzky teilte am 28. Oktober auf X mit, dass ihn ein jüdischer Patient im Krankenhaus gebeten habe, ihn nicht im Krankenhaus zu besuchen. Der Patient habe Angst, im Krankenhaus als Jude erkannt zu werden.

Katarina Niewiedzial, Berlins Integrationsbeauftragte, hat derweil ein ganz anderes Problem erkannt und warnte im Tagesspiegel: »Ich habe Sorge, dass die aktuelle Debatte ein Verstärker für den antimuslimischen Rassismus ist.« Sie finde es aber auch »furchtbar«, dass »sich Menschen israelischer Herkunft in Berlin nicht mehr sicher fühlen und Polizeischutz brauchen«.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) weiß die Gemüter zu beruhigen. Nach der Festnahme von Tarik S. versicherte sie Mittwoch vergangener Woche, dass sie keine Veränderung der »Gefährdungslage« in Deutschland sehe. Sie beobachte aber sehr genau – »gerade jetzt in diese Zeiten«.