Der Trend bei Influencern, ihren Tagesablauf zu dokumentieren

Jeden Tag ein Ei

Im Internet boomen Videos, in denen Influencer ihre Tagesroutine präsentieren. Was fasziniert Menschen daran, anderen bei ihrem Alltag zuzuschauen? Was motiviert Internet-Stars, ihren Alltag derart auszubreiten? Und mit welchem Ablauf wird man zum Milliardär, mit welchem landet man bei der Linkspartei?

Um sechs Uhr morgens aufstehen, fünf Stunden Hegel lesen. Dann zwei Stunden Marx, Kant und Descartes. Zum Schluss ein wenig Belletristik, zur Abwechslung und für die schöngeistige Bildung. Wer in jungen Jahren ein solch diszipliniertes Lesepensum bewältigt, aus dem kann etwas werden! Ein Akademiker vielleicht, eine Publizistin, ein guter Schriftsteller, vielleicht sogar eine belesene linke Politikerin, die einen Begriff von Geschichte und Dialektik hat – das wäre ja was!

Es muss aber nicht so kommen. Genauso gut kann es einem mit dieser Routine passieren, dass man ­eines Tages im Haus von Oskar Lafontaine aufwacht und ein »Manifest für Frieden« verfasst, in dem man fordert, die mit einem Angriffskrieg überzogene Ukraine solle doch bitte Kompromisse machen, und zwar um Schaden vom »deutschen Volk« abzuwenden. Klingt gar nicht mehr so dialektisch, vielleicht nicht mal mehr links? Nun ja.

In einem Interview aus dem Jahr 2017 sinnierte Sahra Wagenknecht, die damalige Co-Vorsitzende der Bundestagsfraktion der Linkspartei, über ihren Tagesablauf als Teen­agerin. In der DDR wurde der begeisterten jungen Leserin das Studium verweigert, weil sie sich in der sogenannten vormilitärischen Ausbildung, die es in der DDR gab, nicht vorbildlich verhalten habe. Aus ­dieser Krise half sie sich mit einem strengen Tagesablauf: Zwölf bis 15 Stunden am Tag habe sie überwiegend mit Lesen verbracht, be­richtete sie.

Mit ihrer disziplinierten Routine befand sich Wagenknecht in guter Gesellschaft. Benjamin Franklins rigoroser persönlichen Stundenplan wurde berühmt, genau wie die Schlafroutine von Nikola Tesla, mit der es der Erfinder auf bis zu 22 Stunden Arbeitszeit pro Tag gebracht haben soll. Karl Marx hingegen schlief während seiner Arbeit an »Das Kapital« lang in den Tag hinein, brachte dann bis zu elf Stunden mit Lesen zu und schrieb und rauchte und brütete bis tief in die Nacht.

Die Faszination für die Tagesabläufe von Menschen, die Besonderes geleistet haben, beschränkt sich längst nicht mehr auf historische Figuren. Heutzutage gibt es neben wissenschaftlichen Studien zum Herausbilden und Ablegen von Gewohnheiten auch unzählige kurze Videos von Influencern, Life-Coaches und anderen halb- bis höchst populären Figuren, die ihrem Publikum eine zentrale Botschaft vermitteln wollen: Seht her, wie geil ich bin – das könnt ihr auch schaffen, wenn ihr so lebt wie ich!

Räum dein Zimmer auf!
Einer, der den Kult um die täglichen Routinen in jüngster Zeit erheblich vorangetrieben hat, ist der rechtslibertäre kanadische Psychologe und Selbstoptimierungsexperte Jordan Peterson. Bekannt geworden ist einer seiner revolutionären Ratschläge: »Clean up your room«, »Räum dein Zimmer auf«. Ähnliche Regeln versammelt sein 2018 veröffentlichtes und über fünf Millionen Mal verkauftes Buch mit dem poetischen Titel »12 Rules for Life: An Antidote to Chaos«. Darin formuliert er ausgehend unter anderem von, klar, Goethes »Faust« psychologische Ratschläge, die tatsächlich viele Thera­peut:innen ihren Patient:innen erteilen – allerdings meist ohne pseudointellektuellen Schaum vor dem Mund.

Wenn einem aufgrund von Krisen, äußeren oder inneren, der Sinn des Daseins zu entweichen droht, kann es helfen, sehr kleine – konstruktive – Schritte zu machen, um die eigene Selbstwirksamkeit wieder spüren zu lernen. Solche kleinen Schritte zur Routine und später zur Gewohnheit zu erheben, kann Menschen im erheblichen Maße helfen – vor ­allem wenn sie regelmäßig das Gefühl haben, vor einem nicht zu bewältigenden Berg an Arbeit und Verbindlichkeiten zu stehen.

Jordan Peterson weiß um die Macht der Routinen und vermarktet sie – vor allem an frustrierte junge Männer – als psychologisches Werkzeug für mehr Selbstbewusstsein.

Peterson weiß um die Macht der Routinen und vermarktet sie – vor allem an frustrierte junge Männer – als psychologisches Werkzeug für mehr Selbstbewusstsein. Das kommt gut an. In den vergangenen Jahren sind Videos über Tagesabläufe enorm populär geworden. Youtuberinnen, Tiktoker und Instagrammer stellen – je nach Popularität – entweder ihre eigenen Tagesabläufe vor, oder sie probieren die von anderen aus und präsentieren ihr Fazit.

Jordan Petersons Tagesablauf (früh aufstehen, bis zu 14 Stunden arbeiten, viel lesen) ist dabei ebenso gefragt wie der von erfolgreichen Geschäftsmenschen, zum Beispiel Warren Buffet (früh aufstehen, viel arbeiten, viel lesen und Cola trinken), Elon Musk (früh aufstehen, bis zu 14 Stunden arbeiten) oder Steve Jobs (früh aufstehen, zehn bis 13 Stunden arbeiten). Wird man so also zum Börsenguru, zum visionären Investor? Oder unterscheiden sich diese Tagesabläufe gar nicht so sehr von dem eines Fabrikarbeiters im 19. Jahrhundert – bis auf, vielleicht, ein klitzekleines Detail?

Arbeit als Freizeit
Um zu verstehen, worin dieses Detail bestehen könnte, lohnt sich ein genauerer Blick auf die Szene der Tagesroutinen-Influencer. Denn es sind nicht nur prominente Menschen, die ihre Tagesabläufe teilen und Tipps zum Nachmachen geben. Einige der erfolgreichsten Routine-­Videos kommen ganz ohne Goethe, ohne Psychologie, zum Teil sogar gänzlich ohne irgendeinen Gedanken aus. Eines der auf Youtube beliebtesten Routinen-Videos stammt von der slowenischen-norwegischen Beauty-Influencerin Sara Marie ­Lawler; derzeit verzeichnet es fast 60 Millionen Aufrufe. Zu Lawlers ­offenbar hochinteressanter Beauty-Morgenroutine gehört es demnach unter anderem, fröhlich in die Hände zu klatschen, während sich eine Handvoll zufällig ausgewählter Früchte aus ihrem Kühlschrank im Mi­xer in eine purpurrote Suppe verwandelt.

Jeden Morgen, so erzählt die Influencerin, verbringe sie zudem Zeit damit, mehrere frische Speisen und Snacks zuzubereiten, Strohhalme und Verpackungen zu dekorieren, ihr eigenes Haarspray herzustellen, ein aufwendiges Muster auf ihre Nägel zu lackieren und alles mögliche mit Herzchen zu bekleben. Am Ende des Videos – es handelt sich wohlgemerkt immer noch um eine Morgenroutine – sei sie »bereit, die Welt zu ­erobern«. Gemeint ist ihre Arbeit, die wiederum aus dem Vorbereiten und Drehen von Videos wie diesem besteht.

Das vielbeschworene gesunde Verhältnis von Arbeit und Freizeit – die ­sogenannte Work-Life-Balance, die geschulten Marxisten schon immer wie Augenwischerei vorkommen musste – hebt sich hier komplett auf. Die Arbeit selbst wird als Freizeitgestaltung maskiert und letztlich verkauft– sie ist die Ware. Lawlers Video stammt aus dem Jahr 2015. Nur ein Jahr später legte sie noch einmal ein Video über ihre Morgenroutine nach – und erreichte über 20 Millionen Aufrufe mehr. Zur Einordnung: Bei entsprechender Monetarisierung lässt sich auf Youtube mit 80 Millionen Aufrufen ein guter sechsstelliger Betrag verdienen.

Fit für den Job
Bei der Aussicht auf solche Einnahmen ist es kein Wunder, dass viele das Format als Goldmine betrachten und es in alle möglichen Richtungen ausschlachten. Dabei werden oft die banalsten Geschlechterstereotype bedient: Während Frauen sich in der Mehrheit der Videos mit Schönheit, Schminke und allgemeinem Wohlbefinden auseinandersetzen, berichten Männer häufiger über körperliche Fitness und ihre Trainingsroutine. Andere nutzen ihre Adoniskörper vor allem dafür, stundenlang vor Bildschirmen zu sitzen und zu hoffen, dass der Kurs von Aktien oder Kryptowährungen am entsprechenden Tag gnädig zu ihnen sein werde, wenn sie es schon nicht zu sich selbst sein können.

Prinzipiell sind diese Videos nichts anderes als Lebensratgeber, sie unterscheiden sich von einer gewöhnlichen Ausgabe des Magazins Fit for Fun aus den neunziger Jahren nur im Format. All die Smoothies, all die Sit-ups, jede Gesichtscreme und jedes Bartöl folgen einem damals wie heute ­gepredigten Zweck: Sie sind Teil der Vor- oder Nachbereitung eines Arbeitstags, sollen ein Gegengewicht zur von der Erwerbsarbeit aufgefressenen Lebenszeit schaffen, indem man die Überreste davon gezielt für sich selbst aufwendet (»Self-Care«), um wiederum entspannt oder fit genug für mehr Arbeit zu sein.

Nur bleibt diese Arbeit selbst oft ein großes Geheimnis in den Videos der Life-Coaches und Influencerinnen. Was genau Sara Marie Lawler damit meint, wenn sie verkündet, bereit für die Eroberung der Welt zu sein, erfährt man nie. Natürlich nicht: Kein Lohnarbeiter der Welt hat genug Zeit, sich den eigenen Lippenstift anzurühren, bevor er zur Arbeit geht. Streng genommen hat auch Lawler diese Zeit nicht, aber sie verkauft es so, als sei das Drehen ­ihrer Videos gar keine Arbeit.

In dieser Verschleierung steckt das Verbrechen. Selbstdisziplin kann ein Motor für viel Gutes sein, wie manches enorme Lesepensum einiger der hellsten Köpfe der Menschheitsgeschichte beweist. Nur: Genau wie es nicht egal ist, was man liest, bringt nicht jede rigorose Disziplin automatisch den Erfolg. In vielen Fällen können sich die Prediger der Selbstzurichtung einen ausgedehnten Morgenspaziergang, ein umfangreiches Fitness-Frühstück oder selbst das allabendliche Tagebuchschreiben nur deswegen leisten, weil sie genug Geld haben, um Haushalt, Kindererziehung oder andere Aufgaben des täglichen Lebens an andere auszulagern.

Hart erkämpfte Zeit
Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt analysieren in ihrem 2021 erschienenen Buch »Influencer« richtig, dass die meisten Content-Produzenten sowohl ausgebeutet werden (von ihren Werbepartnern, die sich den Mehrwert der Arbeit ­aneignen) als auch andere ausbeuten (indem sie Tätigkeiten auslagern oder »ihr Geld für sich arbeiten lassen«). So weit, so neoliberal. Gerade das Alltägliche, das Banale zur Besonderheit zu erheben und alles andere auszuklammern und wegzulassen, ist jedoch die eigentliche Gehirnwäsche.

Anders gesagt: Wenn Warren Buffet wie 2019 in der Financial Times davon spricht, dass er im Leben »mehr Spaß hat als jeder andere 88jährige auf der Welt«, dann liegt das sicherlich nicht daran, dass er nach eigenen Angaben jeden Tag Cola trinkt und viel liest, sondern eher daran, dass er als einzelner Mensch halb so viel Geld besitzt, wie sein bevorzugter Limonadenhersteller mit mehr als 80.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ­weltweit wert ist, und daher jeden alltäglichen Schritt in seinem Leben gehen kann, ohne übers Geld nachzudenken.

Während Frauen sich in der Mehrheit der Videos mit Schönheit, Schminke und allgemeinem Wohlbefinden auseinandersetzen, berichten Männer häufiger über körperliche Fitness und ihre Trainingsroutine.

Ist das Konto hingegen nicht gut gefüllt, beginnt der Tag statt mit ­einem Smoothie und Self-Care eher mit Stress – und im allabendlich ­geschriebenem Tagebucheintrag stehen keine »inspirierenden Gedanken«, sondern vermutlich existentielle Sorgen. Zeit für körperliche Ertüchtigung, Entspannung und Hobbys finden die meisten Menschen zwar auch irgendwie in der 40-Stunden-Woche, aber diese Zeit ist in der Regel hart erkämpft und fehlt dann immer für etwas anderes.

Hinter dem zur Schau gestellten »normalen« Leben, das in den Kurzvideos meist gestellt, verkünstelt und verschönert und deswegen durch den schönen Schein der Routine ­geradezu verschleiert wird, verbirgt sich am langen Ende – wer hätte es geahnt – ein ebenso verschleiertes Ausbeutungsverhältnis. Wer behauptet, 14 Stunden am Tag zu »arbeiten«, darunter dann aber mehrstündiges Lesen für die Persönlichkeitsentwicklung subsumiert, der arbeitet nicht so wie die meisten anderen.

Das starke Bedürfnis, einen außerordentlichen Alltag als ganz gewöhnlich, ganz nahbar darzustellen, ist eine Bewältigungsstrategie: Offenbar ist es selbst manchem Influencer schrecklich unangenehm, dass er nicht wie alle anderen für sein Geld malochen muss, sondern sich den ganzen Tag um seinen Körper kümmern kann – und muss, denn dieser ist die Quelle seines oder des Erfolgs.

Aber: Ob Beauty-Influencer oder nicht, das eigentlich Erschreckende an diesem Phänomen ist, was es normalisiert. Um fünf Uhr morgens aufstehen, 14 Stunden arbeiten, dazu ein streng rationierter Ernährungsplan – wenn man nicht mehr sagen kann, ob das ein Tag im Büro oder im Gefängnis ist, dann muss es die Gegenwart sein.