Wenig spricht dafür, dass es ­Kindern schadet, schon früh in die Kita zu geben

Die Angstmache um die Kitas

Immer wieder wird behauptet, es schade Kindern, zu früh in Kitas betreut zu werden. Doch belegen lässt sich das nicht.

In den meisten Online-Foren für Eltern ist man sich heute einig: Kindern schadet es nicht, wenn sie schon früh in die Kita kommen, wahrscheinlich nützt es ihnen sogar. Viele Eltern berichten dort, wie toll ihre Kleinsten die Kita finden. Nur hin und wieder kommentiert jemand: »Kinder unter drei Jahren gehören nicht in die Kita!«

Es gibt kaum ein Thema, zu dem sich die öffentliche Meinung in den vergangenen 15 Jahren so radikal geändert hat – in Westdeutschland. Während man im Osten Deutschlands Kleinkinder ganz selbstverständlich in eine Tageseinrichtung gab, galt in Westdeutschland noch Anfang der Nuller Jahre als Rabenmutter, wer das vor Vollendung des dritten Lebensjahrs tat. Nur 15 Prozent der unter Dreijährigen besuchten 2007 eine Kita. Vielen galt »Fremdbetreuung« als schädlich für die Entwicklung des Kindes.

Zahlreiche Studien zeigten schon damals, dass das nicht stimmt. Aber andere Studien schienen die Schädlichkeit zu belegen. Gerade konservative Medien und Politiker zitierten gerne Letztere. Das hat sich geändert. Berichte über die Schädlichkeit des frühen Kita-Besuchs gibt es immer noch – aber seltener in konservativen Medien und häufiger in den alternativen und linksliberalen. Während Die Welt, Focus und Bunte von positiven Effekten des Kita-Besuchs auch für kleinste Kinder berichten, kritisierte die links-alternative Taz vor einigen Jahren schon mal die »Kinderaufbewahrung«.

»Familien- und Kindfaktoren beeinflussen die Forschungsergebnisse. Schon deshalb kann man keine klare Aussage zum Pro und Contra von Fremdbetreuung treffen.« Carmen Eschner, Psychologin

Im Berliner Tagesspiegel warnte jüngst die Psychiaterin Agathe Israel vor Entwicklungsschäden durch zu frühen Kita-Besuch, die für Depressionen, Sucht und Aggression im Jugendalter anfällig machten. Ein Autor in der Berliner Zeitung führte die als besonders gut geltende Gesundheit der Japaner darauf zurück, dass dort Mütter nach der Geburt Hausfrauen werden wollten und ihre Kinder dann immer bei sich hätten.

Davon, dass Japanerinnen das wollen, kann allerdings nicht die Rede sein. Im Land der »Arbeit bis zum Umfallen« werden schwangere Frauen oft gedrängt, ihre Stelle zu kündigen, weil sie die üblichen Überstunden nicht mehr schaffen – eine Diskriminierung, gegen die sich seit einiger Zeit Widerstand formiert.

Ansonsten hat in Japan eine ähnliche Entwicklung wie hierzulande stattgefunden: Die Kinderbetreuung wurde in den vergangenen 15 Jahren stark ausgebaut, die Frauenerwerbstätigkeit stieg von 47 Prozent auf heute 54 Prozent – in Deutschland im selben Zeitraum von 66 Prozent auf 77 Prozent.

Kinderbetreuungsangebote für Berufstätige machen einen Unterschied

Dort wie hier passierte das unter anderem, weil konservative Politikerinnen und Politiker einen Zusammenhang entdeckten: In Industrieländern, wo Mütter für die Kindererziehung lange berufliche Pausen machen, liegt die Geburtenrate deutlich niedriger als dort, wo es Kinderbetreuungsangebote für Berufstätige gibt.

In Deutschland führte die damalige Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) im Jahr 2007 das Elterngeld ein. Zuvor erhielten Elternteile, die maximal Teilzeit arbeiteten, bis zu zwei Jahre lang Erziehungsgeld in Höhe von 300 Euro im Monat. Nun gab es nur noch ein Jahr lang 67 Prozent des vorherigen Gehalts, maximal aber 1.800 Euro, danach nichts mehr.

Das signalisierte Müttern: Es ist okay, nach einem Jahr wieder arbeiten zu ­gehen. Tatsächlich stieg die Frauenerwerbstätigkeit und erstmals seit Jahren auch die Geburtenrate – zumindest leicht und vorübergehend. Inzwischen besuchen in Westdeutschland 32 Prozent der unter Dreijährigen eine Kita, in Ostdeutschland sind es über 54 Prozent. Und es wären wohl noch mehr, gäbe es genug Kita-Plätze.

Kritikerinnen der frühen Fremdbetreuung warnen indes, dass politische Prioritäten wie der Arbeitskräftebedarf über das Kindeswohl gestellt würden. Sie argumentieren mit der Bindungstheorie, der zufolge eine stabile und liebevolle Eltern-Kind-Bindung im Kleinkindalter entscheidend ist für die Persönlichkeitsentwicklung.

Rechte wünschen sich Mütter an den Herd zurück

Die Theorie an sich ist heute unumstritten – die Frage ist aber, welche Schlüsse daraus zu ziehen sind. Viele Pädagogen meinen, die Qualität der Bindung erfordere keine Rund-um-die-Uhr-Betreuung durch die Eltern. Doch in Elternforen und Vereinen sogenannter Bindungsorientierter treten viele dafür ein, dass Kinder so lange wie möglich zu Hause betreut werden. Dort finden sich Eltern aus dem linken und alternativen Milieu, aber auch Rechte, wie die Elternratgeber-Autorin Nora Imlau warnt, die mit dafür gesorgt hatte, das Konzept der bindungsorientierten Erziehung in Deutschland populär zu machen.

Erstere wünschen sich, dass beide Eltern in den ersten drei Jahren abwechselnd von der Arbeit freigestellt werden, um sich um ihre Kleinsten zu kümmern, Letztere wünschen sich Mütter an den Herd zurück. Genau auseinanderhalten lassen sich beide Positionen auf den ersten Blick oft schwer.
Grund genug jedenfalls, die Thesen derer, die sich gegen Fremdbetreuung aussprechen, unter die Lupe zu nehmen. Die Psychologin Agathe Israel, die jüngst vom Tagesspiegel interviewt wurde, betont die Verantwortung von Müttern ebenso wie Vätern. Sie engagiert sich beim Verband Familienarbeit, der aus der Deutschen Hausfrauengewerkschaft hervorgegangen ist, die sich ab 1979 für die Gleichstellung von Erwerbs- und Hausarbeit einsetzte.

Auf dessen Website finden sich etliche Quellenverweise, die ihre Warnung wissenschaftlich untermauern sollen. Die meisten argumentieren mit der Hirnforschung und einem erhöhten Cortisolspiegel – sprich einem erhöhten Stresslevel – bei Kita-Kindern im Vergleich zu den zu Hause betreuten.

Allerdings wird mittlerweile stark angezweifelt, dass sich die der Erkenntnisse der Hirnforschung umstandslos auf die Psychologie übertragen lassen. Von der neuronalen Aktivität einer Gehirnregion eines Kleinkinds beim Zusammentreffen mit seiner Mutter psychologisch auf eine Neigung zur Depression im Teenager-Alter zu schließen, wie es Texte auf der Website machen, ist schlicht Hokuspokus.

Studienlage ist komplex

Auch Hormonmessungen sind allenfalls ein Indiz. Cortisol ist ein Stresshormon, ein hoher Wert ist aber nicht automatisch auf negativen Stress zurückzuführen. Der Cortisolspiegel steigt auch bei Aktivität, Sport und Spannung. Dass ein Tag in der Kita deutlich spannender ist, als daheim bei Mutti zu spielen, ist keine erstaunliche Erkenntnis. Dass der Cortisolspiegel noch längere Zeit danach erhöht bleibt, gilt als schlechtes Zeichen, weil auch unsicher gebundene Kinder, also solche, deren Mütter sie ablehnen oder misshandeln, einen dauerhaft erhöhten Cortisolspiegel haben. Dass aber der gemessene Stress bei den Kita-Kindern negativ ist oder negative Auswirkungen hat, ist nicht belegt.

Vielfach wird behauptet, die meisten verhaltenspsychologischen Langzeitstudien wiesen eine negative Wirkung des frühen Kita-Besuchs nach. Das stimmt aber nicht: Die Psychologieprofessorin Yvonne Anders hat einen Überblick über den Forschungsstand zusammengestellt und dabei mehr Studien gefunden, die positive Effekte feststellen – auf Schulerfolg, Gedächtnisleistung, Körperkoordinierung, Sozialverhalten oder die Einstellung der Eltern zu ihrem Kind. Darunter sind so erstaunliche Berechnungen wie die von Fritschi und Oesch, denen zufolge bei Kindern, die vor dem dritten Lebensjahr in die Kita kommen, die Wahrscheinlichkeit, später ein Gymnasium zu besuchen, von 36 Prozent auf 50 Prozent steigt.

Aber es gibt eben auch die Studien, die das Gegenteil feststellen. Am häufigsten wird die Studie des US-amerikanischen National Institute of Child Health and Human Development (NICHD) zitiert. Dafür wurden 13 Jahre lang über 1.000 US-amerikanische Kinder begleitet. Früh fremdbetreute Kinder entwickelten sich sozioemotional schlechter, vor allem bei schlechter Qualität der Betreuung. Bei der sprachlichen Entwicklung waren hingegen die Kinder, die zu Hause betreut wurden, langsamer. Die Kinder, die früh in Einrichtungen betreut wurden, hatten später mehr Konflikte mit ihren Müttern und die Mütter zeigten weniger Sensibilität für ihre Kinder. Allerdings galt das nur bei weißen Müttern, schwarze Mütter reagierten genau umgekehrt.

Den höchsten Anteil der Kinder, die unter drei Jahren eine Kita besuchen, gibt es in der EU in Dänemark, den Niederlanden, Norwegen und Island. So richtig schädlich kann das also nicht sein, wenn dabei hinterher Erwachsene herauskommen, die statistisch zu den gebildetsten, wohlhabendsten, gesündesten und glücklichsten der Welt gehören.

Insgesamt fragt man sich bei der Menge an Daten, wo genau die Zusammenhänge liegen, auch da generell gilt: Eine statistische Korrelation belegt noch keine Kausalität. Kulturelle Faktoren scheinen eine große Rolle zu spielen – wahrscheinlich auch schlicht die Frage, wer seine Kinder warum in eine Kita gibt. Die Psychologin Carmen Eschner, die für die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung zur Änderung der Erziehungsstile forschte und selbst eine lange Betreuung zu Hause befürwortet, antwortet auf Anfrage der Jungle World: »Familien- und Kindfaktoren beeinflussen die Forschungsergebnisse zur Fremdbetreuung. Schon allein aus diesem Grund kann man keine klare Aussage zum Pro und Contra von Fremdbetreuung treffen.« Die Korrelationen seien allgemein schwach bis moderat ausgeprägt. »Die Qualität der mütterlichen Betreuung erwies sich als stärkster Prädiktor für kognitive und soziale Kompetenzen.«

Das zeigt anschaulich eine Geschwisterstudie, die über 9.000 US-amerikanische Kinder verglich. Die Autorin Sara Jaffee und Kollegen fanden heraus, dass sich früh fremdbetreute Kinder besser entwickeln. Doch in Familien, in denen ein Kind fremdbetreut wurde und ein anderes zu Hause, gab es keine Entwicklungsunterschiede.

Eine eindeutige Antwort ergibt jedoch eine gesamtgesellschaftliche Betrachtung. Den höchsten Anteil der Kinder, die unter drei Jahren eine Kita besuchen, gibt es in der EU in Dänemark, den Niederlanden, Norwegen und Island. So richtig schädlich kann das also nicht sein, wenn dabei hinterher Erwachsene herauskommen, die statistisch zu den gebildetsten, wohlhabendsten, gesündesten und dem UN-Glücksindex zufolge sogar zu den glücklichsten der Welt gehören.