Jean Yhee, Philosoph, im Gespräch über Streitkultur

»Konfliktfähig ist jemand, der es riskiert, aus seiner Komfortzone herauszutreten«

Spinoza war der Denker der modernen Demokratie, Nietzsche kritisierte diese. Diesen ­Gegensatz untersuchte der Philosoph Jean Yhee für seine Dissertation, die unter dem Titel »Konfliktfähig« erschienen ist. Im Interview mit der »Jungle World« erörtert er das Verhältnis der beiden Philosophen zueinander – und wieso sie beide Denker der Krise waren.
Interview Von

Seit den sechziger Jahren widmet sich die Forschung den Verbindungen zwischen Baruch Spinoza und Friedrich Nietzsche. Wie schätzen Sie die gedankliche Nähe der beiden Philosophen zueinander ein? Immerhin lebte Nietzsche zwei Jahrhunderte nach Spinoza.
Es war Nietzsche selbst, der Spinoza als seinen Vorgänger bezeichnete. Die Neuentdeckung ihrer Seelenverwandtschaft in den sechziger Jahren rehabilitierte diese radikalen Denker. Allerdings ist das Spannungsverhältnis zwischen ihnen seither zu wenig thematisiert worden – eine Ironie, denn Nietzsches lebenslange Auseinandersetzung mit Spinoza wurde durch den Gegensatz zwischen ihnen angetrieben. Für Nietzsche lag der Beweis ihrer Nähe darin, dass er zwar harte Kritik an Spinoza übte, in ihm aber weiterhin einen würdigen Gegner sah. Tatsächlich bezeugt die Auseinandersetzung mit seinem Vorgänger einen produktiven Umgang mit Differenzen im Denken, insbesondere was das Verständnis der Demokratie und die Auffassung des Christentums betrifft.

Sehen Sie in Bezug auf die Anfänge der modernen Demokratie ­etwas Verbindendes zwischen den beiden Werken?
Ja. Spinozas radikales Denken befürwortete nicht nur die Freiheit der Individuen, sondern stritt auch für deren Vorbedingungen. Nietzsches Demokratiekritik wiederum ahnte, welche Gefahren vom Verfall der Debattenkultur, von der Massenmanipulation und vom Aufstieg des Etatismus und des Totalitarismus ausgingen. Sowohl Spinozas Plädoyer für die moderne Demokratie als auch Nietzsches Kritik an dieser wird durch diesen Gegensatz aktuell und brisant.

Verbürgt ist, dass Nietzsche bereits 1875 Spinozas Hauptwerk, die »Ethik«, erstanden hatte. Wie Sie in Ihrer Studie »Konfliktfähig« ­zeigen, blieben seine direkten Bezugnahmen auf den Vorgänger jedoch überschaubar.
Das Verhältnis der beiden Denker zueinander bezeichne ich als agonal. Damit meine ich eine produktive Spannung, die aus einem schonungslosen Gegensatz resultiert, den Nietzsche aber voller Respekt vorträgt. Nietzsche nahm in seinen veröffentlichten Werken zwar sparsam Bezug auf Spinoza, in seinem Nachlass finden sich allerdings viele Passagen, welche den folgenreichen Einfluss seiner Auseinandersetzung mit Spinoza beweisen.

»Dem Atheisten Nietzsche war Spinozas lebensbejahende Philosophie rätselhaft, weil diese auch ohne den ›Tod Gottes‹ zu funktionieren schien.«

Zum Beispiel?
Ein wichtiger Hinweis ist Nietzsches Entwurf »Chaos sive natura«, der zwischen 1881 und 1882 verfasst wurde. Mit dem Gedanken der Liebe zum Schicksal (amor fati), des Tods Gottes und der Neubewertung des Chaosbegriffs argumentierte er gegen die spinozistische Idee von der intellektuellen Liebe Gottes (amor Dei intellectualis), der Theodizee sowie der radikal antianthropozentrischen Formel Deus sive natura (Gott oder, anders gesagt, die Natur). Die Reichweite seiner Kritik beschränkt sich nicht auf die »Ethik«, sondern reicht bis zum »Theologisch-Politischen Traktat«. Den expliziten Gegensatz zu Spinozas Position formulierte Nietzsche prägnant in Form einer Randnotiz, die sich in seinem Nachlass findet: »Ego contra Spinozam« (Ich gegen Spinoza).

Spinozas bekannte Devise »caute« (mit Vorsicht) resultierte aus ­seinem atheistischen Gedankengut, das zu äußern damals lebensgefährlich sein konnte. Nietzsche wiederum verteidigte das ­Individuum gegen die Masse. Beide Werke entsprangen der Iso­lation. Wie standen die zwei Philosophen zur Einsamkeit?
Nietzsche und Spinoza gingen nicht von einer philosophisch sterilen Wirklichkeit aus, sondern vielmehr von der realen Welt, die voller Leid, Gewalt und Banalität ist. Ihre Philosophie der Bejahung beginnt dort, wo der suchende Mensch beständig isoliert, missachtet und missverstanden wird. In diesem Sinne sind sie beide Denker der Einsamkeit. Für Spinoza ist Einsamkeit (solitudo) die ontologische Quelle des Leidens der Einzelnen. Die Bildung eines von der Vernunft geleiteten Gemeinwesens hilft jedoch, die Einsamkeit zu überwinden. Demokratie führt zur Freiheit des Menschen. Dadurch bleibt seine Einsamkeit eine nur vorläufige.

Und für Nietzsche?
Ihm gilt Einsamkeit als Quelle der Selbstbestimmung des Einzelnen. Angesichts der Manipulierbarkeit der Massen plädierte er für Bündnisse aus souveränen Einzelgängern. Eine brisante Frage wäre, ob sein Vorschlag zu deliberativer Demokratie oder zu exklusivem Elitismus führt. Dem Atheisten Nietzsche war Spinozas lebensbejahende Philosophie übrigens rätselhaft, weil diese auch ohne den »Tod Gottes« zu funktionieren schien. Und religiösen Fundamentalisten galt Spinoza auch deshalb als höchst gefährlich, weil seine Radikalität die Masse von der Macht dogmatischer Lehren befreien und die fremdbestimmende Praxis der Religion von innen sprengen könnte.

Bei beiden Denkern fällt der ­Anspruch auf, sich unter widrigsten Bedingungen zu behaupten und das Leben trotz allem zu bejahen. Was bedeutet das in politischer Hinsicht?
Dieser Anspruch lässt sich vor allem als Aufruf zum Widerstand gegen eine resignative Kultur verstehen, die auch die Gegenwart dominiert. Aus Apathie, Trägheit oder aus der wiederholten Erfahrung heraus, dass in diesem System nichts klappen will, tendieren Menschen dazu, nichts mehr zu wollen. Kriege, Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern oder die zermürbende Bürokratie können dazu führen, dass Individuen apathisch werden. Deshalb sind nicht abstrakte, sondern genau diese alltäglichen Bedingungen, die unser freies Denken und Empfinden blockieren, zum Gegenstand der Kritik zu machen. Spinoza und Nietzsche taten dies. Ihre Philosophie war das Ergebnis einer Suche nach Freiheit im Denken und im Handeln für Einzelne, die sich in ungünstigen soziopolitischen und kulturellen Umständen wiederfinden.

Ihre Monographie, die auf Ihrer Dissertation beruht, trägt den Titel »Konfliktfähig« und ist als philosophiehistorisches Plädoyer für Streitkultur zu verstehen. Was meinen Sie mit diesem Adjektiv?
Konfliktfähig sein heißt für mich, die Fragen anderer ernst nehmen zu können. Konfliktfähigkeit ist eine individuell-ästhetische Leistung und eine gesellschaftlich-politische Kapazität zugleich. Konfliktfähig ist jemand, der es riskiert, im Alltag aus seiner kulturellen, ethnischen, re­ligiösen und politisch-ökonomischen Komfortzone herauszutreten. Konfliktfähig ist eine Gesellschaft, welche die produktive Auseinandersetzung ihrer Mitglieder und deren heterogene Werte fördert. Daran glauben ­weder Anhänger des Kulturrelativismus noch Pseudouniversalisten, die beispielsweise eine »Leitkultur« propagieren. Ich hingegen gehe davon aus, dass nur Konfliktfähigkeit im Denken und im Handeln die moderne Demokratie vor dem gegenwärtigen Autoritarismus und den zukünftigen Gefahren durch Künstliche ­Intelligenz schützen kann. Beide versprechen nämlich dasselbe: fremdbestimmten Komfort im Leben – in einer scheinbar konfliktfreien Welt.

»Mangelnde Streitkultur ist Ausdruck gesellschaftlicher Konformität. Dagegen kämpften Spinoza und Nietzsche.«

Warum lohnt sich die Lektüre von Spinoza und Nietzsche, wenn man sich mit dem Verfall der gegenwärtigen Debattenkultur ­befasst?
Mangelnde Streitkultur ist Ausdruck gesellschaftlicher Konformität. Da­gegen kämpften Spinoza und Nietzsche. Sie waren Verfechter des Wandels und kritisierten den Status quo in den vorherrschenden Denkmustern ihrer jeweiligen Zeit. Spinoza zeigt, dass die moderne Demokratie eine inklusive, sich selbst korrigierende und immer verjüngende Gesellschaftsform der Lebensfreude hervorzubringen vermag. Sein Denken motiviert dazu, aus Leid und aus Scheitern zu lernen und über das, was ist, hinauszustreben, um auf diesem Wege Gleichgesinnte zu finden. Nietzsche hingegen warnt vor einer Selbstverherrlichung der Demokratie, vor desensibilisierender Reizkultur und vor einer intellektuell sowie kulturell bedingten Perspektivenverengung durch die dominanten Strömungen der Ära, in der man lebt. Sie waren und sind Denker der Krise.

Wie ließe sich mit Spinoza das Unvermögen, Dissens auszuhalten, kritisieren?
Spinozas Ziel, die Demokratie zu errichten, setzt eine aktive Auseinandersetzung mit Dissens voraus. Sein soziopolitischer Begriff der Nächstenliebe zielt darauf ab, dass sich »eine freie Menge« (multitudo libera) in ihrer Verschiedenheit selbst or­ganisiert, um so einen demokratischen Staat (imperium) zu bilden. Politische Unfähigkeit, Dissens aus­zuhalten, führt zur Tyrannei, in der nur einer oder keiner seine Freiheit ausleben kann – oder zur Barbarei.

Und wie kann man sich jener von Nietzsche diagnostizierten kul­turell bedingten Perspektivenverengung entziehen?
Ein Anfang besteht darin, mit Nietzsche zu akzeptieren, dass alle auf der Bühne der Wahrheit immer mit einer kulturell bedingten Perspektivenverengung auftreten. Die tatsächliche Frage lautet, was solche Teilwahrheiten in einer Gesellschaft ausrichten. Weil niemand immer recht haben kann, verlangt es nach Offenheit für die eigene Fehlbarkeit, Bereitschaft zum Gespräch und dem Willen zur Selbstüberwindung. Das sind nicht zufällig Merkmale einer vitalen Demokratie.

Wenn sich Spinoza und Nietzsche durch widerstrebende Einschätzungen der Demokratie auszeichnen – welches der beiden Werke ist gewinnbringender?
Nicht selten werden aus Spinoza- und aus Nietzsche-Lesern jeweils treue Anhänger. Merkwürdig, wenn man bedenkt, welche Unabhängigkeit des Denkens beide Philosophen ihr ganzes Leben lang suchten. Ich empfehle deshalb, Nietzsche zu lesen, um sich von Spinozas »Lehren« zu befreien, und nicht, um diese durch Nietzsche zu bestätigen – oder umgekehrt Spinoza zu lesen, um sich von Nietzsches »Lehren« zu befreien. In »Konfliktfähig« plädiere ich vor allem dafür, beide Denker in ihrem produktiven Gegensatz neu zu entdecken. So gewinnen Nietzsche und Spinozas Argumente mehr ­Brisanz und der Leser mehr kritische Distanz.


Buchcover

Jean Yhee: Konfliktfähig. Die politische Streitkultur in Nietzsches Spinoza-Rezeption. Felix-Meiner-Verlag, Hamburg 2022, 310 Seiten, 49 Euro