Die britische Regierung plant ein ­Gesetz, das Asylanträge von Flüchtlingen ­verhindern soll

Sunak will die Boote stoppen

Die britische Regierung hat Einzelheiten eines Gesetzentwurfs veröffentlicht, der einer Mehrheit der Geflüchteten, die Großbritannien über den Ärmelkanal erreichen, die Möglichkeit verweigern soll, Asylanträge zu stellen.

Fünf Prioritäten für das Jahr 2023 für »eine bessere, sicherere und wohlhabendere Zukunft« Großbritanniens benannte Premierminister Rishi Sunak (Conservative Party) in seiner Rede am 3. Januar. Sie lauteten: Halbierung der Inflation, Wirtschaftswachstum, Abbau der Staatsverschuldung, Verkürzung der Wartelisten für Leistungen des staatlichen Gesundheitssystems und neue Gesetze zum »Stoppen kleiner Boote«. Beim letzten Punkt geht es weniger um die Boote als darum, wer diese nutzt, um über den Ärmelkanal nach Großbritannien zu gelangen.

Im vergangenen Jahr registrierte das britische Verteidigungsministerium 45 756 Menschen, die diese gefährliche Überfahrt bei oft starkem Wind und hohen Wellen auf sich genommen hatten – auf Bootsflüchtlinge gingen 45 Prozent der in Großbritannien gestellten Asylanträge zurück. 2022 wurden in Großbritannien 75 000 Asylanträge gestellt. Obwohl das so viele sind wie seit 2002 nicht mehr, bleibt das Land damit hinter dem Durchschnitt der EU-Länder zurück, setzt man die Zahl ins Verhältnis zur Gesamtbevölkerung.

Vorwurf der Flüchtlingsabwehr
Die Daten des Innenministeriums zeigen, dass das Vereinigte Königreich so gemessen im europäischen Vergleich erst auf Platz 20 rangiert. Sunak argumentierte gegen den Vorwurf der Flüchtlingsabwehr unter anderem damit, dass Großbritannien in großem Maß Flüchtlinge aus Hongkong per Visum aufnehme; die Regierung schätzt die Größe dieser Gruppe auf 300 000.

Geht es nach Sunak und seiner Partei, werden immer noch zu viele Asylanträge gestellt;. Am 7. März brachte Innenministerin Suella Braverman (Conservative Party) deswegen im Unterhaus die »Illegal Migration Bill« ein. Das Gesetz soll dafür sorgen, dass sich die Zahl der Asylanträge noch weiter verringert. Das Ziel sei es, »die illegale Migration, insbesondere über unsichere und illegale Routen, zu verhindern und abzuschrecken«, heißt es in der Einleitung des Dokuments, »indem bestimmte Personen, die unter Verletzung der Einwanderungskontrolle in das Vereinigte Königreich einreisen, aus dem Vereinigten Königreich abgeschoben werden«.

Im vergangenen Jahr registrierte das britische Verteidigungs­ministerium 45 756 Geflüchtete, die die gefährliche Überfahrt über den Ärmelkanal auf sich genommen hatten.

Der Gesetzentwurf sieht vor, dass Geflüchtete, die illegal in das Land einreisen, direkt bei ihrer Ankunft ohne gerichtliche Überprüfung für 28 Tage inhaftiert werden, und zwar ohne die Möglichkeit, auf Kaution freizukommen oder einen Asylantrag zu stellen. Die zuständigen Behörden würden verpflichtet, die Schutzsuchenden so schnell wie möglich in ein anderes, ­sicheres Land abzuschieben. Überdies würde das Gesetz rückwirkend gelten; Personen, die vor der Verabschiedung des Gesetzes illegal ins Land gekommen sind, könnten inhaftiert und ohne Verfahren abgeschoben werden.

Menschenrechtler und das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) kritisierten die Pläne. Die EU-Kommissarin für Inneres, Ylva Johansson, sagte, sie habe am Dienstag mit der britischen Innenministerin Suella Braverman gesprochen und ihr mitgeteilt, das Gesetz verstoße ihrer Einschätzung nach gegen internationales Recht.

Schnellverfahren für Asylbewerber
Bereits 2015 hatte der Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg das von der Regierung David Camerons eingeführte Schnellverfahren für Asylbewerber, das eine Inhaftierung von zehn Tagen vorsah, für rechtswidrig erklärt, weil es das Recht auf Beratung und Einspruch gegen die Abschiebung beeinträchtigt. Der Gesetzentwurf der jetzigen Regierung würde das Recht auf Einspruch für illegal Eingereiste gleich ganz abschaffen.

Als besonders problematisch wird hierbei der Artikel 1(5) des Gesetzentwurfs erachtet. Er besagt, dass Abschnitt 3 des britischen Human Rights Act von 1998 nicht geltend gemacht werden könne. Der Abschnitt legt fest, dass alle Menschenrechte, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention (ECHR) niedergelegt sind, ausdrücklich auch im Vereinigten Königreich gelten. Sir Jonathan Jones, der ehemalige Leiter des Dachverbandes der in Regierungsdiensten tätigen Anwälte (Head of the Government Legal Service) von 2014 bis 2020, schrieb am 8. März auf Twitter, Absatz 1(5) zufolge seien »die Gerichte nicht verpflichtet, das Gesetz in Übereinstimmung mit der ECHR zu interpretieren«. Der Gesetzentwurf versuche, »die Gerichte des Vereinigten Königreichs daran zu hindern, die Unvereinbarkeit des Gesetzes mit der ECHR festzustellen«.

Die Tories erwägen seit Jahren, aus der Menschenrechtskonvention auszutreten, weil sie dem britischen Exzeptionalismus und der damit einhergehenden nationalistischen Propaganda der britischen Souveränität entgegensteht.

Jones geht davon aus, dass Kläger, die ihre Rechte im Vereinigten Königreich aufgrund des Gesetzes nicht durchsetzen können, sich an den EGMR wenden könnten, der voraussichtlich die Unvereinbarkeit mit der Menschenrechtskonvention feststellen würde. Der EGMR ist das Justizorgan des Europarats, dem auch das Vereinigte Königreich angehört. Folglich müsste es sich einem Urteil des EGMR beugen, wenn es nicht gegen seine völkerrechtlichen Verpflichtungen aus der Konvention verstoßen will.

Die Tories erwägen seit Jahren, aus der Menschenrechtskonvention auszutreten, weil sie – ebenso wie die EU-Mitgliedschaft – dem britischen Exzeptionalismus und der damit einhergehenden nationalistischen Propaganda der britischen Souveränität entgegensteht. Bereits im Sommer 2022 hatte der EGMR geplante Abschiebeflüge nach Ruanda blockiert. Der High Court, das höchste Gericht des Landes für erst­instanzliche Verfahren, hatte im Dezember das Abkommen mit Ruanda für rechtens erklärt, einer Gruppe von acht Flüchtlingen aber die weitere rechtliche Prüfung ihrer Fälle zugestanden.

Es gibt auch praktische Einwände gegen den Gesetzentwurf. In seiner jetzigen Fassung listet dieser 57 Länder als mögliche Ziele für Abschiebungen auf, was allerdings nicht bedeutet, dass alle diese Länder Flüchtlinge aus der Abschiebehaft des Vereinigten Königreichs aufnehmen würden. Während es beispielsweise mit Albanien ein Abkommen zur Rücknahme eigener Staatsangehöriger gibt, ist unklar, ob EU-Staaten Abschiebungen aus dem Vereinigten Königreich annehmen würden. Denn dieses hat im Rahmen des EU-Austritts auch das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) verlassen. Deshalb gilt das Dublin-Verfahren für die Großbritannien nicht mehr. Derzeit gibt es kein Abkommen über die Abschiebung von Personen in die EU-Staaten.

Rechte Symbolpolitik
Dies war einer der Gründe, warum die britische Regierung im vergangenen Jahr das heftig kritisierte Abkommen mit dem autokratisch regierten Ruanda vorlegte. Für 140 Millionen Pfund wollte Ruanda in einer »Testphase« bis zu 1 000 Menschen aufnehmen aufnehmen, die illegal nach Großbritannien eingereist waren, so der Nachrichtensender BBC in einem Bericht vom 23. Februar. Eine vernachlässigbare Zahl im Verhältnis zur Menge der Schutzsuchenden, die die Tories abschieben wollen. Ohnehin hat der EGMR das Vorhaben blockiert.

Kritiker sehen in dem Gesetzentwurf einen Versuch, Schutzsuchende abzuschrecken, und vor allem rechte Symbolpolitik. Tim Bale, Politikprofessor an der Queen Mary University of London, sagte der BBC, diese Politik sei »ein ziemlich klarer Griff nach einer Wählergruppe, die die Konservativen unbedingt halten müssen, um die nächsten Wahlen zu gewinnen – älter, weißer, wahrscheinlich weniger ge­bildet und in weniger wohlhabenden Teilen des Landes lebend«. Die Parlamentswahlen finden voraussichtlich 2024 statt.

Noch muss das Gesetz einige Hürden nehmen. Im Unterhaus hat Sunaks ­Regierung eine Mehrheit, weswegen das Vorhaben dort wahrscheinlich durchgewinkt wird. Das Oberhaus hingegen wird wohl Änderungsanträge einbringen wollen, die dann zur Prüfung an das Unterhaus zurückgehen würden. Dass Gesetze zwischen den Kammern mehrmals hin- und hergeschoben werden, passiert manchmal und ist in der britischen Politik als »Ping Pong« bekannt.

Offensichtlich misst die oppositionelle Labour Party dem Thema Migration bei den kommenden Wahlen ebenfalls große Bedeutung bei. Während sie die Pläne der Regierung Sunak kritisiert, schlägt die Partei unter dem Vorsitzenden Keir Starmer hinsichtlich der ­Einwanderung selbst isolationistische Töne an. Sein Ziel sei es, »die britische Wirtschaft aus ihrer Einwanderungsabhängigkeit zu befreien«, sagte Starmer im November auf der Jahreskonferenz der Unternehmensorganisation Confederation of British Industry.