Ian Penman hat mit »Fassbinder – Tausende von Spiegeln« ein persönliches Buch über Rainer Werner Fassbinder geschrieben

In der Fassbundesrepublik

Der britische Kulturjournalist Ian Penman hat ein persönliches Buch über den deutschen Filmemacher Rainer Werner Fassbinder geschrieben. Dieser galt ihm als eine der größten Figuren der Gegenkultur und hat ihn nachhaltig fasziniert und geprägt. Mit allen Filmen Fassbinders zeigt sich Penman jedoch nicht einverstanden.

Als Rainer Werner Fassbinder am 10. Juni 1982 mit nur 37 Jahren tot in seiner Münchner Wohnung aufgefunden wurde, befand er sich gerade in der Postproduktion von »Querelle«, seiner Verfilmung des gleichnamigen Romans von Jean Genet. Zu diesem Zeitpunkt blickte er, das gefeierte »Wunderkind« des Neuen Deutschen Films, auf ein Œuvre zurück, wie es viele Regisseure nicht mal bis ins hohe Lebensalter zustande bringen: 18 Theaterstücke, fünf Hörspiele, drei Kurzfilme, zwei Fernsehserien und ganze 39 Langfilme.

Im Durchschnitt veröffentlichte er alle 100 Tage einen Film. Tagsüber drehte er, abends schrieb er sein nächstes Drehbuch und nachts suchte er Ablenkung in der Münchner Schwulenszene. Sein unbändiger Arbeitseifer war verbunden mit einer hemmungslosen Selbstzerstörung. Bis zu 80 Zigaretten rauchte er am Tag. Dazu kam ein Cocktail aus Koks, Alkohol und Schlaftabletten, der vermutlich auch zu seinem Herzstillstand führte. Nicht zu vergessen seine Vorliebe für große Portionen deftig-bayerischer Küche. Zu seinen Lieblingsgerichten zählten Bratwürste, Krautwickel und Kartoffelsalat. Dazu gab es literweise Bier.

Für den britischen Autor und Musikjournalisten Ian Penman war dieses Leben im Übermaß offenbar Grund genug, um knapp 40 Jahre nach Fassbinders Tod (die englische Originalausgabe erschien bereits 2023) ein Buch über ihn zu schreiben. So heißt es gleich zu Beginn von »Fassbinder – Tausende von Spiegeln«: »Diese Story hat alles! Sex, Drogen, Kunst, Großstadt, Moderne, Kino und Revolution!«

Penman verweigert sich erfreulicherweise einer allzu starken Glorifizierung Fassbinders. Das macht das Buch umso vielschichtiger.

Wer jedoch eine skandalträchtige, gar reißerische Biographie über Fassbinders exzessives Leben erwartet, wird enttäuscht. Penmans knapp 250 Seiten umfassendes Buch ist ein faszinierendes Kaleidoskop präzise formulierter Überlegungen zu Fassbinders Wirken. Es ist eher eine Sammlung umherschweifender fragmentarischer Gedanken als eine kohärent ausgearbeitete Abhandlung. Oder wie Penman sein Vorhaben formuliert: »Ich versuchte zu schreiben, wie Fassbinder selbst gearbeitet hat: sofort anfangen, einfach losmachen.«

Herausgekommen sind insgesamt 450 mäandernde Kurztexte, die nie länger als zwei Seiten sind, manchmal auch nur aus einem Satz bestehen und dabei immer wieder über Fassbinder hinausweisen: »Wir suchen Schutz in Filmen, im Kino. Kinoarchitektur als Topografie des Kalten Krieges: Bunker, Gruft, sicherer Ort.« In Sätzen wie diesen zeigen sich die tieferen Themen des fast schon literarisch anmutenden Buchs. Denn in ihm befragt der Autor auch sein jüngeres Ich über seine Faszination für Fassbinder, von der er an anderer Stelle ganz offen schreibt: »Jetzt muss ich mich fragen, was es wirklich war, das mich so stark in den RWF-Mythos hineingezogen hat. Welche Sehnsucht hat er befriedigt?«

Der 1959 geborene Penman, der in Großbritannien als einer der ersten Kulturjournalisten seine Musikkritiken mit Theoriereferenzen verband und den so einflussreiche Autoren wie Simon Reynolds oder Mark Fisher als maßgeblichen Einfluss nannten, blickt dabei zurück auf sein eigenes Leben mit Anfang 20, als er aus der englischen Provinz frisch nach London gezogen war und in den dortigen Programmkinos die Fassbinder-Welt entdeckte.

»German hätte der Begriff für alles lauten können, was wir im Vereinigten Königreich nicht hatten.« Ian Penman

Für Penman war Westdeutschland in den siebziger Jahren ein Schmelztiegel aus Kunst, Kultur und Politik, ein Hort der Gegenkultur. Es war das Gegenteil seiner Heimat: »German hätte der Begriff für alles lauten können, was wir im Vereinigten Königreich nicht hatten.« In der Musik traten Krautrockbands wie Amon Düül, Can, Kraftwerk oder Faust hervor, die mit ihrer experimentellen Ausrichtung die Musik revolutionierten.

Die Siebziger wurden aber auch geprägt vom Terror der RAF, der im Deutschen Herbst 1977 seinen Höhepunkt fand und auch auf den jungen Penman eine unheimliche Anziehungskraft ausübte. Ein Fahndungsplakat von Ulrike Meinhof fand er »als Teenager überwältigend erotisch«. Doch vor allem war es das deutsche Kino jener Jahre, das ihn völlig vereinnahmte: »Die eigentliche verlockende, überirdische Starpower hatte für mich das Kino. RWF kam mir damals als der größere Rockstar vor, größer als alle echten Rockstars, die noch übrig waren.«

Penman verweigert sich allerdings erfreulicherweise einer allzu starken Glorifizierung Fassbinders. Das macht das Buch umso vielschichtiger. Gleich zu Beginn schreibt er von einem schweren Fehler, der ihm unterlaufen sei: Im ersten Lockdown während der Covid-19-Pandemie, eingeschlossen in seiner Wohnung, wollte er Fassbinders Werk nochmals anschauen. Isoliert und auf sich selbst zurückgeworfen sei es keine gute Idee gewesen, Filme anzusehen, in denen »Menschen in trostlosen Zimmern einander die Herzen aus dem Leib reißen«.

Fassbinders 14teilige Serie »Berlin Alexanderplatz« (1980) hält er nach erneutem Anschauen für kein großes Meisterwerk, sondern für »besonders zäh«. Einige Filme seien mit der Zeit aber auch besser geworden. »Angst essen Seele auf« (1974) bewundert er für die Zärtlichkeit und Menschlichkeit, die der Film dem vehementen Rassismus seiner Zeit entgegenhält. Die Nabokov-Verfilmung »Despair – Eine Reise ins Licht« (1978) aus Fassbinders Spätwerk wiederum hält er für ein »völliges Desaster«. Andere Filme musste er bei der erneuten Sichtung abbrechen. Und dennoch: Fassbinders Filme üben noch immer »eine unwiderstehliche Anziehungskraft« auf ihn aus.

Als Mensch war Fassbinder ebenso schwer zu fassen wie seine Filme. In seiner exzessiven Produktivität steckte etwas Getriebenes, eine »beherrschende Dringlichkeit«, wie Penman schreibt, die nie zur Ruhe kam. Sein ausschweifender und maßloser Lebensstil war so gesehen eine Bedingung für sein Schaffen, »Ungesundheit als höchste Form der Effizienz«. Aufgedunsen, übergewichtig und immer eine Zigarette in der Hand war Fassbinder das Gegenbild zum heutigen und bereits in den Achtzigern vorherrschenden Fitness- und Körperkult. Auch in der damaligen Schwulenszene eckte er an. Als »böser Schwuler« war er alles, »was eine gewisse muskelfixierte, kapitalismusfreundliche Schwulenszene nicht war«.

Fassbinders Filme sind durchzogen von einem grundlegenden Fatalismus, in dem sich keine Vorstellung einer besseren Welt finden lässt.

Fassbinders Filme sind durchzogen von einem grundlegenden Fatalismus, in dem sich keine Vorstellung einer besseren Welt finden lässt. Wie seine BRD-Trilogie – »Die Ehe der Maria Braun« (1978), »Lola« (1981) und »Die Sehnsucht der Veronika Voss« (1982) –, die ein Deutschland zeigt, das zwischen der eigenen Nazi-Vergangenheit und den Hoffnungen auf eine bessere Zukunft feststeckt, zerfressen von Korruption, Heuchelei und Verdrängung. Gleichzeitig strahlen vor allem seine Melodramen (kaum einen Regisseur verehrte Fassbinder mehr als Douglas Sirk) eine ungemeine Sentimentalität aus, eine rührende Schönheit, und schlittern für Penman immer wieder an der »Grenze zur Geschmacklosigkeit« oder am »Rand der Selbstparodie« entlang.

Für seine Erkundungen der »Fassbundesrepublik« findet Penman immer wieder sehr pointierte und geschliffene Worte, wobei es zuweilen schwerfallen kann, ihnen zu folgen, wenn man mit Fassbinders Filmen wenig bis gar nicht vertraut ist. Dabei zeigt er sehr eindrücklich, wie erst der retrospektive Blick offenbart, welchen dauerhaften Einfluss Kunst und Kultur auf die eigene Art zu denken haben können. Denn, so schreibt Penman, Fassbinder war für ihn ein »Post-Punk-Ideal, gleichzeitig hedonistisch und nachdenklich«, dessen Einflüsse »unterschwelliger und zeitverzögerter waren, grundlegender und verheerender«, als er zunächst dachte.

Der US-amerikanische Regisseur John Waters sagte einmal, eine Fassbinder-Retrospektive zu sehen, sei besser als Drogen, Alkohol und Sex zusammen. Passend zum Erscheinen von Ian Penmans »Fassbinder – Tausende von Spiegeln« gibt es nun seit Anfang Februar eine solche auf der Streaming-Plattform Mubi zu sehen. Der treffende Titel: »Liebe, Lust & Anarchie«.

Ian Penman: Fassbinder – Tausende von Spiegeln. Aus dem Englischen von Robin Detje. Suhrkamp, Berlin 2024, 243 Seiten, 20 Euro