Ein Rückblick auf die Proteste gegen die AfD in Schleswig-Holstein

Antifa und Handelskammer

Selbstbeweihräucherung der Mitte oder Beitrag zur Entnazifizierung? Parteipolitisch vereinnahmt oder Ort für linke Kritik? Oder alles gleichzeitig? Ein Rückblick auf die Anti-AfD-Proteste in Schleswig-Holstein.

Ende Januar in Kiel: Auf dem Rathausplatz haben sich mindestens 11.000, wahrscheinlich aber eher 15.000 Menschen versammelt, um »gegen rechts« und vor allem die AfD zu demonstrieren. Organisiert hatte die Kundgebung der DGB. Als der Vertreter des Unternehmensverbands Kiel zum Ende seines Redebeitrags »positiven Patriotismus« propagierte, waren die Antifas in der Nähe der Bühne mit ihrer Geduld am Ende. Einige von ihnen schlugen dem Redner gut hörbar vor, doch die Klappe zu halten. Aber der ließ sich nicht bremsen und schob seinem Appell für den guten Patriotismus noch ein Goethe-Zitat hinterher, das im Zusammenhang mit dem Bekenntnis zur wahrhaften Vaterlandsliebe ­stehe: »Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.«

Nun weiß nicht jeder, dass Goethe sich öfter klar antipatriotisch geäußert hat. Doch zumindest war am Anfang der Kundgebung deutlich darauf hingewiesen worden, dass es linke antifaschistische Gruppen waren, die jahrelang ohne nennenswerte Resonanz auf die Bedrohung durch die AfD aufmerksam gemacht haben.

Es ist nicht die einzige Unstimmigkeit an diesem Tag. Die Innenministerin von Schleswig-Holstein, Sabine Sütterlin-Waack (CDU), sagte in ihrer Rede, dass alle Versuche gescheitert seien, die weiterhin stattfindenden Bauerndemonstrationen rechtsextrem zu unterwandern; eine Bemerkung, die bei manchen Zuhörern auf ungläubiges Murren traf. Unter den Tisch fiel wie so oft, dass viele der wohlstandschauvinistischen Parolen deutscher Acker­pan­zer­fahrer per se für rechte Positionen anschlussfähig sind – deswegen locken sie diejenigen, die bei den Worten »Reichsnährstand« und »Landvolkbewegung« leuchtende Augen bekommen, ja so zuverlässig an.

Eine Kirchenvertreterin wies in ihrer Rede dankenswerterweise darauf hin, dass eine Bewegung gegen autoritäre, faschistoide Formierung auch immer gegen den Antisemitismus gerichtet sein müsse, nur um im Nachsatz bedingungslosen Schutz »für die Zivilbevölkerung in Gaza« zu fordern, was die Hamas durch ihre Taten und Taktiken mit voller Absicht unmöglich gemacht hat – gegen Antisemitismus ist man offenbar nicht bedingungslos.

Als der Vertreter des Unternehmens­verbands Kiel zum Ende seines Redebeitrags »positiven Patriotismus« propagierte, waren die Antifas in der Nähe der Bühne mit ihrer Geduld am Ende.

Der furchtbare, auf die Melodie von »Hejo, spann den Wagen an« zusammengereimte Widerstandskanon, der auf so unnachahmlich deutsche Weise Heimeligkeit und Erdverbundenheit mit weitgehend imaginierter Widerstandsbereitschaft verbindet, blieb denn auch in Kiel leider nicht aus. Und im Handumdrehen waren aus Protestierenden singende Protestanten geworden. Schon in den siebziger Jahren hatte sich der Neurechte Henning Eichberg, ein Vordenker des »Ethnopluralismus«, in seinem Essayband »Nationale Identität« hocherfreut darüber gezeigt, dass gerade dieses Stück deutschen Lied­guts damals zum Standardrepertoire von Anti-Atom-Protesten gehörte. ­Immerhin waren auf dem Rathausplatz keine Palästina-Flaggen und kaum Pali-Tücher zu sehen; stattdessen wehten am Rande der Versammlung einige Fahnen Israels.

Die Kleinstadt Eutin hat keine 20.000 Ein­wohne­r:innen, stellte aber Anfang Februar eine Kundgebung mit 2.000 bis 3.000 Teilnehmer:innen auf die Beine. Auch bei dieser gab es keine Palästina-Fahnen, und unter den Plakaten und Transparenten fanden sich einige, die über bloße Pauschalbekenntnisse zum Schutz der Demokratie und Lalala-Wohlfühl-Antifaschismus hinausgingen.

Erfrischenderweise fehlten auf der Rednerliste Parteipolitiker:innen, stattdessen meldete sich wirklich das zu Wort, was man hierzulande als »Zivilgesellschaft« bezeichnet. Jugendliche Redner:innen von der Schülervertretung und vom städtischen Jugendparlament nahmen klar und unzerfaselt gegen Rassismus und Antisemitismus Stellung.

Migrantische Standpunkte wurden nicht untergebuttert. Der Kirchenvertreter betonte, dass es ihm eben nicht vor allem um die wirtschaftliche Bedeutung von Zuwanderung gehe, sondern um humanitäre Erwägungen. Der Funktionär eines lokalen Sportvereins wollte nicht einsehen, dass Flüchtende routinemäßig in Turnhallen und Container gesteckt werden, wo doch schon um den Marktplatz Eutins herum reichlich Wohnraum leersteht. Unter anderen Umständen wären das vielleicht Selbstverständlichkeiten – aber leider nicht unter den in Deutschland herrschenden Umständen. Als dann zum Schluss doch noch ein Mensch mit Gitarre auftrat, war man geneigt, es als Protestfolklore hinzunehmen. Immerhin stimmte er den blöden »Hejo«-Kanon nicht an.

Ja, es ist richtig: Die Demos gegen rechts sind in der Provinz wie in den Großstädten Veranstaltungen, auf ­denen Mythen gestrickt und verbreitet werden. Mythen, die das Wir-Gefühl der Protestierer stärken sollen, die ihre eigene moralische Überlegenheit und ganz allgemein das edle, hilfreiche und gute Land feiern wollen, als das Deutsch­land sich gerne darstellt und zu dem die Mehrzahl der Anwesenden sich nur zu gerne bekennt oder bekennen würde.

Und ja, man kann sich vieles wünschen. Zum Beispiel dass jemand auf einer Demonstration gegen rechts mal anhand der Hamas verdeutlicht, was es konkret heißt, wenn eine moderne faschistische Bewegung Macht und Waffen in die Hände bekommt. Oder dass der Islamismus ganz allgemein als Bruderideologie des Faschismus benannt wird. Oder dass die Demos sich deutlicher gegen Politike­r:in­nen richten, die noch vor wenigen Wochen ganz ungeniert »in großem Stil« abschieben wollten; gerade so, als sei es nicht schon antihuman genug, dass seit dem 1. Januar 2024 wieder in den Iran abgeschoben werden kann und dass seit vergangenem Jahr wieder Yeziden in den Irak abgeschoben werden. Ja, es ist ein Elend, dass man sich so was wünschen muss.

Man kann die Proteste aber auch als ein Versuchslabor sehen, das sich mit der Frage beschäftigt, wie eine drohende Faschisierung Deutschlands zu verhindern ist. Hier versammeln sich Leute, die geglaubt haben, dass die Vergangenheit Vergangenheit sei, und sich jetzt die Augen reiben, langsam bemerkend, dass das nicht stimmt und nie gestimmt hat. Worauf die Massenbewegung hinausläuft und welche Wirkung sie haben wird, weiß noch niemand. Man muss kritisieren, was zu kritisieren ist. Aber die Hoffnung, dass hier auch ein Beitrag zu einer gleichzeitig nachholenden und vorbeugenden Entnazifizierung geleistet wird, sollte man nicht vorschnell aufgeben.