Freiheit ohne Gesellschaft
Freiheit war immer schon in Unfreiheit verstrickt. Die attische Demokratie, radikaldemokratischer als alles, was in der Moderne unter diesem Namen firmiert, war das Produkt einer Sklavenhaltergesellschaft, die eine große Mehrheit der Polis-Bewohner in rechtloser Abhängigkeit hielt. Die nordamerikanischen Revolutionäre, die das weltgeschichtlich unerhörte Recht auf »Life, Liberty and the pursuit of Happiness« proklamierten, bereicherten sich zugleich ganz selbstverständlich an Landraub, Menschenhandel und massenhafter Ausrottung.
Die Muße der wenigen, die diesen die Freiheit gab, selbständig zu denken und zu handeln, beruhte stets auf der Plackerei der vielen; das Privileg eines einigermaßen menschenwürdigen Lebens verdankt sich bis heute unmenschlichem Zwang.
Die Forderung nach »Befreiung der Unterdrückten« hat darum immer einen faden Beigeschmack gehabt: Nie konnte man sich ganz sicher sein, ob es denen, die sie aufstellten, wirklich um die Emanzipation des Menschengeschlechts ging – oder doch nur darum, selbst zu den happy few zu gehören. Marx etwa spricht darum von Freiheit selten anders als mit einer gewissen ironischen Distanz; die Rede vom »doppelt freien Lohnarbeiter« – frei im Verkauf der eigenen Arbeitskraft, weil frei von Produktionsmitteln – ist nur das bekannteste Beispiel.
Als der Bourgeoisie unter dem Eindruck der Französischen Revolution klar wurde, was ihr und ihren Besitztümern drohen könnte, setzte sich das liberale Ideal vom Nachtwächterstaat durch.
So wenig geheuer einem der ganze Freiheitspathos immer schon gewesen sein mag, kann man dennoch feststellen, dass sich in jüngster Zeit etwas darin verschoben hat. Was einmal das Markenzeichen der Linken gewesen war, dem die Herrschenden den Ruf nach Ruhe und Ordnung entgegenhielten, ist fast vollständig zur Propagandaphrase der Reaktion erniedrigt. Wo heute die Parole der Freiheit ertönt, handelt es sich entweder um die Begleitmusik zur »Deregulierung«, der Beseitigung von Arbeitnehmerrechten, Umweltschutzauflagen und sozialstaatlichen Transferleistungen, oder aber um das Gejammer von Wutbürgern, die es nicht ertragen, daran erinnert zu werden, dass sie in einer Gesellschaft leben.
Man kennt das Spiel inzwischen zur Genüge: Verbitten sich Frauen anzügliche Witze oder anderes Altherrengehabe, handelt es sich nicht etwa um die Einhaltung zivilisatorischer Mindeststandards, sondern um einen Angriff auf die Meinungsfreiheit. Und wenn in einer Pandemie der Besuch von Restaurants oder Muckibuden zeitweise eingeschränkt wird, dann droht nichts Geringeres als das »Vierte Reich«.
Natürlich ist nichts einfacher, als den Nachweis zu führen, wie scheinheilig und schal solcherart Freiheitsgeschrei ist. Die gleichen Gestalten, die sich so gerne als Märtyrer der politisch korrekten Meinungsdiktatur inszenieren, wenn sich irgendwer erdreistet, ihr Gefasel nicht einfach widerspruchslos hinzunehmen, sind stets ganz vorne mit dabei, wenn es etwa, wie derzeit in vielen republikanisch regierten US-Bundesstaaten, darum geht, Schulbibliotheken von unliebsamen Büchern zu säubern. Elon Musk, der Twitter kaufte, damit Rassisten und Antisemiten endlich ohne Angst vor »Zensur« so reden können, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, aber die Plattform für Kritiker der türkischen oder der indischen Regierung sperrt, sobald Recep Tayyip Erdoğan oder Narendra Damodardas Modi es verlangen, ist das beste Beispiel für diesen Typus. Das erklärt freilich nicht, warum die Rechten neuerdings so erpicht darauf sind, sich als Freiheitskämpfer zu inszenieren.
Einen Hinweis dazu liefert die belgische Historikerin Annelien de Dijn. In ihrem 2020 erschienenen Buch »Freedom: An Unruly History« zeigt sie, dass es bereits im 19. Jahrhundert zu einer folgenreichen Umwertung des Freiheitsbegriffs kam. Von der Antike bis zur Aufklärung wurde Freiheit, so de Dijn, stets republikanisch interpretiert, im Sinne gemeinsamer gesellschaftlicher Selbstbestimmung.
Erst unter dem Eindruck der Französischen Revolution, als der Bourgeoisie klar wurde, was ihr und ihren Besitztümern drohen könnte, wenn den Deklassierten ein Mitspracherecht bei der Regelung der allgemeinen Angelegenheiten eingeräumt werden würde, setzte sich bei ihr ein neues Verständnis von Freiheit durch: das liberale Ideal vom Nachtwächterstaat, der seinen Bürgern so wenig wie möglich in die Quere kommt – ein Ideal, dessen Erfüllung weit mehr von einer konstitutionellen Monarchie zu erwarten stand als von einer demokratischen Republik. Der infantile Freiheitsbegriff von heute, der alles, was daran gemahnt, dass man die Welt mit anderen zu teilen hat, als tyrannische Zumutung versteht, ist da nur die logische Vollendung.
Heutzutage sollen die Menschen sich alles als ihr ureigenes Produkt zurechnen, ihren Job, ihre Beziehungskisten, ihre Schicksalsschläge – alles, außer natürlich die Welt, die sie, ohne es zu wissen, gemeinsam hervorgebracht haben.
Das Problem ist nur: Wo Freiheit sich nicht mehr an ihrem Widerpart, der Objektivität, zu bewähren hat, schlägt sie in schiere Willkür, das Gegenstück von Selbstbestimmung, um. Die vorherrschende Vorstellung von Freiheit war immer auch, mit all den ihr innewohnenden Tücken, geistige Widerspiegelung der Arbeit: Erweiterung der Möglichkeiten durch Zurückdrängen der Naturschranken, auch und gerade der der inneren Natur. Keine größere Gefahr für die Freiheit, da waren sich von Aristoteles bis Kant alle einig, als die individuellen Leidenschaften.
Die tiefgreifenden Veränderungen des Produktionsprozesses sorgen freilich dafür, dass nunmehr statt der Arbeit die Konsumtionssphäre, wo der Kunde König ist, diese Rolle übernimmt; und wo Freiheit auf die Wahl zwischen McDonald’s oder Burger King, Tiktok oder Instagram reduziert ist, kann man an ihr bloß noch verrückt werden.
Darauf, dass der allgegenwärtige Druck, die eigene Freiheit permanent unter Beweis zu stellen, diese selbst zu etwas Heteronomem, Zwanghaftem gerinnen lässt, weisen auch Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey in ihrer Untersuchung »Gekränkte Freiheit« hin. Heutzutage sollen die Menschen sich alles als ihr ureigenes Produkt zurechnen, ihren Job, ihre Beziehungskisten, ihre Schicksalsschläge – alles, außer natürlich die Welt, die sie, ohne es zu wissen, gemeinsam hervorgebracht haben.
Kein Wunder, dass sie darauf mit paranoider Selbstbehauptung reagieren. Und wie immer hat die Paranoia die feine Witterung dafür, was es zuvörderst zu bekämpfen gilt: dass mit der allgemeinen Entgesellschaftung, auch die Macht repressiver Gemeinschaften über die ihr Unterworfenen brüchig wird.