10.08.2023
Die Arbeitszeitrechnung wäre in der Praxis äußerst kompliziert

Komplizierte Rechenschritte

Die Idee der Arbeitszeitrechnung ist gut. In der praktischen Umsetzung ist die Errechnung der Arbeitszeit und ihre Umrechnung in Konsumzertifikate jedoch komplizierter, als es auf den ersten Blick erscheinen mag.

Wie kann die gesellschaftliche Produktion abseits von Lohnarbeit und Märkten organisiert werden? Felix Klopotek stellte das Konzept der Arbeitszeitrechnung der Gruppe Internationaler Kommunisten vor (23/2023). Philip Broistedt und Christian Hofmann argumentierten, dass dieses Modell eine kollektive Planung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung ermöglichen würde (24/2023). Julian Bierwirth kritisierte, dass damit die Widersprüche und Zwänge der Warenproduktion nicht überwunden würden (25/2023). Simon Sutterlütti argumentierte, dass eine Entlohnung mittels Arbeitszeitrechnung nur eine ­weniger autoritäre Form des realsozialistischen Staats­kapitalismus darstellen würde (27/2023). Jonna Klick schrieb über die Rolle von Arbeitszeitmessung in einer kommunistischen Gesellschaft (28/2023). Hermann Lueer verteidigte den Anspruch, mit der Arbeitszeitrechnung werde die ­kapitalistische Produktionsweise überwunden (30/2023). Die Initiative Demokratische Arbeitszeitrechnung (31/2023) meinte, das Konzept sei auch ohne Revolution bereits im Alltag umsetzbar.

*

Die Natur ist kein Paradies. Um darin zu überleben und Freiheiten zu erringen, ist der Mensch gezwungen zu arbeiten. Diesen Zwang zur Arbeit wird es immer geben, auch im Kommunismus. Er könne aber, so Karl Marx, rationeller bewältigt werden. Die Gruppe Internationaler Kommunisten (GIK) entwarf vor fast 100 Jahren ein Konzept, das diesem Zweck dienen sollte: Arbeitszeitrechnung, Buchführung, Planung sowie sogenannte Arbeitsscheine, die jedem Individuum ein seiner Arbeitszeit entsprechendes Anrecht auf Konsumgüter zertifizieren.

Julian Bierwirth dagegen möchte gleich die komplette Befreiung von Arbeit und Kostenrechnung. Er wünscht sich Kommunismus nach Art eines pränatalen oder paradiesischen Zustands. Daraus wird leider nichts: Mindestens die lebensnotwendigen Bedürfnisse werden weiterhin zur Arbeit antreiben, auch in einer kommunistischen Gesellschaft. Eine Umbenennung der Arbeit in Tätigkeit schafft hier keine Abhilfe. Simon Sutterlütti (27/2023) argumentiert, die Arbeitszeitrechnung via Buchführung schaffe nicht den Tauschwert ab. Dabei wirft er, wie Hermann Lueer schon eingewandt hat (30/2023), Arbeitszeit und Wert durcheinander.

Richtig ist: Im Kapitalismus bildet die Verausgabung von Arbeitskraft die Substanz des Werts und die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit manifestiert sich in der Wertgröße. Aber das heißt nicht, dass die Verausgabung von Arbeitskraft und die Arbeitszeit kapitalistische Bestimmungen sind. Spezifisch kapitalistisch sind vielmehr die Eigentumsverhältnisse, aufgrund derer die gesellschaftliche Arbeit atomisiert geleistet wird, sowie die verrückten Formen, in denen die Bestimmungen der gesellschaftlichen Arbeit dann nachträglich und verkappt in Erscheinung treten: Warenwert, Geld, Kapital. In diesen Formen entziehen sich die Bestimmungen der Arbeit dem Bewusstsein der Menschen und haben sich verselbständigt. Der Kommunismus Marx’scher Prägung beruhte auf der Idee, durch eine Revolution der Eigentumsverhältnisse diese Formen zu beseitigen und die die Verausgabung der Arbeitskraft und die Arbeitszeit stattdessen in bewusster Form zu organisieren.

Ein solches Vorhaben muss nicht mit der Verherrlichung von Arbeit einhergehen, wie Bierwirth der GIK attestiert. Vielmehr kann eine Ökonomie nach dem Entwurf der GIK gewährleisten, mit möglichst wenig Aufwand auf die Befriedigung der Bedürfnisse aller hinzuarbeiten. Ganz im Sinne des Slogans, wonach im Kommunismus nicht die Profite, sondern die Bedürfnisse im Zentrum der Produktion stehen. Dazu müssen diese ermittelt oder abgeschätzt werden, und die Gesellschaft muss realistisch bemessen, was zu leisten sie imstande ist, sowohl quantitativ als auch qualitativ, und wie viel Arbeitszeit die Produktion der verschiedenen Güter kostet.

Dabei lassen sich eine konkrete und eine abstrakte Seite der Planung unterscheiden. Auf der einen Seite muss konkret festgestellt und organisiert werden, welche Produkte hergestellt und welche Arbeiten dafür ausgeführt werden müssen. Dabei geht es um Rohstoffe, um die Gewichtung von Sektoren, um Interaktionen zwischen Betrieben, um Reproduktion und erweiterte Reproduktion der Produktion, um kurzfristige Produktionskampagnen oder langfristige Projekte, um Gesundheitsschutz in der Produktion, um Qualitätskontrolle der Güter, um Verbraucherschutz und letztlich um die Bedürfnisse der Gesellschaft. Diese konkrete Planung wäre im Kommunismus nur in dem Sinne neu, dass sie sich nicht mehr mit dem Akkumulationstrieb des Kapitals arrangieren müsste. An sich gibt es sie schon. In diesen Bereich der Planung fällt auch der Umwelt- und Klimaschutz, den Bierwirth und Klick zurecht einfordern, aber der Planung von Arbeitszeit nebenordnen wollen.

Diese Planung der Arbeitszeit hätte zum Inhalt, was übrigbleibt, wenn man vom Konkreten abstrahiert. Und das ist das, was sich im Kapitalismus in Wert und Geld ausdrückt und auch im Kommunismus die Einheit aller Produktion bleiben wird: Verausgabung von Arbeitskraft. Diese Seite der Planung wäre ein historisches Novum. Neuer noch, als einige Verteidiger (Klopotek, Broistedt und Hofman) glauben, wenn sie behaupten, auf betrieblicher Ebene gebe es Arbeitszeitrechnung schon. Denn der Markt macht den entscheidenden und gewaltigen Rechenschritt, indem er die Verausgabung von Arbeitskraft in Geld ausdrückt, und folglich zum Beispiel die Preise der Produktionsmittel vorgibt, die dann in der innerbetrieblichen Kostenrechnung veranschlagt werden. Im Kommunismus müsste dieser Rechenschritt bewusst erfolgen.

»Die Gesellschaft kann einfach berechnen, wie viele Arbeitsstunden in einer Dampfmaschine, der letzten Ernte, in hundert Quadratmeter Tuch von bestimmter Qualität stecken.« Friedrich Engels

Er ist aber nicht so einfach, wie Friedrich Engels in seinem »Anti-Dühring« behauptet: »Die Gesellschaft kann einfach berechnen, wie viele Arbeitsstunden in einer Dampfmaschine, einem Hektoliter Weizen der letzten Ernte, in hundert Quadratmeter Tuch von bestimmter Qualität stecken.« Es tun sich diesbezüglich gleich mehrere Probleme auf. Erstes Problem: Wie viele Arbeitsstunden stecken in einem Quadratmeter Tuch, wenn es in einem Betrieb eher langsam, im anderen eher schnell und im dritten von Robotern gewoben wird? Zweites Problem: Wie viele Arbeitsstunden stecken in jenem Hektoliter Weizen, der vergammelt, weil er zu viel produziert wurde? Stecken darin null gesellschaftliche notwendige Arbeitsstunden, weil sich die Arbeit am Ende als gar nicht notwendig erwiesen hat? Oder steckt darin eine bestimmte Anzahl Arbeitsstunden, weil dafür tatsächlich gearbeitet wurde und die Arbeitskräfte dafür Arbeitsscheine bekommen haben?

Drittes Problem: Wie macht sich die Qualifikation der Arbeitskräfte in den Gütern geltend? Nehmen wir die Dampfmaschine: Diese wurde von Arbeitskräften gebaut, die von Lehrkräften ausgebildet wurden. Wie und wo drückt sich die Verausgabung der Arbeitskraft der Lehrkräfte aus? Viertes Problem, sofern dann die Dampfmaschine im Einsatz ist, zum Beispiel in einer Tuchfabrik: In welchen Anteilen übertragen sich die in ihr aufgehäuften Arbeitsstunden im Laufe ihres mehrjährigen Einsatzes auf die vielen Tausend Quadratmeter Tuch, die mit ihrer Hilfe produziert werden? Fünftes Problem: Was ist mit langfristigen Investitionen, zum Beispiel in den Jahre dauernden Bau von Staudämmen? Wie und in welchen Endprodukten macht die sich geltend?

All diese Probleme betreffen die Produktionsplanung, aber auch die Konsumtion. Schlussendlich muss die Menge der Arbeitsscheine auch der Menge an Gütern in den Konsumgüterdepots entsprechen. Es würde keinen Sinn ergeben, beziehungsweise zu leeren Regalen und unbefriedigten Bedürfnissen führen, wenn mehr Anrechtsscheine auf Konsumgüter als Konsumgüter existierten.

Die GIK versuchte, all diese Probleme zu berücksichtigen. Trotzdem scheint das Unterfangen ungeheuer schwierig. Dabei müssen allerdings zwei Fragen auseinandergehalten werden. Die erste Frage lautet, ob Arbeitszeitrechnung gut wäre. Die zweite Frage lautet, ob sie funktionieren kann. Der österreichisch-tschechische Marxist Karl Kautsky hielt sie für ein Ding der Unmöglichkeit: Genauso gut könne Wasser mit einem Sieb gemessen werden. Der Geldmechanismus, so war seine Schlussfolgerung 1922 in »Die proletarische Revolution und ihr Programm«, müsse auch im Sozialismus beibehalten werden. Dieser Mechanismus könne verändert, aber nicht abgeschafft werden. So ähnlich kam es dann im Realsozialismus.

Sutterlütti meint, die Arbeitszeitrechnung liefe im Grunde auf eine realsozialistische Planwirtschaft hinaus. Tatsache aber ist: Arbeitszeitrechnung fand im Realsozialismus nie und nirgends statt. Zwar existierte Wirtschaftsrechnung, auch gesamtgesellschaftliche. Aber diese basierte auf Geld, das noch dazu zirkulierte, und nirgends im Sozialismus gab es Beamte, die bewusst die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit kalkulierten.

Anfangs wollte man im Realsozialismus noch auf eine geldlose Wirtschaft hinaus. Auch Stalin sprach von ihr. Aber man erreichte sie nicht. Erst versuchte man, sich die Fortexistenz von Geld und Waren mit der unzureichenden Umwälzung der Eigentumsverhältnisse zu erklären. Später, als die Vergesellschaftung als Verstaatlichung brachial durchgesetzt worden war, vermutet man, es liege an der unzureichenden Planung und Synthese der Gesamtwirtschaft. Erst ab Ende der fünfziger Jahre begann man sich in Politik und Wirtschaftswissenschaft der realsozialistischen Staaten langsam mit der Geld- und Warenwirtschaft abzufinden.

Che Guevara wollte sich damit nicht abfinden und hielt die Überwindung des Egoismus für den springenden Punkt beim Aufbau des Kommunismus. Solange der Egoismus die Seelen noch vergiftete, arbeiteten die Menschen für Lohn und die Betriebe für Profit, folglich bestünden Kategorien wie Geld und Ware fort. Anstelle des Egoismus müsse der Gemeinsinn aller Gesellschaftsmitglieder treten. Er hoffte auf eine große Bewusstseinsänderung und den Neuen Menschen, den selbstlosen, sozialistischen Menschen, der freiwillig Opfer bringe. Eine ähnliche Vorstellung vom Kommunismus klingt bei Sutterlütti und Klick an. Bei ihnen heißt der Gemeinsinn Solidarität. Klick rückt zudem den Eigennutz in ein schlechtes Licht und hofft auf eine »neue kommunistische Subjektivierung«.

Aus Guevaras Idee wurde glücklicherweise nichts, zum Glück auch für den Eigennutz. Der hat bestimmt auch dunkle Seiten, aber er gehört auch zu den Triebkräften der Individuation und trägt zum Widerstand gegen Ausbeutung und Vergemeinschaftung bei. Marx und die GIK schrecken von seiner brüsken Überwindung zu Recht zurück: Im Tausch von Arbeit gegen Konsumgüter bekäme er vorerst eine geregelte Form.