Miki Roitman, israelische Frauenrechtlerin, im Gespräch über die sexuelle Gewalt am 7. Oktober

»Es gibt viele Aussagen von Tätern«

Anfang März veröffentlichte die Uno einen Bericht über sexuelle Gewalt beim Angriff der Hamas und anderer Organisationen auf Israel am 7. Oktober. Demnach kam es zu Vergewaltigungen und Gruppen­vergewaltigungen mit vielen Todesopfern. Die »Jungle World« sprach mit der israelischen Juristin und Frauenrechtlerin Miki Roitman über den UN-Bericht, den Stand der Ermittlungen in Israel über die sexuelle Gewalt am 7. Oktober und die Lage der Geiseln.
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Um das internationale Schweigen über die sexuellen Gewalttaten der Hamas vom 7. Oktober zu brechen, wurde die Kampagne »Believe Israeli Women« begonnen. Hat sie, etwa mit Blick auf den jüngsten Weltfrauentag, Wirkung gezeigt?
Der Anfang März veröffentlichte Bericht der Uno, der kurz vor dem Frauentag erschien, hat mehr erreicht als Appelle. Er ist ein Zeichen, dass sich internati­onal etwas tut. Allerdings hat die Uno fünf Monate gebraucht, um einen solchen Bericht vorzulegen. Und es gibt immer noch internationale Organisationen, die schweigen, etwa Unicef zur Gewalt der Hamas gegen Kinder. Die Arbeit ist also nur halb erledigt.

Pramila Patten, die Sonderbeauftragte des UN-Generalsekretärs für sexuelle Gewalt in Konflikten, hat den Bericht vorgelegt. Wie treffend ­beschreibt das Dokument die Taten des 7. Oktober und welche Lücken bestehen in der Darstellung?
Die Verantwortlichen schreiben selbst, dass ihr Bericht Lücken hat, dass nicht genug Zeit und Personal vorhanden waren, um alle Fakten zu sammeln und zu erörtern. Im Bericht wird beispielsweise erwähnt, dass das Team nicht genug Zeit hatte, um alle Leute aus dem angegriffenen Kibbuz Be’eri zu interviewen, die dazu bereit gewesen wären. Zudem wollte das Team die gefassten Täter nicht interviewen, die in israe­lischen Gefängnissen sitzen. Ich hoffe, es wird noch einen zweiten Bericht ­geben, der diese Lücken füllt. Trotz allem war die Veröffentlichung eine gute Nachricht. Es war das erste Mal, dass sich eine internationale Organi­sation auf solche Art geäußert hat – europäische Organisationen ausgenommen, denn in der EU gab es Berichte zur Sache.

»Es gibt Dokumente, die beweisen, dass die Täter eine religiöse Erlaubnis erhielten, die Gräueltaten vom 7. Oktober zu begehen.«

In israelischen Medien und in der Politik wurde die Kritik geäußert, der Bericht schmälere und relativiere seine eigenen Erkenntnisse, weil in ihm auch ein Abschnitt zu mutmaßlichen sexuellen Gewalttaten ­israelischer Beamter und Siedler zu finden ist. Können Sie diese Kritik nachvollziehen?
Es gibt eine gewisse Grundhaltung in der Uno und generell im Westen nach dem Motto: »Wir müssen immer beide Seiten anhören« – selbst wenn eine ­Seite völlig falsch liegt. Das lässt sich ja auch bei anderen Debatten erkennen. Wenn in einer Diskussion eine Seite sagt, die Erde sei eine Kugel, dann wird eben noch jemand eingeladen, der sagt, die Erde sei eine Scheibe.

Der UN-Bericht weist ausdrücklich darauf hin, dass Pattens Mission nicht zu Ermittlungszwecken stattfand, und enthält auch keine Schluss­folgerungen dazu, welche Taten welchen Tätern und Gruppen zuzuschreiben sind. Wie weit sind in dieser Hinsicht die Ermittlungen in Israel?
Es gibt noch keine Verfahren. Denn es wurde noch nicht entschieden, wie juristisch vorgegangen werden soll, da es mehrere Probleme gibt, was die Beweise angeht. In manchen Fällen wurden Beweise zerstört, weil die Angreifer Menschen verbrannten. Und da es so viele Tote gab, wurden in manchen Fällen mehrere Leichen in nur einem Leichensack transportiert, wodurch ­Beweise unbrauchbar gemacht wurden, anhand derer man konkrete Taten ­einzelnen Tätern hätte zuschreiben können. Aber es gibt viele Aussagen von Tätern, die gefasst wurden. Sie ermöglichen es, Personen wegen bestimmter Taten juristisch zu verfolgen.

Es ist aber möglich, dass Einzelnen keine bestimmten Morde oder Vergewaltigungen nachgewiesen werden können. Gibt es im israelischen Recht eine Möglichkeit, solche Angeklagte dennoch für schwerste Straftaten zu belangen, zum Beispiel weil sie sich allein durch das Eindringen in israelisches Territorium an dem Massaker beteiligt haben?
Die Nürnberger Prozesse und der Prozess gegen Adolf Eichmann sind gute Vorbilder. Und es gab weitere Prozesse etwa gegen ehemalige SS-Mitglieder, denen man zwar nicht bestimmte Taten zuordnen konnte, aber ihre Anwesenheit am Ort und die Beteiligung am gesamten Geschehen erlaubte schwere Verurteilungen. Das dürfte die Richtung sein, die man in juristischer Hinsicht verfolgen wird. Anzumerken ist: Israel ist ein demokratischer Staat. Auch die im Zuge des Massakers gefassten Personen haben Rechte. Es wird in Israel wahrscheinlich nicht viele Anwälte geben, die diese Personen verteidigen wollen. Deshalb wird der israelische Staat wohl erlauben, dass Verteidiger aus dem Ausland an Prozessen teilnehmen können, um die Angeklagten zu vertreten.

Kleriker des »Islamischen Staats« hatten die Versklavung und Vergewaltigung von Frauen abgesegnet. Gibt es Aussagen von gefassten Angreifern, denen zufolge die Hamas und deren Kleriker die Verbrechen des 7. Oktober ebenso erlaubten und veranlassten?
Wir wissen von Häftlingen, dass sie solche Befehle hatten. Und es gibt Dokumente, die beweisen, dass die Täter eine religiöse Erlaubnis erhielten, diese Gräueltaten zu begehen. Es gibt eine extreme islamische Ideologie, die es rechtfertigt, gegen Feinde mit Enthauptungen, Vergewaltigungen und anderen Gräueltaten vorzugehen. Selbst die Schändung von Leichen wird erlaubt – was im Islam üblicherweise strengstens verboten ist.

»Die Menschen machen sich große Sorgen um die Geiseln, die immer noch im Gaza-Streifen gefangen gehalten werden, da anzunehmen ist, dass diese ebenfalls sexueller Gewalt ausgesetzt sind, Frauen wie Männer.«

Mitte Februar haben Familienmitglieder der israelischen Geiseln den Internationalen Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag dazu aufgefordert, die Hamas-Führung wegen Kriegsverbrechen anzuklagen. Welche Möglichkeiten bietet dieser Weg, die ­Taten des 7. Oktober zu ahnden und aufzuarbeiten?
Vor dem ICC können Personen klagen, denen Leid zugefügt wurde. Diesen Weg gehen die Familien, um gegen die Hamas vorzugehen. Die Führung der Hamas sitzt gemütlich in Katar und führt ein schönes Leben. Es ist ein sehr lukratives Geschäft, eine palästinensische Führungsperson zu sein, nicht nur bei der Hamas. Auch Mahmoud Abbas (Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde sowie Vorsitzender der Fatah und der PLO, Anm. d. Red.) ist ein schwerreicher Mann. Das Geld landet nicht dort, wo es hingehört. Es sollte dazu dienen, der palästinensischen Bevölkerung ein besseres Leben zu ermöglichen. Eine Klage vor dem ICC kann dazu dienen, an solche angehäuften Vermögen heranzukommen. Denkbar wäre zudem, dass Betroffene, die auch eine US-Staatsbürgerschaft besitzen, in den USA klagen, um an das Geld zu kommen.

Israel befindet sich zurzeit an mehreren Fronten im Krieg, muss Binnenflüchtlinge versorgen, die israelische Wirtschaft spürt die Auswirkungen des Konflikts. Wie viel Aufmerksamkeit erhält das Thema der sexuellen Gewalt vom 7. Oktober in Israel selbst angesichts der Lage?
Die Menschen sprechen dar­über. Sie machen sich große Sorgen um die Geiseln, die immer noch im Gaza-Streifen gefangen gehalten werden, da anzunehmen ist, dass diese ebenfalls sexueller Gewalt ausgesetzt sind, Frauen wie Männer. Und die Familien der Geiseln engagieren sich sehr stark. Aus Anlass des Weltfrauentags waren die 19 Frauen, die immer noch als Geiseln gehalten werden, ein großes Gesprächsthema.

Wie wird die medizinische und ­psychologische Versorgung der Opfer der sexuellen Gewalt und anderer Betroffener gewährleistet?
Es sind bisher nur wenige Überlebende von Vergewaltigungen bekannt, da es zur Methode der Angreifer gehörte, die Vergewaltigten zu ermorden. Sie werden einzeln behandelt. Versorgungsprobleme haben wir bei Augenzeugen. Auch diese müssen behandelt werden, aber es gibt nicht genug Psychologen. Der israelische Staat versucht, so viel psychologische Unterstützung wie möglich zu gewährleisten. Zudem gibt es sehr viele Soldaten, die psychologische Hilfe brauchen. Niemand wollte in den Gaza-Streifen. Am 6. Oktober dachten alle, sie hätten einen gemütlichen Tag vor sich.
 

Miki Roitman

Miki Roitman ist Juristin und Frauenrechtlerin. In den vergangenen Jahren arbeitete sie als Beraterin im Status of Women and Gender Equality Committee im israelischen Parlament und als Referentin am Obersten Gerichtshof Israels.

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picture alliance / dpa / Britta Pedersen