Das russische Fernsehen desinformiert über das Massaker in Moskau

Neue Märchen aus dem Kreml

Die Urheber des jihadistischen Massakers in der Moskauer Crocus City Hall habe in der Ukraine eine finanzielle Belohnung erwartet, behauptet das russische Staatsfernsehen.

Läuft etwas in Russland gewaltig schief, liegt das sicher nicht an Behördenversagen, schon gar nicht, wenn es um Sicherheitsfragen geht. In diesem Duktus gefällt sich die offizielle Stellungnahme von Regierungssprecher Dmitrij Peskow, nachdem bekannt geworden war, dass die USA Hinweise an Russland weitergeleitet hätten, wonach ein bereits für Anfang März in Moskau geplanter Terroranschlag in der Crocus City Hall geplant gewesen sei. Peskow betonte, solche Informationen würden ohne Umwege direkt zwischen den Geheimdiensten ausgetauscht.

Zuvor hatte es aus dem russischen Sicherheitsapparat geheißen, die Hinweise aus der US-amerikanischen Botschaft seien allgemeiner Art gewesen und hätten keine konkreten Rückschlüsse zugelassen, wie ein solcher Anschlag zu vereiteln gewesen wäre. Die Washington Post hatte außerdem mit Verweis auf anonyme Quellen in Beamtenkreisen berichtet, dass ein weiteres Attentat in einer Moskau Synagoge geplant gewesen und verhindert worden sei. Am 22. März hatte es in der Crocus City Hall mindestens 144 Tote und Hunderte Verletzte gegeben, als Terroristen in die Menge schossen und einen Brand legten.

Das Fernsehpublikum der wichtigsten staatlichen Sender bekam frische Videoaufnahmen mit Auszügen aus den Geständnissen der vier mutmaßlichen Terroristen vorgesetzt.

Ob es sich um grobe Fahrlässigkeit im russischen Sicherheitsapparat gehandelt hat oder andere Umstände dazu geführt haben, dass der Anschlag ungestört verübt werden konnte, ist derzeit unklar. Statt Aufklärung zu betreiben, wirft die Regierung nun aber die russische Propagandamaschinerie an. Sie versucht mehr schlecht als recht, die Öffentlichkeit von der offiziellen Version der Tatumstände zu überzeugen, wonach die Ukraine ihre Finger im Spiel gehabt habe.

Das Fernsehpublikum der wichtigsten staatlichen Sender – Erster Kanal und Rossija 1 – bekam frische Videoaufnahmen mit Auszügen aus den Geständnissen der vier mutmaßlichen Terroristen vorgesetzt, die den Anschlag in der Veranstaltungshalle verübt haben sollen. Anweisungen hätten die vier Männer – drei von ihnen sollen bei der Tat unter Drogeneinfluss gestanden haben – von einer Person mit dem Namen Sajfullo bekommen, der sie nach verübter Tat per Telefon Richtung Ukraine dirigiert habe; kurz vor der Grenze hätten sie ihren Wagen zurücklassen sollen.

14 Tatverdächtige verhaftet

Das ukrainische Militär wiederum soll dafür gesorgt haben, den anvisierten Grenzabschnitt von Minen zu befreien, in Kiew schließlich habe alle Beteiligten eine finanzielle Entlohnung erwartet. Wie die Überquerung der Grenze von russischer Seite aus hätte vonstatten gehen sollen, kam in dem Fernsehbeitrag nicht zur Sprache. Das Ermittlungs­team habe es geschafft, eine unmittelbare Beteiligung der Ukraine bei der Vorbereitung des Terroranschlags zu beweisen, lautete die Schlussfolgerung, die in den Sendungen gezogen wurde.

Sicher ist sich Präsident Wladimir Putin zudem beim Zweck des Attentats: Es habe die Einheit Russlands untergraben sollen. »Andere Ziele kommen nicht in Frage«, so Putin. Bislang wurden in mehreren russischen Städten, unter anderem in der nordkaukasischen Föderationsrepublik Dagestan, insgesamt 14 Tatverdächtige verhaftet, überwiegend tadschikische Staatsangehörige. Unter ihnen befinden sich neben den mutmaßlichen Schützen und Brandstiftern auch jene, die die Anschlagsvorbereitungen logistisch unterstützt haben sollen.

Menschen aus Zentralasien fürchten seit dem Massaker in der Crocus City Hall mögliche negative Folgen für ihren Aufenthaltsstatus, aber auch um ihre körperliche Unversehrtheit.

Menschen aus Zentralasien fürchten seit dem Massaker in der Crocus City Hall mögliche negative Folgen für ihren Aufenthaltsstatus, aber auch um ihre körperliche Unversehrtheit. Dutzende rassistischer Übergriffe und erhöhte Aufmerksamkeit durch die Polizeiorgane bekamen nicht nur tadschikische Staatsangehörige zu spüren. Diese reisten derzeit in großer Zahl aus Russland aus, gab die stellvertretende ta­dschikische Ministerin für Arbeit, Mi­gra­tion und Beschäftigung, Shakhnoza Nodiri, bekannt.

Monate zuvor, im Dezember 2023, hatte sich Putin für die Einrichtung einer speziellen Migrationsbehörde ausgesprochen, um zukünftig ausländische Arbeitskräfte wirtschaftlich besser nutzen zu können. Dabei existierte früher bereits eine unabhängige Behörde, der sogenannte Migrationsdienst, der allerdings 2016 aufgelöst worden war. Seither liegt die Zuständigkeit für ­Migrationsfragen allein beim Innenministerium, das sich auf reine Kontroll­aufgaben und Sicherheitsaspekte beschränkt, was das genaue Gegenteil von attraktiven Voraussetzungen für eine Arbeitsaufnahme in Russland bewirkt.

Taliban in Russland willkommen

Erst nach dem Anschlag nahmen die Planungen für den Aufbau einer neuen Behörde konkrete Gestalt an, es steht aber zu befürchten, dass auch hier Polizei und Geheimdienste das Sagen haben werden. Bislang frei zugängliche statistische Daten zur Migration nahm das Innenministerium kürzlich aus dem Netz – ein Zeichen für schwindende Transparenz. Die nur dem Namen nach Liberal-Demokra­tische Partei kündigte im Übrigen einen Gesetzentwurf an, der vorsieht, gegen strafrechtlich verurteilte Migrantinnen und Migranten ein lebenslanges Einreiseverbot zu verhängen.

Willkommen hingegen scheinen die in Russland offiziell seit 2003 als terroristische Organisation verbotenen Taliban zu sein. Eine Delegation der in Afghanistan herrschenden Islamisten erhielt eine Einladung zum Forum »Russland – Islamische Welt«, das im Mai in Kasan stattfinden soll. Es wäre nicht deren erster Besuch: Bereits im September 2023 reisten einige Taliban-Vertreter in die Hauptstadt Tatarstans, um dort über die Zukunft Afghanistans zu sprechen. Dabei ging es nicht zuletzt um den Ausbau der wirtschaftlichen Kontakte. Just in Afghanistan ist ein Teil des mit den Taliban verfeindeten IS Khorasan ansässig, eines Ablegers der Terrormiliz »Islamischer Staat«, der sich zu dem Attentat in der Crocus City Hall bekannt hatte. In der Diskussion in Russland ist derzeit, das Verbot der Taliban aufzuheben.