Die Historikerin Dagmar Herzog erzählt die Geschichte der Psychoanalyse nach 1945

Paul Parin und Hunderte Freuds

Die Diskussion über Entschädigungen für Überlebende der Shoah, die Studentenbewegung und der Poststrukturalismus prägten die Psychoanalyse in der Nachkriegszeit. Die Historikerin Dagmar Herzog erzählt die Geschichte der Psychoanalyse während des Kalten Kriegs in ihrem Buch »Cold War Freud« – und arbeitet auch heraus, wie sich Analytiker untereinander stritten.

Die erst knapp mehr als ein Jahrhundert existierende Psychoanalyse besteht aus mehr als nur therapeutischer Praxis und theoretischen Schriften, pendelt nicht nur zwischen Wissenschaft, Psychiatrie und Kulturkritik hin und her und dreht sich auch nicht ausschließlich um Sigmund Freud. Kenner der Psychoanalyse wissen das. Die Vorurteile über sie flammen dennoch immer wieder auf und sind noch sehr heftig.

Die Historikerin Dagmar Herzog liefert nun in ihrem neuen Buch einen beachtlichen Beitrag dazu, diesem Missstand abzuhelfen. »Cold War Freud« behandelt die Konfrontation freudianischer Theorien mit den Katastrophen in Folge des Zweiten Weltkriegs. Die Professorin für Geschichte an der City University of New York interessiert sich in ihrem Buch dafür, wie sich die Frage nach dem Verhältnis von Psyche und Politik, Selbst und Gesellschaft in der Phase des Kalten Kriegs neu stellte.

Herzogs quellenreiche Studie liefert eine exzellente Gelegenheit, um nachzuvollziehen, wie die verschiedenen freudianischen Strömungen miteinander konkurrierten, ihre Vertreter sich voneinander abstießen und sich beieinander bedienten.

»Cold War Freud« will darstellen, wie die Geschichte des 20. Jahrhunderts den Theorien und Instituten der Psychoanalyse eine Aktualisierung abverlangte. Denn es gab in dieser Zeit Herzog zufolge nicht eine oder mehrere, nein, Hunderte Weiterentwicklungen Freuds.

Ihre quellenreiche Studie liefert eine exzellente Gelegenheit, um nachzuvollziehen, wie diese verschiedenen freudianischen Strömungen miteinander konkurrierten, ihre Vertreter sich voneinander abstießen und sich beieinander bedienten. Eines steht nach Lektüre des Buches außer Frage: Zwischen Politik und Psychoanalyse besteht ein unzertrennliches Band, auch wenn das der psychoanalytischen Zunft teilweise gar nicht recht ist.

Eingriffe in das Politische sollten unterbleiben

So lässt die Autorin ihre Untersuchung mit einer Aussage des Präsidenten der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV), Ernest Jones, beginnen, der sein Kollegium beim 1949 erstmals seit Kriegsausbruch in Zürich stattfindenden IPV-Kongress zu konsequenter politischer Zurückhaltung und dem Verzicht auf die Teilnahme an der Diskussion »extrapsychischer Bedingungen« aufforderte. Als innerpsychisches Leiden dürfe die Welt und ihr Schrecken das psychoanalytische Behandlungszimmer betreten, Eingriffe in das Politische sollen jedoch ausbleiben.

Selbstverständlich blieb diese Auffassung nicht lange unwidersprochen. Herzog zeichnet durch genaue Lektüre internationaler psychoanalytischer Schriften und Institutionsstellungnahmen nach, wie das Weltgeschehen die Psychoanalyse wieder erfasste. Das Gebot, sich gesellschaftspolitischer Stellungnahme oder gar sozialkritischen Aktivismus zu enthalten, wurde von einer neuen Generation von Analytikern in Frage gestellt. Herzog konstatiert in diesem Zusammenhang: »Die neue Linke war schlicht und ergreifend der Hauptmotor der Erneuerung und kulturellen Konsolidierung der Psychoanalyse in West- und Mitteleuropa sowie ihrer Weiterentwicklung in Lateinamerika.«

Die Achtundsechziger-Revolte und mit ihr die Frauen-, Schwulen-, Lesben-, Friedensbewegung sowie nicht zuletzt die Psychiatriekritik hielten so Einzug in die Psychoanalyse – und sie hinterließen ihre Spuren. Herzog arbeitet konsequent Brüche in den historisch jeweils hegemonialen psychoanalytischen Theoriesträngen heraus und zeigt so auf, dass sich von der Psychoanalyse in keiner Weise sagen lässt, ob sie zu unterdrückenden oder befreienden Zwecken Verwendung findet.

»Libidokriege« um die Stellung der Sexualität in der Psychoanalyse

Im Kapitel »Libidokriege« geht es um die in den Vereinigten Staaten ausgefochtene Kontroverse über die Stellung der Sexualität in der Psychoanalyse. Aus den Positionen von sogenannten Neofreudianern und Ich-Psychologen hebt Herzog die relativ wenig beachtete Analytikerin Karen Horney hervor. Fortschrittlich sei deren Hervorhebung der nichtsexuellen Aspekte der Sexualität, die später vielfach wiederaufgegriffen wurde.

Die Debatten in den USA der Nachkriegszeit, einer Hochphase der psychoanalytischen Profession innerhalb der Psychiatrie, waren sonst vorrangig von sexualkonservativen Einschätzungen geprägt, und man kann dabei die Psychoanalyse mit Fug und Recht als Verfechterin traditionell-konservativer Werte bezeichnen. Das führt Herzog unter anderem auf die Diskussion über die Vereinbarkeit von Religion und Psychoanalyse zurück. Als schlichtweg tragisch müssen hier die homo­sexuellenfeindlichen Impulse psychoanalytischer Fachgesellschaften gelten. »Das Anbieten von verurteilenden Ansichten über die Homosexualität«, so Herzog, »scheint tatsächlich ein wesentliches Element der psychoanalytischen Selbstvermarktung in den USA der Nachkriegsjahre gewesen zu sein.«
 

Dagmar Herzog
Dagmar Herzog, geboren 1961, ist Distinguished Professor of History am Graduate Center der City University New York und Autorin zahlreicher Publikationen zur Sexual- und Geschlechtergeschichte der Moderne, zur Holocaustforschung und zur Geschichte der Religion (Bild: © Jürgen Bauer)


Als Mitte der fünfziger Jahre schließlich die empirische Sexualforschung von Alfred Kinsey und die Sexualtherapie von William Masters und Virginia Johnson aufkamen, wurde es kompliziert: Die Psychoanalyse erhält ernstzunehmende Konkurrenz. Gegen die offensive und zugleich wissenschaftlich-neutrale Thematisierung gewöhnlicher Sexualpraktiken der US-amerikanischen Bevölkerung durch die Sexualforschung trat die Psychoanalyse als Bewahrerin von Liebe und Zweisamkeit auf.

Dass sich Psychoanalyse, die zuvor skandalisiert worden war, weil sie die Bedeutung der Sexualität hervorgehoben hatte, von dieser abwendete und zur Verteidigerin einer in die Sprache der Liebe verkleideten Sittlichkeit wurde, bezeichnet Herzog als »Christianisierung«. Besondere Würdigung durch die Autorin erfahren in dem Zusammenhang sexualliberale Analytiker wie beispielsweise Robert J. Stoller, der, vor dem Hintergrund der Protesten von Lesben und Schwulen, als empathischer und unerschrockener fachinterner Kritiker von Homophobie in der Psychoanalyse beschrieben wird.

»Erbschaften des Nationalsozialismus«

Im Kapitel »Erbschaften des Nationalsozialismus« behandelt die Autorin die Debatte über die Entschädigung von Shoah-Überlebenden, die ein 1956 in der Bundesrepublik verabschiedetes Gesetz zu Rentenansprüchen an durch Nazi-Verbrechen erwerbsunfähig gewordene Opfer auslöste. Das Ringen um die Anerkennung von Traumata als durch die Konzentrations- und Arbeitslager entstandene psychische Verletzungen führte schlussendlich dazu, dass die Diagnostik der posttraumatischen Belastungsstörung etabliert wurde.

Psychoanalytische Entschädigungsgegner und -befürworter stritten dabei darüber, wie die Bedeutung gewalttätiger äußerer Erfahrungen einerseits und innerpsychischer Konfliktlagen andererseits bei der Entstehung von Depressionen zu gewichten seien. Es war der Einspruch des emigrierten Analytikers Kurt Eissler, durch welchen sich die Debatte zugunsten von Entschädigungszahlungen auf Basis psychiatrischer Einschätzungen wendete.

Dass sich die globalen gesellschaftlichen Erschütterungen stark auf psychoanalytische Behandlungen auswirken, kann nicht geleugnet werden. Aus gutem Grund schließt das Kapitel über die neuerliche psychoanalytische Beschäftigung mit Aggression daran an. Alexander Mitscherlich tritt dabei als psychoanalytischer Gegenspieler zu Konrad ­Lorenz und seiner evolutionsbiologischen Aggressionstheorie in Erscheinung. Ob Herzog mit ihrer Einschätzung richtig liegt, wonach ­Lorenz – selbst NSDAP-Mitglied und nachweislich teils eugenisch argumentierend – der Initiator der im postnationalsozialistischen Deutschland aufflammenden psychoanaly­tischen Debatte über die Aggression war, sei dahingestellt.

In der Arbeit von Paul Parin, Goldy Parin-Matthèy und Fritz Morgenthaler kulminieren die in den vorangegangenen Kapiteln verhandelten Schwerpunkte.

Im letzten Kapitel »Ödipus in die Luft jagen« kommt der für den Poststrukturalismus kanonische »Anti-Ödipus« von Gilles Deleuze und Félix Guattari zu seinem Recht. Deren Fundamentalkritik an Freud ließ es, so Herzog, umso dringlicher erscheinen, das Politische einzubeziehen. Sie würdigt in diesem Zusammenhang nicht nur den oft diskreditierten sexualrevolutionären Kommunisten und Psychoanalytiker Wilhelm Reich, sondern stellt auch Félix Guattari als eigenständigen Denker und Analytiker heraus. Er gilt ihr als »eine entscheidende Figur in der weitaus größeren transnationalen Welle der linkspolitisch engagierten Revitalisierung der Psychoanalyse«. Großen Anklang fand die«chaotisch-lustvolle Mischung« der antiödi­palen Intervention bei gesellschaftspolitisch engagierten Psychoanaly­tikern im lateinamerikanischen Raum.

Politisierung der Psychoanalyse, Globalisierung von kritischem Denken

Ganz zum Schluss ihrer Untersuchung gelangt Herzog schließlich zu einem psychoanalytischen Trio, das womöglich die größte Inspiration für das Buch war. In der Arbeit von Paul Parin, Goldy Parin-Matthèy und Fritz Morgenthaler kulminieren nämlich die in den vorangegangenen Kapiteln verhandelten Schwerpunkte.

Die von diesen linken Analytikern in Zürich entwickelte Ethnopsychoanalyse handelt von Sexualität, der Beziehung zum Politischen, der Bedeutung der Aggression und der Stellung des Ödipuskonflikts; sie beruhte vor allem auch auf ethnographischer Forschung fernab Europas, der Nähe ihrer Vertreter zu sozialen Bewegungen und der aktiven Beteiligung an antifaschistischen und sozialen Kämpfen. Aus Herzogs Darlegung spricht durchaus Bewunderung für den im Zusammenhang mit der Zürcher Schule direkt aus der Psychoanalyse hergeleiteten »aufbegehrenden Befreiungsimpuls«.

Nach Herzog war es denn auch die gerade von vielen altgedienten und linientreuen Psychoanalytikern gefürchtete rebellische Studentenbewegung, die nicht nur zu einer Politisierung der Psychoanalyse, sondern auch zu einer Globalisierung von kritischem Denken geführt hat. Diese historische Rekonstruktion in »Cold War Freud« überzeugt. Sie macht aber auch neugierig auf mehr: Wie würde sich eigentlich die Geschichte der Psychoanalyse aus konservativer Perspektive darstellen? Und welche Stellung hat die Psychoanalyse heute im Kontext der umfassenden sexuellen Liberalisierung in der westlichen Welt?

Buchcover Cold War Freud

Dagmar Herzog: Cold War Freud. Psychoanalyse in einem Zeitalter der Katastrophen. Aus dem amerikanischen Englisch von Aaron Lahl. Suhrkamp, Berlin 2023, 380 Seiten, 28 Euro