Die geplante Verfassungsreform der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni sorgt für Irritationen

Melonis Reform

In Italien hat die extrem rechte Ministerpräsidentin Giorgia Meloni mit einem Vorschlag für eine Verfassungsreform für Irritationen gesorgt. Die Opposition warnt vor zu viel Macht der Exekutive.

Insgesamt 70 Regierungen gab es seit dem Zweiten Weltkrieg in Italien. Da ist es nicht verwunderlich, dass dort immer wieder über eine Staatsreform diskutiert wird. Tatsächlich angegangen wird derlei hingegen selten. Aus gutem Grund: Die bisherigen Initiatoren – die Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi und Matteo Renzi – sind mit ihren grundlegenden Strukturreformen des politischen Systems in Volksabstimmungen gescheitert. Zuletzt knüpfte Renzi 2016 sein politisches Schicksal an den Ausgang eines solchen Referendums über eine Verfassungsreform, die den Senat als Vertretung der Regionen und Provinzen geschwächt hätte. Die Italiener:innen lehnten ab, Renzi trat zurück.

Nun versucht sich Ministerpräsidentin Giorgia Meloni an einer Reform des politischen Systems.

Anfang November verabschiedete das Kabinett einen entsprechenden Entwurf. Die von Meloni als »Mutter aller Reformen« bezeichnete Vorlage war ein wesentlicher Bestandteil des Wahlkampfprogramms ihrer (post)faschis­tischen Partei Brüder Italiens (Fratelli d’Italia, FdI). Meloni hatte immer wieder die Ansicht geäußert, dass die politische Instabilität wesentlich zur wirtschaftlichen Schwäche des Landes und zur Unzufriedenheit der Bürger:innen beitrage. In ihren Wahlkampfreden hatte sie sich daher für ein semipräsiden­tielles System nach französischem Vorbild ausgesprochen.

Ihre Forderung stand ganz in der Tradition der Vorgängerparteien der FdI. Bereits die von Anhängern Benito Mussolinis gegründete neofaschistische Italienische Sozialbewegung (Movimento Sociale Italiano, MSI), aus der nach mehreren Flügelkämpfen und daraus resultierenden Parteineugründungen Generationen später die FdI hervorgingen, hatte sich insbesondere für einen zentralistischen Staat mit einem präsidialen Regierungssystem und gegen die Übertragung von Befugnissen an die Regionen ausgesprochen.

Als die italienische Verfassung nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Eindruck der vorangegangenen faschistischen Diktatur Mussolinis ausgearbeitet wurde, sollte genau eine solche Machtkonzentration für die Zukunft verhindert werden. Bis heute gilt die italienische Verfassung vielen als nahezu unantastbar. Seit dem Ende des Faschismus soll sie als Hüterin der Institu­tionen fungieren, indem sie deren völlige Unabhängigkeit garantiert und die Grundprinzipien bekräftigt, die untrennbar mit dem Übergang vom Königreich zur parlamentarischen Re­pu­blik verbunden sind. Die 1948 in Kraft getretene Verfassung soll die Bevölkerung daher gerade vor autoritären Tendenzen schützen.

»Nein zu einem einzigen starken Mann oder einer starken Frau an der Macht.« Elly Schlein, Vorsitzende der größten italienischen Oppositions­partei, des Partito Democratico

In Frankreich ist die große Machtfülle der Exekutive im Allgemeinen und des Präsidenten im Besonderen immer wieder Gegenstand politischer Debatten. Zuletzt flammten diese ­wieder auf, als die Regierung unter Präsident Emmanuel Macron die umstrittene Rentenreform unter Anwendung des Sonder­artikels 49.3 der Verfassung am Parlament vorbei verabschiedete.

Als Meloni Anfang Mai bei einem Tref­fen mit den Oppositionsparteien das von ihr bevorzugtes System präsentierte, stieß sie daher erwartungsgemäß erneut auf Ablehnung. »Nein zu einem einzigen starken Mann oder ­einer starken Frau an der Macht«, sagte Elly Schlein, die Vorsitzende der größten italienischen Oppositionspartei Partito Democratico (PD), nach ihrem Treffen mit Meloni.

Die nun von Melonis Ministerrat beschlossene Form des Verfassungsentwurfs weicht in einigen Punkten von den ursprünglichen Wünschen der Ministerpräsidentin ab. Aber er stößt bei der Opposition dennoch nicht auf Gegenliebe.

Eine wesentliche Änderung wäre die Direktwahl des Ministerpräsidenten. Ein grundsätzliches Problem sieht der Politikwissenschaftler Francesco Bromo von der Texas A & M University in der Vereinbarkeit der Bindung der Regierung ans Parlament und dem gesonderten Mandat, das dem Ministerprä­sidenten von den Wählern erteilt wird. Der Jungle World sagte er, dass der Ministerpräsident in der derzeitigen Ausgestaltung vom Vertrauen des Parlaments abhängig sei, während er – gemäß dem Entwurf – gleichzeitig ein direktes Mandat der Wähler habe. Die Direktwahl des Ministerpräsidenten sei daher mit der parlamentarischen Demokratie unvereinbar. Sinnvoller im parlamentarischen System sei eine Investitur, also eine förmliche Wahl des Regierungschefs durch das Parlament, wie sie in vielen anderen parlamentarischen Demokratien üblich ist.

Eine weitere Veränderung betrifft die Vertrauensfrage. Tritt die Regierung zurück oder entzieht das Parlament ihr das Vertrauen, kann der Präsident nur den abgewählten Ministerpräsidenten wieder einsetzen oder einen neuen ­ernennen, der über eine Parlamentsmehrheit verfügt. Ist beides nicht möglich, folgen Neuwahlen. In der Vergangenheit wurden bei politischen Pattsituationen externe Technokraten mit der Regierungsführung beauftragt. Melonis Vorgänger Mario Draghi, vormaliger Präsident der Europäischen Zentralbank, leitete die jüngste Technokratenregierung, nachdem Staatspräsident Sergio Mattarella ihn 2021 eingesetzt hatte, um eine politische Krise zu beenden, die Italien damals aufgrund der Covid-19-Pandemie besonders belastete. Dem Entwurf zufolge soll dies nicht mehr möglich sein, er würde die Befugnisse des Präsidenten einschränken. Meloni will damit sicherstellen, dass der Wählerwille entweder für die gesamte Legislaturperiode respektiert wird oder aufs Neue festgestellt werden muss.

Deutlich umstrittener ist der im Entwurf geplante Mehrheitsbonus. Dieser sieht vor, dass nach Parlamentswahlen der Spitzenkandidat der Wahlliste mit den meisten Stimmen automatisch Ministerpräsident wird und dass diese Wahlliste mindestens 55 Prozent der Sitze in beiden Kammern des Parlaments erhält.
Letztlich schwächt eine solche Klausel die Kontrolle der Legislative über die Exekutive. Zwar müsste jede Regierung weiterhin von einer Mehrheit der Legislative toleriert werden, um im Amt zu bleiben. Die dadurch ausgeübte Kontrolle über die Exekutive würde aber durch eine Einparteienmehrheitsregierung, die durch den Mehrheitsbonus nahezu unausweichlich würde, reduziert, sagte Francesco Bromo. So sei denkbar, dass eine Einparteienmehrheit die Exekutive über die gesamte Legislaturperiode hinweg konsequent stütze. Eine Kontrolle durch die anderen Parteien beziehungsweise deren Parlamentsfraktionen in einer Koalition wäre nicht mehr gegeben.

Seit dem Zweiten Weltkrieg hat keine Partei in Italien bei einer Parlamentswahl genügend Stimmen erhalten, um alleine mit einer Mehrheit regieren zu können. Daher bildeten die Parteien regelmäßig politische Bündnisse und Koalitionsregierungen. Sollte ausgerechnet Meloni mit ihrer Partei im derzeit eher unwahrscheinlichen Fall ­einer solchen Reform einen solchen Mehrheitsbonus erhalten und allein ­regieren können, wäre das die erste Einparteienmehrheitsregierung seit Mussolini und seiner Nationalen Faschistischen Partei (Partito Nazionale Fascista, PNF), die Italien einst totalitär regierten.

Bis zu einem etwaigen Inkrafttreten der Reform ist es allerdings noch ein weiter Weg. Zunächst wird der Verfassungsentwurf nun dem Parlament zugeleitet und durchläuft dort ein kompliziertes Zustimmungsverfahren, bei dem keineswegs sicher ist, dass er in der vorliegenden Form verabschiedet wird. Für jede Verfassungsänderung ist eine Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern des Parlaments erforderlich. Die wichtigsten Oppositionsparteien haben sich bereits gegen das Vorhaben ausgesprochen. Gelingt es Meloni nicht, die Änderung auf diesem Weg durchzusetzen, könnte sie durch ein Referendum beschlossen werden.

Auch das Verfassungsgericht könnte einem Inkrafttreten im Weg stehen. Wahlgesetze mit Mehrheitsbonus, wie sie Meloni vorschlägt, wurden in der Vergangenheit für verfassungswidrig erklärt, und zwar 2013 sowohl das von Silvio Berlusconi in Auftrag gegebene Wahlgesetz von 2005, das dem Wahlbündnis, das die Mehrheit erringt, 340 der 630 Sitze im Abgeordnetenhaus sicherte und die Sperrklausel für den Parlamentseinzug von vier auf zwei Prozent senkte, als auch 2016 das unter der Regierung Renzi verabschiedete und nie angewandte Wahlgesetz von 2015.

Einen Mehrheitsbonus gab es in der Legge Acerbo, dem Wahlgesetz, das der Mussolini-Vertraute Giacomo Acerbo entworfen hatte, um Mussolinis Partei bei den Wahlen 1924 eine Stimmenmehrheit in der Abgeordnetenkammer zu sichern. Der Mehrheitsbonus garantierte dem Wahlsieger, sofern er mehr als ein Viertel der abgegebenen Stimmen erreichte, zwei Drittel der Parlamentssitze – genug, um anschließend die Verfassung zu ändern und ein faschistisches Regime zu errichten.

Die Skepsis von Beobachtern und Gerichten gründet sich also nicht nur auf die demokratietheoretische Frage, ob ein Bonus zu einer Verzerrung der Repräsentation des Wählerwillens führt, sondern auch auf die historische Erfahrung. Francesco Bromo sagt, es sei daher durchaus möglich, dass der Mehrheitsbonus erneut vor Gericht ­angefochten werde. Allerdings handele es sich bei dem von der Regierung beschlossene Entwurf erst um einen Vorschlag. So sei nicht auszuschließen, dass die Regierung Meloni aus dem Urteil von 2013 gelernt habe und mit ­einem neuen Entwurf letztlich den bisherigen Entscheidungen des Verfassungsgerichts entspreche.