Hugo Lindenberg und sein wunderbarer Roman »Eines Tages wird es leer sein«

Sommer, Scham und Leberhack

Das Glück der anderen aus der Sicht eines zehnjährigen jüdischen Jungen. Hugo Lindenberg widmet seinen Roman »Eines Tages wird es leer sein« allen »einsamen Kindern und Verrückten«.
Buchkritik Von

Ein Kind, seine Großmutter und eine Tante. Hat man das Klischeebild von der großen jüdischen Mehrgenerationenfamilie im Kopf, die sich nach der Katastrophe des Holocaust zum Happy End versammelt, um dann glücklich fortzuleben, trifft einen die Verlorenheit des zehnjährigen Jungen und Ich-Erzählers in Hugo Lindenbergs Roman »Eines Tages wird es leer sein« umso mehr.

Der Junge, der keine Mutter mehr hat und dessen Vater irgendwo in der Welt­geschichte unterwegs ist, verbringt Anfang der achtziger Jahre seine Sommerferien an der Küste der Normandie. Seine Familie, das ist die über alles geliebte Großmutter, eine Holocaust-Überlebende, deren körperliche und seelische Verletzlichkeit ihn mehr besorgt, als es für ein Kind gut ist, und seine psychisch kranke Tante, die er für ihren schwammigen, ungepflegten Körper hasst.

Kindheit wird mit einer solchen Unmittelbarkeit erzählt, dass es einen staunend zurücklässt.

Am Strand im hellen Licht der Sonne zwischen all den unbeschwert tobenden Vater-Mutter-Kind-Familien wird ihm seine Andersheit schmerzhaft klar. Vor allem als er sich mit dem gleichaltrigen Baptiste anfreundet, ein blonder Junge mit bronzener Haut, mit einem Burgen bauenden Vater und einer wunderschönen Mutter, die ständig irgendwelche Leckereien bereithält.

Es ist, als schulde er der Welt und insbesondere Baptiste eine Erklärung dafür, warum er ist, wie er ist: ein blasser Lockenkopf in Begleitung einer dicken Frau und einer die Rs rollenden alten Dame, die zum Picknick am Strand gehackte Leber in Zwiebeln und Knoblauch mitbringt.

»Eines Tages wird es leer sein« ist der erste Roman des 1978 geborenen Pariser Journalisten Hugo Lindenberg. Seine Kunst besteht gerade im Verzicht auf die üblichen Techniken der literarischen Kindheitserinnerung. Kein Zurückblicken, kein Madeleine-Effekt, keine Reflexion. Kindheit wird mit einer solchen Unmittelbarkeit erzählt, dass es einen staunend zurücklässt.

Hugo Lindenberg: Eines Tages wird es leer sein. Aus dem Französischen von Lena ­Müller. Edition Nautilus, Hamburg 2023, 168 Seiten, 22 Euro