Benjamin von Stuckrad-Barre und sein Roman »Noch wach?«

Benjamin und die Wirklichkeit

Benjamin von Stuckrad-Barres »Noch wach?« wird als Enthüllungsbuch über den Springer-Konzern gefeiert. Darin seziert er neben Machtmissbrauch und sexuellen Übergriffen auch die Schwafelsprache der Medienmänner. Aber lässt sich der Autor am Ende für einen Mut auf die Schulter klopfen, den eigentlich ganz andere aufbringen mussten?

»Ich weigerte mich seit langem, in das bisherige und ja noch aktuelle Haus hineinzugehen. Ich wollte damit nichts mehr zu tun haben.« Diesen Gedanken hat der Ich-Erzähler in Benjamin von Stuckrad-Barres neuem Roman »Noch wach?« auf einer Baustelle für den Neubau eines Medienunternehmens. Dem Autor mag es da so ähnlich gehen wie seinem Protagonisten: Dass Stuckrad-Barre vermutlich erst keinen Schritt mehr in das Axel-Springer-Hochhaus in Berlin-Kreuzberg setzen wollte und es nun wohl gar nicht mehr darf, ist eine Nebenfolge dieses Romans, der dem Autor zufolge alles, aber bitte kein »Schlüsselroman« ist.

In einem kurz nach Veröffentlichung des Buchs erschienenen Interview im Spiegel betonte Stuckrad-Barre noch einmal, was bereits auf der ersten Seite steht: Alles darin sei erfunden, ein Roman eben, eine zwar von »verschiedenen realen Ereignissen« inspirierte, aber »hiervon losgelöste und unabhängige fiktionale Geschichte«. Aber gerade deswegen könne es, so der Autor weiter im Spiegel-Interview, »wahrer sein als die Wirklichkeit«.

Was Stuckrad-Barre schreibt, hat Tragweite, ob er das will oder nicht. Als Autor der »Harald-Schmidt-Show«, spätestens aber mit der Veröffentlichung seiner Bestseller »Solo­album« (1994) und »Panikherz« (2016) hat er sich einen Ruf als deutsches Popliteratengenie erarbeitet. Nebenbei pflegt er emsig Kontakte in die Welt der mehr oder weniger Berühmten, die ihm regelmäßig Stoff für seine Romane lieferten.

Dass Stuckrad-Barre vermutlich erst keinen Schritt mehr in das Axel-Springer-Hochhaus in Berlin-Kreuzberg setzen wollte und es nun wohl gar nicht mehr darf, ist eine Nebenfolge dieses Romans.

So auch für »Noch wach?«: Der betont fiktionale Roman erzählt zu einem Teil von einer jungen Frau, die Journalistin werden will und sich dafür von einem nicht näher benannten Sender ausbilden lässt. Es gelingt ihr, unter anderem weil sie einen einflussreichen Unterstützer hat, der im Buch recht unfiktional als »der damalige Chefredakteur der BILD-Zeitung« vorgestellt und durchweg als unangenehme, fast tragisch-peinliche Krawallschachtel beschrieben wird.

Dann gibt es da noch den Mann, der im Buch 150 Mal als »mein Freund« genau bezeichnet wird und »Besitzer« des Senders ist. Nun ist es technisch nicht so, dass mit diesen Chiffren der Vorstandsvorsitzende des realen Axel-Springer-Verlags, Mathias Döpfner, und der reale ehemalige Chefredakteur der Bild-Zeitung, Julian Reichelt, gemeint wären. Aber da die Fiktion ja manchmal wahrer sein kann als die Realität, sind solche Details wohl irrelevant.

Stuckrad-Barre erzählt die Geschichte der Freundschaft seiner Hauptfigur zum genannten Eigen­tümer und vor allem, wie sie erst langsam Schaden nahm und schließlich zerbrach. Zu Bruch geht auch sonst allerhand: Beziehungen, Menschen, Brillengläser, Träume. Allein der Ich-Erzähler bleibt ziemlich intakt und erzählt manchmal eher ­literarisch, oft aber niedrigschwellig und kaum zu unterscheiden von dem allseitigen Geschwafel der Medienmenschen, in deren Gesellschaft er sich permanent befindet.

Die immergleichen Floskeln benutzen diese Leute, absurderweise gerade diejenigen, die hauptberuflich mit Sprache zu tun haben. Vor allem der »Freund« ist ein Meister im Hohlphrasieren: Gern »gibt er den Agent Provocateur«, quasselt von »Chancen«, »Pulsgebern« oder »Zukunftslaboren« und vom »Abholen« und »Mitnehmen«. Diese geistlosen Vokabeln schreibt Stuckrad-Barre in Großbuchstaben aus, wohl weil sie ihm selbst unangenehm sind und er ihre Idiotie nicht ohne ironische Brechung dastehen lassen wollte.

Der geschwätzige Medienboss, das geht bereits aus den ersten Kapiteln hervor, plant ein großes Geschäft in den USA. Er will expandieren, sieht sich als Vorreiter in Deutschland. Und er mag es überhaupt nicht, wenn der Erzähler ihn auf seinen krawalligen Mitarbeiter anspricht, den Chefredakteur, der nicht nur eine »als Nachrichtensender verkleidete terroristische Vereinigung« führt, sondern mutmaßlich junge Frauen im Verlag sexuell belästigt. Von diesen Vorgängen weiß der große Vorsitzende oft nichts, und er will auch nichts davon wissen. Dafür hat er zur passenden Gelegenheit stets ein Zitat von Tucholsky, Lenin oder Woody Allen parat.

Nun will es der Zufall, dass kürzlich auch eine reale Person eindrücklich bewiesen hat, wie gut sie das Phrasendreschen beherrscht. Die Zeit veröffentlichte eine Reihe privater Nachrichten Döpfners, in denen er, der Diktion nach gar nicht unähnlich dem »Freund« im Roman, beispielsweise vom »endgültigen Niedergang des Landes« fabuliert, Ostdeutsche als »entweder Kommunisten oder Faschisten« bezeichnet und über »intolerant muslims« wettert. Auch die übrigen Erzählstränge aus dem Buch harmonieren erstaunlich oft mit der Realität, wenngleich bei vielen Details der Spekulation überlassen bleibt, wie eng sie sich an jener orientieren. Ob Julian Reichelt während einer Geschäftsreise wohl wirklich »gegen seinen Hummer gelehnt, mit vollkommen lächerlicher Extremsportsonnenbrille und mit verschränkten Armen« stand und den Dreh eines Werbeclips mit ziemlich albernem Verhalten sabotierte, so wie es der »Chefredakteur« im Roman tut? Das wissen nur die realen Beteiligten, wenn es sie denn gibt.

Die unrealen Beteiligten verstehen sich im Roman jedenfalls anfangs noch prächtig. Zwar streitet sich der Erzähler oft mit seinem »Freund«, verträgt sich aber immer wieder mit ihm, manchmal unter Tränen. Im Zuge seiner Bekanntschaft mit der genannten jungen Journalistin wächst aber sein Unmut. Sie erzählt, wie der krawallige Chefredakteur sie belästigte, und dass sie das zunächst gar nicht schlimm fand. Wie das sein kann, beschreibt der Erzähler in einer anderen Szene, in der er selbst Opfer eines sexuellen Übergriffs wird, den er aber zunächst ebenfalls gar nicht als solchen empfindet: »Wohl fühlte ich mich nicht, aber die Schuld dafür suchte und fand ich bei mir selbst, ich war eine Enttäuschung gewesen. Hinterher habe ICH mich geschämt.«

Dem Opfer, zu dem bald mehrere weitere gesellen, rät er also, an die Öffentlichkeit zu gehen, und trifft zunächst auf Unwillen, dann auf Angst, was schmucklos und authentisch geschildert wird. Immer mal wieder vollzieht der Roman dann einen Ortswechsel, die zweite Hälfte spielt nicht mehr in Berlin, sondern im Hotel Chateau Marmont, einem bekannten High-Society-Domizil in Hollywood, in dem in anderen Zusammenhängen über ganz ähnliche Fälle unter dem Schlagwort »Me Too« gesprochen wird.

Ein bisschen zu bemüht wirken Stuckrad-Barres vereinzelte Versuche, seinen Erzähler als großen Geläuterten dieser Geschichte zu zeichnen.

Etwas verändert sich also, hüben wie drüben. Für diese Veränderung allein interessiert sich der Autor aber nicht. Vielmehr zeichnet er ein Psychogramm eben jener Männer, die sich nun zum ersten Mal mit ihren Taten konfrontiert sehen. Dabei gelingen ihm gleich mehrere schöne Kontrastierungen: Ausgerechnet jene Knallchargen, die von früh bis spät vom Wandel schwatzen und ­alles immer kommen sehen, finden keinen Umgang mit einem Skandal, den sie für keinen halten. Ausgerechnet dort, wo sie sich so gern hinträumen, wo ihrer Meinung nach ­alles Gute und Wichtige passiert – an der US-amerikanischen Westküste –, nimmt dieser von ihnen falsch eingeschätzte Wandel seinen Lauf. Und ausgerechnet jene, die nie zögern, Menschen mit der Veröffentlichung privater Details von angeblichem »öffentlichem Interesse« ungewollt ins Rampenlicht zu zerren, werden ganz giftig, wenn dieselben Methoden auf sie angewendet werden.

Ein bisschen zu bemüht wirken Stuckrad-Barres vereinzelte Versuche, seinen Erzähler als großen Geläuterten dieser Geschichte zu zeichnen. Etwa wenn dieser verlauten lässt, dass er die Bild-Zeitung und ihren Chefredakteur noch nie mochte oder dass von Einvernehmlichkeit nicht die Rede sein kann, wenn hinter der privaten Beziehung ein enormes berufliches Machtgefälle steht. Sind das die Gedanken desselben Autors, der 2012 im Auftrag der Axel Springer AG ein Theaterstück zum 100. Geburtstag des namensgebenden verstorbenen Verlegers schrieb?

Es gäbe noch so viele der realen Begebenheiten zu erzählen, auf die der Roman Bezug zu nehmen scheint, es wären genug, um selbst die unersättlich nach Wein und Koks dürstenden Kehlen und Nasen mächtiger Medienmänner zu stopfen. Allein die am 24. April bekanntgewordene Klage des Springer-Konzerns gegen Julian Reichelt, der seine Abfindung in siebenstelliger Höhe zurückzahlen soll, wäre ein Kapitel für Stuckrad-Barre – wenn es nicht erst ein paar Tage nach der Buchveröffentlichung publik geworden wäre. Als Medienspektakel hatte das Buch allerdings schon vor dem Erscheinungsdatum eine gute Figur gemacht: perfekt getimt, fachmännisch inszeniert.

Wenn nun noch wahr wäre, was Stuckrad-Barre hier schreibt, wäre noch etwas anderes gelungen: die ­literarische Beerdigung eines Typ Medienmanns, der über Jahrzehnte Gesellschaften geprägt hat und dem alle Macht und alles Geld der Welt nicht mehr helfen, weil sich ­Betroffene sexueller Übergriffe nicht haben einschüchtern lassen. Nur war es gewiss nicht Benjamin von Stuckrad-Barre, der diesen Mut bewiesen hat. Aber das ist vermutlich viel zu »wirklich« gedacht.

Benjamin von Stuckrad-Barre: Noch wach? Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023, 384 Seiten, 25 Euro