Das Modell der Arbeitszeitrechnung ermöglicht kollektive Planung der Produktion

Den Wert aus der Welt schaffen

Das von der Gruppe Internationaler Kommunisten entwickelte Modell einer Arbeitszeitrechnung ermöglicht eine kollektive Planung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Voraussetzung dafür wäre das Gemein­eigentum an den Produktionsmitteln.

Wie kann die gesellschaftliche Produktion abseits von Lohnarbeit und Märkten organisiert werden? Felix Klopotek stellte das Konzept der Arbeitszeitrechnung der Gruppe Internationaler Kommunisten vor (Jungle World 23/2023).


Endlich wird vermehrt über wirtschaftliche Planung debattiert. Worüber auch sonst? Die derzeitigen Krisen machen es offensichtlich, dass der Glaube, der Markt regele alles, eine Illusion ist. Allein schon die Klimakrise zeigt deutlich die Notwendigkeit von Planung: Wie viele Solarflächen, Windräder und Wärmepumpen sind nötig, um die Klimaziele zu erreichen? Wie viele Gebäude müssen saniert werden? Und wie könnte ein solches Sofortprogramm sowohl politisch durchgesetzt als auch in der erforderlichen Geschwindigkeit verwirklicht werden? Um Planung führt hier kein Weg mehr vorbei.

Verglichen mit der Produktion auf Basis von Vermutungen über Marktentwicklungen dürfte angesichts dieser Probleme fast jegliche Form von gesamtgesellschaftlicher Planung einen Schritt in die richtige Richtung darstellen. Trotzdem ist Planung nicht gleich Planung. Schon das Wort Planwirtschaft hat keinen linken Ursprung. Vielmehr stammt es aus der deutschen Kriegswirtschaft im Ersten Weltkrieg und meinte eine staatliche Ergänzung zum Markt. Bolschewiki wie Sozialdemokratie waren begeistert von derlei Vorstellungen und ihre Theorien drehten sich logischerweise um politische Herrschaft und die Staatsmacht. Der Ausgang ist bekannt. Wenn heutzutage der schwedische Humanökologe Andreas Malm zur Bekämpfung des ­Klimawandels einen Kriegskommunismus des 21. Jahrhunderts fordert und die Journalistin ­Ulrike Herrmann von der britischen Kriegswirtschaft im Zweiten Weltkrieg schwärmt, sollte man skeptisch bleiben.

Dass Felix Klopotek in diesem Zusammenhang die Gruppe Internationaler Kommunisten (GIK) und das Konzept der ­Arbeitszeitrechnung (AZR) zur Diskussion stellt, ist famos. Die GIK hat eines der wenigen Modelle entworfen, die sich anknüpfend an Marx mit der Frage auseinandersetzten, auf welchen Rechengrößen eine herrschaftsbefreite Ökonomie fußen könnte.

Natürlich ist bei der Frage von Herrschaft auch die politische Konstitution entscheidend. Der »Verein freier Menschen« muss sich als Assoziation zusammenschließen, nicht als Staat. Diese Vorstellung sagt aber noch wenig darüber aus, auf welcher Grundlage die assoziierten Produzent:innen die Arbeit regeln könnten.

»Für die bürgerliche Gesellschaft ist aber die Warenform des Arbeitsprodukts oder die Wertform der Ware die ökonomische Zellenform«, schreibt Karl Marx. Eine Theorie postkapitalistischer Produktion müsste der Frage nachgehen, wie eine komplexe, hochentwickelte Gesellschaft jenseits dieser »Zellenform« ihren Produktions- und Reproduktionsprozess organisieren könnte. Fragen nach alternativen Recheneinheiten und Maßstäben für die Organisation des Austauschs von Gütern drängen sich dabei auf, wenn nicht wie bisher Markt und Geld Produktion und Konsum regeln sollen. Dabei springt die Arbeitszeit ins Auge.

Zu Recht hat Marx den »Doppelcharakter der Arbeit« als den »Springpunkt« bezeichnet, um den sich »das Verständnis der politischen Ökonomie dreht«. Die Arbeit hat unter kapitalistischen Verhältnissen nämlich nicht nur die Eigenschaft, Gebrauchsgegenstände zu erzeugen, sie repräsentiert gleichzeitig menschliche Arbeit an sich, ihre allgemeine – letztlich gesellschaft­liche – Seite. Diese in den Arbeitsprodukten vergegenständlichte abstrakte Arbeitszeit bildet die Substanz des Werts der Produkte, die damit zu Waren werden. Und in dieser Wertform ist letztlich das ganze Elend der Gegenwart ­angelegt: Überproduktion, Krise, soziale Krisen und der Zwang zur Akkumulation und damit zu unendlichem Wachstum. Der Wert als gesellschaftliches Verhältnis ist Ausdruck der Tatsache, dass die Menschen in einer arbeitsteiligen Gesellschaft unterschiedlichen Privatarbeiten nachgehen, deren Erzeugnisse sie auf dem Markt austauschen müssen.

Da niemand vor Beginn des Arbeitsprozesses weiß, ob es eine zahlungskräftige Nachfrage nach dem Produkt geben wird, können die Arbeitszeiten nicht unvermittelt ins Verhältnis gesetzt werden. Das geschieht – allerdings unbewusst und hinter dem Rücken der Produzierenden – erst über den Umweg von Markt und Geld. Es wäre ein Ding der Unmöglichkeit, unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen das Geld durch ein Arbeitsgeld zu ersetzen, dessen Wert direkt aus der aufgewendeten Arbeitszeit abgeleitet ist. Auch dies hat bereits Marx in seinen »Grundrissen« dargelegt.

Was aber, wenn diese Verhältnisse zuvor umgewälzt worden wären und wir ein Gemeineigentum der Produktionsmittel voraussetzen? Wenn die verschiedenen Arbeiten nicht vermittelt über Markt und Geld in Beziehung ­gesetzt würden, sondern durch den unmittelbaren Maßstab der geleisteten Arbeitszeit? Die durchschnittliche Arbeitszeit, die die Gesellschaft benötigt, um ihre Produkte herzustellen, wäre die Grundlage zur Bewertung des Aufwands: die gesellschaftlich allgemeine Arbeitsstunde. Die Gesellschaft würde sich Gremien geben müssen, in denen sie aushandelt, was als gesamtgesellschaftliche Arbeit gewertet wird, wie die Intensität der Arbeitsstunde definiert wird oder wie die Formen der dazu notwendigen Selbstkontrolle aussehen sollen.

In der kapitalistischen Kostenrechnung finden wir auf Betriebsebene die Planung mit Arbeitszeit bereits angelegt, nur dass sie nicht öffentlich einsehbar ist.

In den »Grundrissen« merkt Marx durchaus wohlwollend an, dass man es unter diesen Voraussetzungen nur noch mit einem board (Gremium) zu tun hätte, »was für die gemeinsam ­arbeitende Gesellschaft Buch und Rechnung führte«. Auch wenn die GIK die erst später veröffentlichten »Grundrisse« noch nicht kennen konnte, setzen ihre Gedanken genau dort an: Die Produzierenden eignen sich die Produktionsmittel an und planen kollektiv ihren Arbeitsprozess. Die »Zellform« der neuen Gesellschaft – Klopotek spricht zu Recht von der allen einsichtigen und verständlichen gesellschaftlichen Steuerungsgröße – wäre die gesellschaftlich allgemeine Arbeitsstunde.

In der kapitalistischen Kostenrechnung findet sich auf Betriebsebene diese Planung mit Arbeitszeit bereits ­angelegt, nur dass sie heutzutage nicht öffentlich einsehbar ist. Von jedem ­serienmäßigen Produkt wissen die Betriebsleitungen genau, wie viel Arbeitszeit zu seiner Herstellung notwendig ist. Und selbst kleinste Handwerksbetriebe berechnen, wie viel Arbeitszeit ein Auftrag sie wohl kosten würde. Dieses Prinzip gilt es, auf eine gesellschaftliche Ebene zu heben. Statt (Geld-)­Preisen weist der Betrieb den Arbeitsaufwand aus. Wenn dies alle Betriebe tun, sind auch die Aufwände aller Vorprodukte bekannt, ebenso wie bei jedem Endprodukt und jeder Dienstleistung. Die Arbeitszeitrechnung wäre dann ein gesamtgesellschaftlich anerkanntes, von allen handhabbares System kommunizierender Kennzahlen. Kalkulation mit der Arbeitszeit ist kein aus der Luft gegriffenes Wunschbild – die kapitalistischen Formen, in denen sie bereits heute stattfindet, sind es, die gesprengt werden müssten. Das Ergebnis wäre eine planvolle Produktion ohne Wert und Geld, an deren Ende nicht die Ware steht, sondern das Produkt.

Dass die GIK mit ihrem Text keine Bauanleitung liefert, deren einzelne Schritte bloß zu befolgen wären, ist klar. Nicht umsonst nannte sie ihre Schrift »Grundprinzipien«. Aber gerade die Tatsache, dass offen bleibt, wie die ­Planung gestaltet werden könnte, macht den Reiz aus. Eine Arbeitszeitrechnung würde etwa die ganze Bandbreite von zentralen und dezentralen Planungsvarianten umfassen. Beider Planungsmomente wird es bedürfen. Es macht einen großen Unterschied, ob man über das europaweit gekoppelte Energiesystem und planetare Kipppunkte redet oder über die Anzahl der ­Sesambrötchen in der Bäckerei um die Ecke. Und auch die Frage der Vergütung könnte durchaus offen gestaltet werden.

Da die Menschen zunächst einmal so sind, wie der Kapitalismus sie über Jahrhunderte geformt hat, wird man um gewisse Formen der Vergütung nach Leistung – zumindest fürs Erste – kaum herumkommen. Mit einer Arbeitszeitrechnung wäre das kein Problem, da die Vergütung der geleisteten Arbeitszeit entspricht. Es wäre ein transparenter Äquivalententausch – alle würden an Produkten der Gesellschaft teilhaben, entsprechend dem Umfang, in dem sie zu ihrer Herstellung in Form von Arbeitszeit beigetragen haben. Es geht hier aber nicht um den »unverkürzten Arbeitsertrag« der Sozialdemokratie des 19. Jahrhunderts. Natürlich bedarf es über dieses System des individuellen Konsums hinaus gesellschaftlicher Fonds für die Versorgung von Kindern, Alten und Kranken ebenso wie für künftige Produktionsumbauten und -erweiterungen.

Diesen Gedanken könnte man ins Zentrum rücken, um das Leistungsprinzip schrittweise zu überwinden. Warum nicht den Teil des Konsums, der über gesellschaftliche Fonds gewährleistet werden soll, immer mehr auf die Befriedigung allgemeiner Bedürfnisse ausweiten: kostenlose öffentliche ­Mobilität, Wohnungen, Bildung und gesundheitliche Versorgung? Oder wie wäre es mit öffentlichen Kantinen, in denen alle ein Anrecht auf gesunde und gute Ernährung hätten? Das wäre auch ein Ausgangspunkt, um bereits jetzt politische Kämpfe auszulösen; für eine gesellschaftliche Infrastruktur, die das Wertverhältnis zurückdrängt und ein besseres Leben ermöglicht, das gleichzeitig öko­logisch verträglicher wäre.

Denn eines darf bei aller Konzentration auf die Arbeitszeit nicht vergessen werden: Anders als von der gescheiterten historischen Arbeiterbewegung vermutet, ist die Arbeit nicht allein »die Quelle allen Reichtums« – die Natur ist es ebenso sehr. Auf Grundlage der Verwertung des Werts ähnelt die vielbeschworene Nachhaltigkeit der Quadratur des Kreises. Eine geplante Wirtschaft auf Grundlage einer Arbeitszeitrechnung würde dagegen keine ­Akkumulationszwänge kennen. Sie böte zwar keine Garantie, aber immerhin die Möglichkeit, die Klassenspaltung der Gesellschaft zu überwinden und eine ökologische Katastrophe zu verhindern.