Anne-Christin Klotz, Historikerin, im Gespräch über eine neue Studie zum Antisemitismus seit dem 7. Oktober aus der Perspektive von Jüdinnen und Juden

»Die Erfahrungen von Anti­semitismus Betroffener werden in der Wissenschaft oft vernachlässigt«

Die Historikerin Anne-Christin Klotz und die Psychologin Jasmin Spiegel arbeiten an einer neuen Studie zu Antisemitismus in Deutschland nach dem 7. Oktober aus jüdischer Perspektive. Die »Jungle World« sprach mit Anne-Christin Klotz über das Interviewprojekt.
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Könnten Sie kurz erläutern, wie Sie bei Ihrem Projekt vorgehen?
Wir suchen nach dem Schneeballprinzip interessierte Jüdinnen und Juden und die Strategie geht bisher gut auf. Wenn sich jemand bei uns meldet, vereinbaren wir einen Interviewtermin. Die Interviews sind leitfadengestützt. Wir stellen Fragen nach dem Erleben des 7. Oktober und der Zeit danach, nach eigenen Erfahrungen mit Antisemitismus in seinen verschiedenen Ausformungen, danach, ob sich das Leben als Jude oder Jüdin verändert hat in Deutschland, dem Land, in dem die nationalsozialistische Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden geplant und durchgeführt wurde.
Wir fragen auch nach den Beziehungen zur nichtjüdischen Umwelt, nach einer etwaigen Reaktualisierung familiärer Traumata, nach Coping-Strategien sowie nach der Wahrnehmung der Debatte über Antisemitismus und den Krieg in Israel und Gaza. Wir haben mit den Interviews begonnen und derzeit noch rund 30 weitere terminiert. Man kann sich im Übrigen noch immer bei uns melden, wenn man an dem Projekt teilnehmen möchte. Einfach eine E-mail an interviewproject@savion.huji.ac.il schreiben.

Was wollen Sie damit erreichen?
Ein Anliegen ist es, an die jüdische Tradition der Dokumentation von Antisemitismus aus der Perspektive von Jüdinnen und Juden selbst anzuknüpfen, die von dem Pogrom von Kischinjow im Jahr 1903 über die Shoah bis heute reicht. Unser zweites Anliegen betrifft die Forschung. Im persönlichen wie professionellem Austausch nach dem 7. Oktober ist uns in Deutschland eine Lücke aufgefallen: In der Antisemitismusforschung wird ja oft das Phänomen selbst untersucht und richtigerweise auch als Problem der Mehrheitsgesellschaft beschrieben. Allerdings werden dabei oft die Erfahrungen der vom Antisemitismus Betroffenen, also der Jüdinnen und Juden, vernachlässigt.

»Die Interviewten repräsentieren einen Querschnitt der Community.«

Durch den rasanten Anstieg von Antisemitismus seit dem 7. Oktober sind wir nun in der Situation, dass zwar viel über Antisemitismus gesprochen wird, aber wir im Prinzip noch gar keine empirischen Daten darüber haben, wie sich Jüdinnen und Juden in Deutschland jetzt fühlen und was sie denken, abgesehen von den wenigen öffentlich hörbaren jüdischen Stimmen. Wir wollen mit unserem Projekt helfen, jüdische Zeugenschaft, Erfahrungen und Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland sichtbarer zu machen.

Stoßen Sie dabei auf Herausforderungen?
Wir sind derzeit zu zweit und haben das Projekt neben unseren anderen Tätigkeiten in Forschung und Lehre an der Hebräischen Universität Jerusalem ins Leben gerufen. Die Interviews sind aufwendig und wir müssen uns viel koordinieren. Auch zeigt sich schon jetzt, dass viele Teilnehmende ein großes Bedürfnis nach Mitteilung haben, die Interviews also manchmal länger als die veranschlagten 60 Minuten dauern.

Wie schaffen Sie aus subjektiven Eindrücken ein objektives Gesamtbild?
Die Interviewten selbst repräsentieren einen Querschnitt der Community, den wir in unserer interdisziplinären Auswertung abbilden werden: Wir haben Teilnehmende aller Altersstufen, mit verschiedenen sozialen Lebensverhältnissen und Bezügen zur jüdischen Community. Sie haben unterschiedliche familiäre und geographische Hintergründe. Einige sind in Deutschland geboren, ­andere erst vor ein paar Jahren aus den USA oder Israel immigriert. Wieder andere haben noch als Kind die Shoah überlebt.