Das Buch »Gekränkte Freiheit« und die autoritären Persönlichkeiten heute

Verdinglichte Freiheit

In ihrer Studie »Gekränkte Freiheit« beschreiben Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey das, was sie als »libertären Autoritarismus« bezeichnen, nämlich das undialektische und narzisstische Verständnis der Freiheit.

Wer Kinder kennt, der weiß: Nichts ist schlimmer als ein gebrochenes Versprechen. Kinder merken sich genau, was ihnen wann versprochen wurde, und reagieren selbst auf die kleinste Abweichung vom Schwur mit äußerster Enttäuschung. Das ist verständlich. Predigen nicht die Erwachsenen laufend, ein Versprechen sei heilig? Wie soll man nicht nur ­jemandem, sondern wie soll man irgendetwas glauben, wenn schon die vertraulichste Prophezeiung durch die Eltern scheitert?

Erwachsene haben sich daran gewöhnt, dass ihre Erwartungen enttäuscht werden können. Nur empfangen sie Versprechungen längst nicht nur von anderen Menschen, manche kommen diffuser, abstrakter daher. Dazu zählt unter anderem das Freiheitsversprechen, das niemand explizit ausspricht, obwohl es zu jeder westlichen Gesellschaft gehört. Diesem haben die Literatursoziologin Carolin Amlinger und der Soziologe Oliver Nachtwey im vergangenen Jahr ein Buch gewidmet.

Unter dem Titel »Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus« fragen sie unter anderem danach, was passiert, wenn ein zen­tra­les Versprechen der Moderne nicht erfüllt wird. Wenig überraschend spielen gleich am Anfang die »Studien zum autoritären Charakter« eine Rolle, die Theodor W. Adorno, Else Frenkel-Brunswik und andere 1950 in den USA unter dem Titel »The Authoritarian Personality« veröffentlicht haben. Die »Studien« fragten empirisch nach den charakterlichen Strukturen, die eine Anfälligkeit für faschistische Propaganda begünstigen.

Es ist eine Stärke des Buchs, dass Amlinger und Nachtwey in der Lage sind, dialektisch zu denken. Das kann gar nicht genug betont werden in Zeiten, in denen es an ­unterkomplexen Zeitdiagnosen, »Streitschriften« und anderem pseudosoziologischem Papiermüll alles andere als mangelt.

Über 70 Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung hat diese Untersuchung wieder Konjunktur. Schon der Sammelband »Konformistische Rebellen« (2020), der sich ebenfalls erklärtermaßen der »Aktualität des autoritären Charakters« widmete, erschien im ersten Jahr der Covid-19-­Pandemie zur denkbar besten Zeit. Im selben Jahr gingen erstmals Gegner der Pandemiemaßnahmen auf die Straße. Der Protest, der sich gegen umfassende und staatlich verordnete Freiheitseinschränkungen richtete, verband sich schnell mit rechtsextremer Propaganda, teils antisemitischen Verschwörungsmythen und einer weitreichenden Verzerrung der Faktenlage.

Auf knapp 400 Seiten widmen sich Amlinger und Nachtwey solchen und ähnlichen Bewegungen und Charakteren, die im Namen der Freiheit gegen die Aufklärung und die liberale Gesellschaft protestieren – der Pandemie widmen sie dabei ein eigenes Kapitel. 1.200 Menschen aus den entsprechenden Milieus haben sie zunächst für eine Befragung re­krutiert, um anschließend mit mehr als 40 Teilnehmer:innen qualitative Interviews zu führen. Zudem sind »ethnographische Beobachtungen und digitale Kommunikationen« eingeflossen.

Zentral für die Interpretation des Materials ist der von Amlinger und Nachtwey entwickelte Begriff der »verdinglichten Freiheit«, einer Freiheit, die es nicht als universellen Wert »gibt« (oder eben nicht gibt), sondern die Menschen vielmehr warenförmig »besitzen« können. Diesem Verständnis zufolge seien persönliche Freiheitsgrade im Wett­bewerb zu erkämpfen, wobei der Kampf einer naturalisierten kapitalistischen Logik folgt: Mehr Freiheit für mich bedeutet weniger Freiheit für andere, und umge­kehrt.

Weiterhin machen die Autor:innen ein allgemeines »Fehlen kollektiver Deutungsmuster sozialer Ungleichheit« aus – vor ein paar Jahren hätte man vielleicht noch, oh Schreck, »Klassenbegriff« gesagt –, das erheblich dazu beitrage, dass Unmut über nicht erfüllte Freiheitsversprechen und empfundene Ungerechtigkeiten sich hasserfüllt an Minderheiten entlädt, anstatt sich gegen Institutionen und Entscheidungsträger zu richten. Das taugt beeindruckend gut, um den Erfolg vermeintlicher Freiheitskämpfer auch außerhalb Deutschlands zu erklären, wie den des jüngst in Argentinien zum Präsidenten ­gewählten Rechtslibertären Javier Milei, der nach Trump’schen Vorbild extremen Liberalismus verspricht, freilich nicht ohne Freiheiten von Mi­grant:innen weitgehend einschränken zu wollen.

»Gekränkt« sind die Freiheitsliebenden dem Buch zufolge auch deshalb, weil sie eine Form moderner Vergesellschaftung derart verinnerlicht haben, dass sie ihnen gar nicht mehr wie eine solche vorkommt. Dass die Freiheit, die eigene Arbeitskraft zu verkaufen, eine vergiftete ist, verstehen Nachtwey und Amlinger korrekt nach Marx: »Aus der rein formalen Freiheit in arbeitsteilig organisierten Marktgesellschaften resultiert so der Widerspruch, de jure frei zu sein, aber de facto nicht über sich selbst bestimmen zu können.«

Bei ihrer Deutung des Begriffs der Kränkung beziehen sich die Autor:in­nen auch auf die »Sozialfigur des Narzissten«. Dabei verstehen sie Narzissmus als »Kränkung des Selbst«, die beispielsweise mit der Einsicht entstehen kann, dass einem der gesellschaftliche Aufstieg trotz größter persönlicher Anstrengungen versagt bleibt. Mangels »kollektiver Deutungsmuster« bleibt den Enttäuschten wenig anderes übrig, als diese Ungerechtigkeit als persönliches Ver­sagen zu interpretieren. Es gelingt den Autor:innen, nicht der Versuchung einer pathologisierenden Modediagnose zu erliegen, auch wenn das von dieser Deutung getroffene Milieu es gern so zu beschreiben versucht.

Überhaupt ist es eine Stärke des Buchs, dass Amlinger und Nachtwey in der Lage sind, dialektisch zu denken. Das kann gar nicht genug betont werden in Zeiten, in denen es an ­unterkomplexen Zeitdiagnosen, »Streitschriften« und anderem pseudosoziologischem Papiermüll alles andere als mangelt. Amlinger und Nachtwey wissen, dass sie sich mit der Analyse von Begriffen wie Freiheit, Fortschritt und Aufklärung in teils jahrhundertealte philosophische Traditionen einreihen, welche diese großen Worte stets in ihrer Ambivalenz zu fassen wussten – nicht zuletzt seit die »Dialektik der Aufklärung« verdeutlichte, wie Freiheit und Fortschritt in ihr totales Gegenteil umschlagen können.
Neben vielen Klassikern rezipiert das Duo eine Vielzahl moderner ­soziologischer Theorien, von Ulrich Beck bis Andreas Reckwitz, und bleibt damit angenehm anspruchsvoll.

Dass dies durchaus Seltenheitswert hat, zeigen jüngere neoliberale Ergüsse wie »Freiheit beginnt beim Ich« (2022) von Anna Schneider oder Ulf Poschardts »Mündig« (2020). Der Versuch, den Freiheitsbegriff wieder antiintellektuell zu vereindeutigen, mündet dort meist in fröhlich von jedem Inhalt befreite Verse (»Freiheit ist Freiheit«, Schneider; »Ein freier Mensch kann fliegen«, Poschardt), die jedes Nachdenken über den Gegenstand verbieten wollen. Der Vorwurf, Amlinger und Nachtwey würden solche Charaktere, von denen zumindest Schneider in »­Gekränkte Freiheit« namentlich genannt wird, »infantilisieren«, ist witzig – weil er sich darüber empört, dass jemand das Offensichtliche ausspricht.

Amlinger und Nachtwey wissen, dass sie sich mit der Analyse von Begriffen wie Freiheit in teils jahrhundertealte philosophische Traditionen einreihen, welche diese großen Worte stets in ihrer Ambivalenz zu fassen wussten.

Gut getan hätte es dem Buch vor diesem Hintergrund allerdings, wenn die Autor:innen selbst auf gelegentliche Ausflüchte in die aka­demische Prosa verzichtet hätten. Zwar bleiben Stilblüten wie der Satz »Der süße Nektar der Ungewissheit schmeckte am besten im Kelch der ­sozialen Sicherheit« in dieser geballten Groschenromanhaftigkeit die Ausnahme, sie laufen aber Gefahr, den intellektuellen Gehalt des Buchs empfindlich zu übertünchen.

Die linksradikale Leserschaft könnte zudem nicht nur stilistisch gelegentlich enttäuscht sein, insbesondere an den Stellen, an denen Amlinger und Nachtwey erkennen lassen, dass sie trotz aller marxistischen Lektüre doch nicht zu Kommu­nis­t:in­nen geworden sind. Das wird ins­besondere deutlich, wenn sie den »vertikalen Klassenkampf« zwar nicht für »per se problematisch« halten, es aber als »nostalgisch« verwerfen, ihn dem Kampf von Minderheitengruppen für ihre partikularen Interessen (vulgo: der Identitätspolitik) »antagonistisch« gegenüberzustellen.

Interessant wäre es auch gewesen, verschiedene Konzepte des Buchs auf progressive Bewegungen auszudehnen: Kann ein immer lauter werdender Ruf nach identitärer Selbstbestimmung in westlichen Gesellschaften als Ausdruck jener »­regressiven Modernisierung« verstanden werden, die die Autor:in­nen so zusammenfassen: viele Optionen, aber keine Alternative? Verlangen manche Linke zuvorderst nach der Freiheit und Gleichheit auf dem Arbeitsmarkt, weil ihnen eine Befreiung vom Zwang der Institutionen oder gar der Arbeit selbst längst unvorstellbar vorkommt?

Dem Buch vorzuwerfen, nicht die Gesamtheit aller Freiheitskonflikte in liberalen Gesellschaften auszuleuchten, ist aber nicht ganz fair. Erklärtermaßen will es »Aspekte« verdeutlichen und gibt sich im Fazit entsprechend angenehm ergebnisoffen. Dass »Gekränkte Freiheit« viele Gedanken zusammenführt, andere anregt und zudem auch nach knapp einem Jahr an Aktualität nur gewonnen hat, spricht für sich.


Buchcover

Carolin Amlinger, Oliver Nachtwey: ­Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus. Suhrkamp, Berlin 2022, 480 Seiten, 28 Euro