Der Shoah-Überlebende Salo Muller kämpft gegen die Bahn um Entschädigungszahlungen

Im Kampf gegen die Deutsche Bahn

Der Holocaust-Überlebende Salo Muller fordert von der Deutschen Bahn AG Entschädigungszahlungen.

Als er sechs Jahre alt gewesen sei, »begann für mich der Krieg«, so Salo Muller auf der Bühne des Centralkomitees Hamburg am Sonntag. Es war der 27. November 1942 in Amsterdam, an den sich der Holocaust-Überlebende noch gut erinnert. Morgens habe ihn seine Mutter wie gewohnt zur Schule gebracht. Zur Verabschiedung habe sie ihm sogar noch hinterhergerufen: »Bis heute Abend, und sei schön brav!« Es sollten die letzten Worte an ihren Sohn gewesen sein.

Anlässlich des 79. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz hatten das Auschwitz-Komitee und der AK Distomo Muller zu einer Veranstaltung am 21. Januar nach Hamburg eingeladen. Es soll um Entschädigungszahlungen gehen, die noch nicht geleistet wurden. Seit Jahren befindet sich Muller mit seinem Rechtsanwalt Martin Klingner in poli­tischen Auseinandersetzungen mit der Niederländischen Bahn und der Deutschen Bahn AG.

Als der Krieg endete, war Muller neun Jahre alt. Mit zehn Jahren besuchte er das erste Mal in seinem Leben eine Grundschule.

Mullers Eltern wurden an jenem 27. November von den deutschen Besat­zern verhaftet, in eine Amsterdamer Sammelstelle gebracht und kurz darauf in das Durchgangslager Westerbork verschleppt. Im folgenden Januar wurden sie dann in einem Viehwaggon der Deutschen Reichsbahn nach Auschwitz deportiert. Die Mutter wurde dort im Februar, der Vater im April 1943 in den Gaskammern ermordet – weil sie Juden waren.

Er selbst konnte einer Deportation nach Auschwitz dank der Hilfe des niederländischen Widerstands entgehen und überlebte. »Ich erinnere mich noch gut an jedes einzelne Versteck«, ­erzählt er im Gespräch mit Sophie Lierschof vom Auschwitz-Komitee.

Nachdem er der Sammelstelle hatte entfliehen können, kümmerte sich zunächst sein Onkel um ihn. »Das war eine komische Situation, ich hatte viel Angst«, erinnert sich Muller. Weil bald eine Nachbarin auf ihn aufmerksam geworden sei, habe er an einen anderen Ort gebracht werden müssen. Zu groß war die Sorge, verraten zu werden. Insgesamt habe sich das neunmal wiederholt. »Auf einem Bauernhof musste ich mich jeden Samstag für zwölf Stunden unter den Dielen zwischen den Ratten und Mäusen aufhalten, wenn die deutschen Soldaten Milch und Eier kaufen wollten.«

Als der Krieg endete, war Muller neun Jahre alt. Mit zehn Jahren besuchte er das erste Mal in seinem Leben eine Grundschule. Später wurde er Physiotherapeut, arbeitete bei Ajax Amsterdam und gründete seine eigene Praxis. 2015 habe er dann in einer Zeitung gelesen, dass die französische Bahn aufgrund einer Klage Entschädigung an einen Überlebenden zahlte.

»Die Deportation an sich war schon ein Verbrechen ­gegen die Menschheit, und den Menschen dafür auch noch Geld abzu­nehmen, war noch ein weiteres Verbrechen.« Martin Klingner, Auschwitz-Komitee

Er wusste zu dem Zeitpunkt bereits, dass die niederländischen Juden, wie etwa seine Eltern, »mit ihrem eigenen Geld und Besitztümern, die ihnen die Scheinbank Lippmann, Rosenthal & Co. enteignete, ihre Deportation bezahlen mussten«. Die Deutsche Reichsbahn berechnete damals vier Pfennig pro Erwachsenem und Bahnkilometer. Kinder wurden kostenlos verschleppt. Bei Transporten von mehr als 400 Personen gab es einen Mengenrabatt um die Hälfte. Umgerechnet etwa 445 Millionen Euro ­erhielt die Deutsche Reichsbahn für die Fahrten quer durchs Deutsche Reich zu den Gaskammern. Und auch die niederländische Eisenbahngesellschaft verdiente daran mehrere Millionen Gulden. »Ich konnte das nicht länger aushalten«, betont er die Motivation seines heutigen Engagements. »Das Geld muss zurück zu den Menschen, von denen es gestohlen wurde.«

Das sieht auch Martin Klingner so. Der Rechtsanwalt ist Mitglied des Auschwitz-Komitees sowie des AK Distomo. Gemeinsam mit Salo Muller möchte Klingner die Deutsche Bahn AG zu finanziellen Entschädigungen für die Überlebenden und Hinterbliebenen der Deportationen bewegen. »Zumindest ein bisschen für Gerechtigkeit sorgen«, nennt er das. Denn die Deutsche Bahn habe nach dem Krieg »die Monopolstellung und die Schienen und das ganze Vermögen der Reichsbahn übernommen«. Klingner ist außerdem überzeugt: »Die Deportation an sich war schon ein Verbrechen ­gegen die Menschheit, und den Menschen dafür auch noch Geld abzu­nehmen, war noch ein weiteres Verbrechen.«

In den Niederlanden war Salo Mullers Engagement bereits erfolgreich. Im Jahr 2019 gab die Eisenbahngesellschaft Nederlandse Spoorwegen seinen Forderungen nach finanziellen Entschädigungen statt – und kam damit ­einer gerichtlichen Auseinandersetzung zuvor. Muller ­erreichte, dass rund 50 Millionen Euro an die etwa 7.000 Opfer, die ermittelt werden konnten, und ihren Nachkommen gezahlt wurden. Er erinnert sich an die Worte eines Geschäftsführers der niederländischen Eisenbahngesellschaft. Dieser hätte sich im Fall eines Gerichtsprozesses über finanzielle Entschädigungszahlungen gegen ihn, einem Holocaust-Überlebenden, zu Tode geschämt.

Dementsprechend kämpft Muller weiter. Aufgeben ist für den 87jährigen keine Option: »Ich bin ein Pitbull, und immer, wenn jemand nein sagt, dann heißt das für mich vielleicht, und wenn jemand vielleicht sagt, dann geht da für mich wahrscheinlich doch ­etwas.«

In Deutschland allerdings gestaltet sich die Realisierung finanzieller Entschädigungen schwieriger. Die Deutsche Bahn, erklärt Klingner, »fühlt sich nicht zuständig für Entschädigungszahlungen«. Ihrem Verständnis zufolge habe sie bloß das Vermögen, nicht aber die Schulden der Deutschen Reichsbahn übernommen, sagt der Rechtsanwalt. Außerdem versteht sich die Bahn AG nicht als Rechtsnachfolgerin der Reichsbahn und lehnt dementsprechend Forderungen nach individuellen Entschädigungen ab.

Seit einem Jahr sei man mit Abgeordneten der demokratischen Bundestagsfraktionen in Kontakt, beispielsweise mit Otto Fricke von der FDP. »Sehr positiv« ist Muller dieser aufgefallen. »Wir hoffen nun«, sagt Klingner, »bald eine Einladung von der Deutschen Bahn zu erhalten. Denn wenn Salo einmal dort ist, können sie seine Forderungen nicht mehr länger ignorieren.«