Deutsche, die sich als Widerstandskämpfer inszenieren

Deutsche Proteste

Bei den Anti-AfD-Protesten inszenieren sich etliche als Widerstandskämpfer. Aus der Geschichte gelernt, wie es so gerne heißt, haben sie offenbar nicht.
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Die Freude ist groß in der Medienöffentlichkeit, der Stolz ist kaum zu überhören: Deutschland ist antifaschistisch. Im gesamten Land demonstrierten Abertausende Menschen gegen die AfD. In Hamburg und München musste der antifaschistische Protest sogar wegen Überfüllung abgebrochen werden. Auslöser war der Bericht des Recherchenetzwerks Correctiv über ein geheimes Treffen von Rechtsextremen. »Knapp acht Kilometer entfernt« von dem Haus der Wannseekonferenz diskutierten diese demnach über »Remigration« aller, die ihrem Verständnis nach nicht als Deutsche gelten.

Die Nähe zu dem geschichtsträchtigen Haus am Wannsee, wo die Nazis 1942 die systematische Vernichtung der Juden koordinierten, war dem Recherchenetzwerk zufolge »womöglich« ein »Zufall« – aber erwähnenswert immerhin. Bei Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) weckte das konspirative Treffen sogleich böse Erinnerungen an die »furchtbare Wannseekonferenz«. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) schlug ebenfalls Alarm: »Mit Deportationen hat auch damals alles angefangen.« Und die Juristenverbände warnten vor einer »zweiten Wannseekonferenz« – als hätte es die Reichspogromnacht oder die Nürnberger Rassegesetze nie gegeben, als hätte nicht schon am Tag eins der Nazi-Diktatur für alle Deutschen sichtbar die Verfolgung der Juden begonnen.

Kein Wunder, dass Demonstrationsteilnehmer sich in der Tradition Sophie Scholls oder Georg Elsers verstanden. Zumindest war auf einigen Protestschildern zu lesen, man könne nun endlich herausfinden, »was wir anstelle unserer Großeltern getan hätten«. Und auf Initiative des Potsdamer Oberbürgermeisters Mike Schubert (SPD) fand am 27. Januar, dem Holocaust-Gedenktag, im Hans-Otto-Theater in Potsdam eine szenische Lesung zu eben den Recherchen von Correctiv statt.

Der Antisemitismus war das Kernelement des Nationalsozialismus.

Der Kampf gegen die NSDAP kann jetzt nachgeholt werden. Mit dem kleinen, aber entscheidenden Unterschied, dass sich eben jene Widerstandskämpfer damals hätten gegen die Macht stellen müssen und derzeit für diese oder zumindest an ihrer Seite kämpfen, aber denken, sie wären in der Opposition. In einer Videobotschaft stärkte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) den plötzlichen Antifaschisten den Rücken und forderte alle Menschen in Deutschland dazu auf, Stellung zu beziehen. Auch er verglich die Vertreibungspläne mit der Rassenideologie der Nazis. Stolz deklarierte die Medienseite Volksverpetzer: »Das, liebe AfD, ist das ›Volk‹, von dem ihr immer behauptet, ihr würdet für sie sprechen. Das ist die Mehrheit der Deutschen! Und sie wollen euch nicht!«

Die Demonstrationen wurden schnell zum Selbstläufer. Sie entwickelten eine Dynamik, wie man sie aus Anlass des am 7. Oktober verbrochenen größten antisemitischen Massakers nach 1945 noch immer vermisst. Die Größe von Demonstrationen gibt Auskunft über gesellschaftliche Prioritätensetzung. Wer derzeit bei den Protesten gegen die AfD das Versagen der eigenen Großeltern aufzuarbeiten meint, es seit dem 7. Oktober indes noch immer nicht geschafft hat, sich solidarisch mit dem jüdischen Staat und der jüdischen Diaspora zu zeigen, hat einen entscheidenden Punkt vergessen: Der Antisemitismus war das Kernelement des Nationalsozialismus.

Dem Angriff der Hamas auf Israel folgte eine Welle antisemitischer Attacken in Deutschland. In Berlin wurde ein Molotow-Cocktail auf eine Synagoge geworfen. Eine Jüdin musste in Köln aus ihrer WG ausziehen. In einer Berliner McDonald’s-Filiale wurden zwei Israelis angegriffen, weil sie Hebräisch sprachen. Das sind nur wenige Beispiele des Alltags von Juden in Deutschland seit dem 7. Oktober.

2.249 antisemitische Straftaten erfasste das Bundeskriminalamt seitdem; zum Vergleich: Im gesamten Jahr 2023 waren es 2.300. Auf keinen dieser Vorfälle folgten Massendemonstrationen. Dass dieser Tage Hunderttausende gegen die AfD protestierten, der Zulauf zu Demonstrationen gegen Antisemitismus hingegen selten für mehr als dreistellige Teilnehmerzahlen reichte, beweist somit vor allem eines: den Gratismut derer, die sich gerade als Widerstandskämpfer inszenieren.

Die Stärke der AfD ist bedrohlich, keine Frage. Sie ist jedoch nicht das einzige Problem und nicht die einzige bedrohliche Entwicklung derzeit.

Es versuchten sogar bundesweit israelfeindliche Kräfte, die Proteste gegen die AfD zu kapern – teils mir Erfolg. In Münster wollte das Jugendbündnis gegen Antisemitismus eine Rede gegen Antisemitismus halten, wurde aber eigenen Angaben zufolge von der Gruppe Palästina Antikolonial daran gehindert. Wer als Antifaschist ernst genommen werden möchte, müsste zumindest die unzähligen Versuche der Hamas-Apologeten, die derzeitigen Proteste für sich zu vereinnahmen, abwehren, sie von vornherein für unerwünscht erklären und versuchen, sie aus den Demonstrationen herauszudrängen.

Die Stärke der AfD ist bedrohlich, keine Frage. Stark bleibt sie auch, trotz der Proteste. Nach der Veröffentlichung der Recherchen nahm die Zahl der Parteimitglieder sogar zu. Die AfD ist jedoch nicht das einzige Problem und nicht die einzige bedrohliche Entwicklung derzeit. Im Umgang mit ihr zeigt sich auch die selbstzufriedene Selbstinszenierung der wiedergutgewordenen Deutschen.

Als am Tag der Befreiung von Auschwitz 2.500 Feinde Israels auf den Straßen Berlins die Erinnerung an die Opfer der Shoah für ihren Hass instrumentalisierten, hätten die selbsternannten Widerstandskämpfer beweisen können, wie ernst sie es meinen. Zum Gegenprotest gekommen sind allerdings nur etwa 160 Menschen – keine Abertausende.