Die chilenische Gesellschaft streitet über die Erinnerung an den Militärputsch 1973

Das Danach und das Davor

Vor 50 Jahren stürzte die Armee den chilenischen Präsidenten Salvador Allende. Die chilenische Gesellschaft streitet über das Gedenken: Während rechte Geschichtsrevisionisten den Putsch rechtfertigen, sehen manche Linke jegliche Kritik an Allendes Regierungspolitik als Relativierung der Verbrechen des Pinochet-Regimes an.

»In den vergangenen Monaten haben wir erlebt, wie sich das Land im Erinnern an den 11. September zurückentwickelt hat«, schrieb die chilenische Ministerin für Frauen und Geschlechtergleichstellung, Antonia Orellana, von der linken Regierungspartei Convergencia Social in einem Kommentar für die spanische Tageszeitung El País. Es gebe wieder Menschen, die die Militärdiktatur Augusto Pinochets offen glorifizierten, oder solche, die den Staatsstreich von 1973 rechtfertigten und ihn losgelöst von der darauffolgenden Mi­litärdiktatur und deren Verbrechen betrachten wollen.

Gegen diese Trennung in »den Putsch« und »das, was danach kam« spreche auch die Tatsache, dass während des Staatsstreichs und unmittelbar danach mehr Menschen ermordet, gefoltert und gefangen genommen wurden als in den darauffolgenden 17 Jahren der Militärdiktatur. »Was danach kam, gehörte zum Wesen des Putsches«, bemerkte Orellana und erinnert an ihren Großvater Fernando Guarello Zegers, einen früheren Parlamentsabgeordneten der stramm konservativen Nationalpartei, der den Putsch verurteilte und ihr schon als Kind beibrachte, dass es niemals legitim sei, die Demokratie mit Waffengewalt zu brechen. Diese Sichtweise »kann nicht die Idee eines politischen Lagers, sondern muss nationaler Konsens sein«, meint die Ministerin.

Am Montag, dem 5. September, scheiterte der Versuch von Chiles amtierendem Präsidenten Gabriel Boric, eine gemeinsame Erklärung aller Parteien zur Verurteilung des Staatsstreichs und der Menschenrechtsverletzungen der Militärdiktatur zu verabschieden, am Widerstand sowohl der nationalkonservativen Unión Demócrata Independiente (UDI) als auch des rechtsextremen Partido Republicano, der Partei seines vormaligen Herausforderers José Antonio Kast. Dieser hatte sich bereits im Wahlkampf 2021 positiv auf Augusto Pinochet bezogen.

36 Prozent der chilenischen Bevölkerung halten heute den Staatsstreich von 1973 für gerechtfertigt.

Javier Macaya, Vorsitzender der UDI, begründete die Haltung seiner Partei damit, dass Borics Erklärung polarisiere. Außerdem wolle man sich nicht an einer Ehrung Allendes beteiligen. »Ohne Allende hätte es Pinochet nicht gegeben«, konstatierte UDI-Generalsekretärin María José Hoffmann im Nachrichtensender CNN. Auch Arturo Squella, Vorsitzender der Republikaner, spricht von einer »Logik der Spaltung«. Die Opposition wirft Boric vor, die Erklärung vertrete einen alleingültigen Wahrheitsanspruch, der ihr nicht zukomme.

Doch nicht nur zwischen links und rechts sorgt das diesjährige Gedenken für Konflikte. Auch unter Linken ist man sich nicht einig darüber, inwieweit eine Kritik an der Regierung der Unidad Popular unter Allende, die dem Putsch vorausging, angemessen ist oder aber dem von Rechten betriebenen Geschichtsrevisionismus in die Hände spielt. Während Mitglieder der Kommunistischen Partei (PCCh) und der Opferverbände Kritik an Allendes Regierung als Relativismus geißeln, werfen ihnen linksliberale Oppositionelle vor, das Gedenken zu monopolisieren. Dabei macht sich auch ein Generationenunterschied bemerkbar. Viele junge Chilenen sind nach 1990 geboren und haben die Militärdiktatur nicht mehr selbst erlebt.

Die ganze Schärfe des Konflikts traf den Schriftsteller und Gründer der linken Wochenzeitung The Clinic, Patricio Fernández. Im November 2022 von Boric mit der Aufgabe betraut, das Gedenken zum 50. Jahrestag des Putsches zu gestalten, verkündete er Anfang Juli seinen Rückzug. Angehörige der Regierung, unter ihnen viele Mitglieder der Kommunistischen Partei, sowie Vertreter von Menschenrechtsorganisationen hatten ihn beschuldigt, in einem Interview den Putsch relativiert zu haben.

Gefragt, ob er es für möglich halte, einen nationalen Minimalkonsens im Gedenken an die Ereignisse von 1973 zu erzielen, während 36 Prozent der chilenischen Bevölkerung den Staatsstreich heute für gerechtfertigt halten, hatte Fernández geantwortet: »Worauf wir uns zu einigen versuchen können, ist, dass die auf den Putsch folgenden Geschehnisse nach zivilisatorischen Maßstäben inakzeptabel sind.« Was aber die Gründe und Motivationen für den Putsch waren – und das ist, was seine Kritiker so empört –, darüber sollen seiner Meinung nach die Gesellschaft und die Historiker weiterdiskutieren.

Carmen Hertz, Abgeordnete des PCCh und Menschenrechtsanwältin, deren Lebensgefährte vom Pinochet-Regime ermordet wurde, beschuldigte den linksliberalen Fernández, der auf keine militante Vergangenheit als Oppo­sitioneller verweisen kann, der »postmodernen Leugnung« der Ereignisse. Eine klare Verurteilung des Putsches sei der zivilisatorische Minimalkonsens, den Fernández nicht zustande bringe.

»Wir als Linke müssen in der Lage sein, diese Periode schärfer zu analysieren und nicht nur aus einer mythologi­sierenden Perspektive zu betrachten.« Chiles Präsident Gabriel Boric

Zu Recht weist die Journalistin Ana María Sanhueza in El País darauf hin, dass Fernández’ Haltung mit der des Präsidenten in dieser Sache übereinstimmt. Auch Boric, der für die junge Generation Chiles steht, hält eine Kritik an der Regierung der Unidad Popular für berechtigt. »Es ist eine Periode, die untersucht werden muss«, sagte der Präsident in einer Fernsehsendung am 4. Juni. »Wir als Linke müssen in der Lage sein, sie schärfer zu analysieren und nicht nur aus einer mythologi­sierenden Perspektive zu betrachten«.

Bekannte Oppositionelle wie der Vorsitzende des »Rettig-Reports« zur Aufklärung der Verbrechen der chilenischen Militärdiktatur, Jaime Castillo Velasco von den Christdemokraten, oder der linksliberale Anwalt Eugenio Velasco Letelier hätten sich zu ihren Lebzeiten ebenfalls kritisch zur Unidad Popular geäußert, ohne dass sie sich verdächtig gemacht hätten, den Putsch zu rechtfertigen, gibt der bekannte links­liberale Schriftsteller Rafael Gumucio in einem Kommentar für El País zu bedenken. Der bekannte Intellektuelle aus einer chilenischen Exilantenfamilie schreibt: »Wenn der Widerstand der Diktatur ein Ende setzen konnte, dann deshalb, weil er diejenigen, die noch am 10. September 1973 nicht auf derselben Seite standen, dazu bringen konnte, sich ob der Unumstößlichkeit der Menschenrechte zu vereinen.«

Und er erinnert daran, dass auch die Anhänger von Allendes Unidad Popular die Menschenrechte nicht unbedingt hochhielten. Sie seien »ein bürgerliches Überbleibsel der Französischen Revolution, eine imperialistische Zumutung, die von der Geschichte völlig überholt worden sei, hieß es damals«.

In der Attacke gegen Fernández gehe es vor allem darum, dass der PCCh und seine Ableger die Deutungshoheit über die Vergangenheit behaupten wollen, so Gumucio. »Die Indienstnahme und der Missbrauch einer qualvollen Vergangenheit, um so unterschiedliche Dinge wie die Gewalt auf den Straßen, die absolut unkritische Unterstützung der palästinensischen Sache oder das Kokettieren mit Maduro, Ortega oder Bashar al-Assad zu rechtfertigen, führt dazu, dass sich viele derjenigen, die unter der Diktatur gelitten und sie durchlebt haben, von den Organisationen, die ihr Andenken bewahren sollten, entfremdet, ja sogar beleidigt fühlen.«