Gesunde Ernährung können sich viele Menschen in Deutschland nicht leisten

Aus den Augen, aus dem Sinn

Viele Familien in Deutschland haben nicht genug Geld für gesunde Ernährung. Statt daran etwas zu ändern, plant die Bundesregierung, Werbung für Junkfood einzuschränken.
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Reklame für Junkfood könnte man bald seltener zu Gesicht bekommen. Der Minister für Ernährung und Landwirtschaft, Cem Özdemir (Grüne), will nach der Sommerpause ein Gesetz in den Bundestag einbringen, das Werbung für Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett- oder Salzgehalt in der Nähe von Schulen und Kitas verbieten würde. Auch im Fernsehen soll sie nicht mehr gezeigt werden dürfen, zumindest zu Zeiten, in denen Kinder am ehesten zuschauen. Speziell an Kinder gerichtete Werbung für Junkfood soll überhaupt nicht mehr erlaubt sein – weder im Fernsehen noch auf Plakatwänden oder von Influencern in den sozialen Medien.

Im Frühjahr 2022 hatten die Krankenkasse AOK, die Verbraucherzentrale und medizinische Fachgesellschaften einen entsprechenden Vorschlag für ein Gesetz vorgelegt. Dabei bezogen sie sich auf ein britisches Vorbild. Dort ist Werbung für Fett- und Zuckerbomben im Fernsehen nurmehr in der Zeit von 21 Uhr bis 5.30 Uhr erlaubt. Außerdem dürfen Unternehmen keine bezahlte Online-Werbung für Junkfood schalten.

Özdemirs Entwurf orientiert sich am Koalitionsvertrag, in dem es heißt: »An Kinder gerichtete Werbung für Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett- und Salzgehalt darf es in Zukunft bei Sendungen und Formaten für unter 14jährige nicht mehr geben.« Der ­Koalitionspartner FDP hat allerdings angekündigt, Özdemirs Gesetz in der vorliegenden Form zu blockieren. »Pauschale Verbote« ­lehne man ab, sagte Gero Hocker, agrarpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Ende Juli der Bild-Zeitung.

Der übermäßige Verzehr von Produkten, die vom Gesetzentwurf betroffenen wären, kann zu Übergewicht und im späteren Leben zu Diabetes, Bluthochdruck, Gelenkproblemen und Herz­erkrankungen führen. Ein Werbeverbot kann sich auf die wissenschaftliche Erkenntnis stützen, dass Reklame Kinder und Jugend­liche dazu animiert, mehr ungesunde Snacks zu verspeisen. Wäre dem nicht so, würden die fraglichen Unternehmen wohl auch kaum so viel Geld für Werbung ausgeben.

Beim Bürgergeld (früher Hartz IV genannt) sind für Kinder pro Tag etwa vier Euro für Ernährung eingeplant. Das ist viel zu wenig, gerade angesichts der stark gestiegenen Lebensmittelpreise.

Die Maßnahme hat allerdings insofern Alibicharakter, als Kinder und Jugendliche, die sich ungesund ernähren, nicht einfach nur Opfer geschickter Marketingstrategien sind. Vielen Familien fehlt schlicht das Geld, um sich ausgewogen, mit viel Obst und Gemüse, zu ernähren. Fertiggerichte, Süßigkeiten und Softdrinks, aber auch billige Fleischprodukte, bieten für wenig Geld viele Kalorien und ungesunde Inhaltsstoffe.

Schätzungen zufolge sind drei Millionen Menschen in Deutschland »ernährungsarm«, wie es im heutigen Kümmerjargon heißt, womit gemeint ist, dass sie nicht genug Geld für eine gesunde ­Ernährung haben. Zu diesem Ergebnis kam der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz (WBAE), der Anfang des Jahres eine entsprechende Stellungnahme an Özdemirs Ministerium überreicht hat.

Beim Bürgergeld (früher Hartz IV genannt) sind für Kinder pro Tag etwa vier Euro für Ernährung eingeplant. Das ist viel zu wenig, gerade angesichts der stark gestiegenen Lebensmittelpreise. Das Bürgergeld reiche »im Grunde nicht aus, um eine bedarfsgerechte, ausgewogene Ernährung anzubieten«, kritisierte Hans Hauner, ­Leiter des Else-Kröner-Fresenius-Zentrums für Ernährungsmedizin an der Technischen Universität München, im März in einem ­Interview mit dem Südwestrundfunk (SWR). Man müsse »wirklich etwa 50 Prozent draufschlagen«. Derzeit sind knapp zwei Millionen Kinder auf Bürgergeld angewiesen.

Das grundlegende Problem ist freilich, dass allen wissenschaftlichen Erkenntnissen über Landwirtschaft und Ernährung zum Trotz so viele schlechte, ungesunde Nahrungsmittel in die Läden kommen, bei deren Herstellung durch Monokulturen, Chemika­lien und Massentierhaltung die Umwelt zerstört wird und Tiere gequält werden. Der völlig legale Alltag in der Lebensmittelindustrie ist schon schlimm genug, doch führt der Kosten- und Rationalisierungsdruck auch regelmäßig zu Lebensmittelskandalen, bei denen einem schlecht werden kann. Dass die Übeltäter nicht nur große Konzerne sind, zeigt der aktuelle Fall von Tierquälerei in einem kleinen fränkischen Schlachthof, auf dem unter anderem Schweinen bei lebendigem Leibe die Augen ausgerissen wurden.

Der Streit über ein begrenztes Werbeverbot für Junkfood ist Ausdruck der politischen Kräfteverhältnisse. Weil an die eigentlichen Missstände nicht gerührt werden soll, gibt es dieses beschei­dene Reförmchen – falls die FDP nachgibt. Und selbst wenn ein partielles Werbeverbot käme, würde es nichts daran ändern, dass ­vielen Menschen weiter Fraß vorgesetzt wird. Alle Menschen ausreichend, gut und gesund zu ernähren, ist nicht der Zweck der ­kapitalistischen Lebensmittelindustrie.