Freitag, 26.02.2021 / 18:28 Uhr

Nordafrika: Staatsislam hat ausgedient

Von
Thomas von der Osten-Sacken
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Demonstration in Tunis im Januar 2011, Bild: Thomas v. der Osten-Sacken

 

In der NZZ schreibt Samuel Schirbeck über Entwicklungen in Nordafrika, die ich ähnlich seit Jahren im Irak beobachte:

In Algerien und Marokko aber schlägt der Gott des vorgeblich „friedlichen, toleranten“ Staatsislam weiterhin zu, wenn Menschen nach der [vom tunesischen Verfassungsrechtler] Ben Achour propagierten „demokratischen Norm“ leben möchten. Gummiparagrafen wie „Verletzung der religiösen Vorschriften“, „Beleidigung des Islam“, „Ausübung von Druck auf einen Muslim, ihn zum Verzicht auf seine Religion anzustacheln“, „Blasphemie“, „Profanierung des Koran“ dienen der Repression. In Algerien erdrückt sie derzeit engagierte Anhänger des Hirak, der Massenbewegung des Jahres 2019, die sich die muslimische Demokratie auf die Fahne geschrieben hat. Dazu kommt Covid-19. Ein Hirak-Neubeginn soll unter Zuhilfenahme auch religiöser Gesetze verhindert werden. Gewissensfreiheit gibt es weder in Algerien noch in Marokko. (…)

Mittlerweile haben sowohl der Staatsislam wie der Islamismus in Nordafrika als Heilsversprechen ausgedient – so wie Sozialismus und Arabismus zuvor. Die Protestbewegungen der Gegenwart haben allen „großen“ Ideologien Adieu gesagt. Kein Ruf nach einem „islamischen Staat“ wurde während der „Bewegung des 20. Februar“ von 2011 in Marokko laut, ebenso wenig wie während des algerischen Hirak. Die Forderungen der meist jungen Muslime und Musliminnen – Frauen, auf den Straßen unterwegs mit Plakaten wie „Keine Demokratie ohne Gleichberechtigung!“ – laufen gegenwärtig auf einen Rechtsstaat und eine freie Diskussion über Politik, Kultur und Religion hinaus. Dabei wird nicht der Islam als Glaube infrage gestellt, sondern die Politisierung des Islam gegen individuelle Freiheiten. In der seit der Unabhängigkeit autoritär zusammengeschmiedeten „arabisch-islamischen Persönlichkeit“ entstehen zusehends Risse.