Brasiliens Präsident Lula da Silva vergleicht Israels Kriegsführung mit dem Holocaust

Lula und die Latino-Linke gegen Israel

Brasiliens Präsident Lula da Silva bemüht Holocaust-Vergleiche, um Israels Vorgehen im Gaza-Streifen zu kritisieren, und bekommt dabei Zuspruch von seinen linken Amtskollegen in Bolivien, Chile, Venezuela und Kolumbien. Derweil wird der Antisemitismus in Lateinamerika immer virulenter.

Luiz Inácio »Lula« da Silva gibt sich ­unnachgiebig. »Was die israelische Regierung tut, ist kein Krieg, es ist Völkermord«, schrieb der brasilianische Staatspräsident Ende Februar beim Microblogging-Dienst X. Er meinte weiter, seine »Würde« nicht gegen »Falschheit« tauschen zu wollen. Damit unterstrich er seine wenige Tage zuvor getätigte Aussage, wonach das Vorgehen Israels im Gaza-Streifen historisch nur ein Vorbild habe: »als Hitler beschloss, die Juden zu töten«.

Die kurz vor dem Treffen der Außenminister der G20-Staaten in Brasilien getätigte Aussage hatte scharfe Kritik nach sich gezogen. Israels Außen­minister Israel Katz sprach von einem »schwerwiegenden antisemitischen Angriff«, bestellte den brasilianischen Botschafter in die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem ein und erklärte Lula da Silva zur persona non grata. Er habe »eine rote Linie« überschritten, gab Ministerpräsident Benjamin Netanyahu zu Protokoll. Brasilien berief im Gegenzug seinen Botschafter in Israel zu Gesprächen zurück ins Heimatland.

Lulas Äußerungen sind ein Schlag gegen die traditionell guten Beziehungen der beiden Länder. In seiner ersten Amtszeit Anfang der nuller Jahre hatten die Regierungen in verschiedenen Feldern eng zusammengearbeitet. Brasilien hat sich außerdem 2021 als Beobachter der International Holocaust ­Remembrance Alliance (IHRA) angeschlossen, deren Arbeitsdefinition zu Antisemitismus dessen israelbezogene Spielarten explizit einschließt. Zur Zeit des rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro hatten sich die Beziehungen vertieft – Bolsonaro verlegte die brasilianische Botschaft nach Jerusalem, obwohl in seinem Umfeld auch Antisemiten und Verschwörungstheoretiker agierten.

Lula da Silva will jenem radikalen Teil der brasilianischen Linken imponieren, der seiner allzu kapitalfreundlichen Politik kritisch gegenübersteht.

Hierin dürfte indes einer der Gründe für Lulas drastische Worte liegen. Denn man wird annehmen können, dass Lula weiß, dass der Holocaust-Vergleich Unsinn ist. Vielmehr versucht er, eine Botschaft an die eigenen Anhänger zu senden: Nicht nur will er sich von seinem Vorgänger – der jüngst prompt mit einem Israelfähnchen seinen Anhängern zuwinkte – absetzen, es geht auch darum, jenem radikalen Teil der brasilianischen Linken zu imponieren, der Lulas allzu kapitalfreundlicher Politik kritisch gegenübersteht.

In jedem Fall wirft der Vorfall ein Schlaglicht auf ein Problem der Linken in Lateinamerika, das im Westen häufig übersehen wird. Zwar sind auf dem Subkontinent antisemitische Einstellungen wenig verbreitet und offene Gewalt gegen Jüdinnen und Juden ist vergleichsweise selten. Doch zugleich ist der israelbezogene Antisemitismus unter Linken vollkommen selbstverständlich. So bekam Lula von zahlreichen seiner linken Amtskollegen Zuspruch. Gustavo Petro, Präsident von Kolumbien, sprach ihm »volle Solidarität« aus und redete ebenfalls von einem »Genozid« in Gaza. »Lula hat nur die Wahrheit gesagt«, schrieb er auf X.

Die sogenannte palästinensische Sache spielt eine große Rolle in der Linken in Lateinamerika

Boliviens Staatspräsident Luis Arce erklärte sich ebenfalls solidarisch mit Lula, »weil er die Wahrheit über den Völkermord gesagt hat, der an den mutigen Palästinensern begangen wird«. Bereits im November hatte seine Regierung die diplomatischen Beziehungen zu Israel abgebrochen – die waren gerade erst dabei, sich zu erholen, nachdem sie 2020 wiederaufgenommen worden waren. Arces Vorvorgänger Evo Morales hatte sie 2009 schon einmal abgebrochen.

Kolumbien und Chile hatten schon im vergangenen Jahr ihre Botschafter zurückbeordert. In beiden Ländern ist die Linke zwar gemäßigt, aber traditionell antiimperialistisch geprägt. Petro ist ein ehemaliger Guerillero, Chiles Präsident Ga­­briel Boric Vertreter einer Linken, die gerne der größten palästinensischen Gemeinschaft außerhalb des Nahen Ostens imponiert. Die etwa 500.000 mehrheitlich christlichen Palästinenser Chiles pflegen eine enge Bindung zu Palästina, auch durch den Fußballclub Deportivo Palestino. Boric hatte sich in den Vorwahlen der linken Koalition Apruebo Dignidad gegen den Vertreter der Kommunistischen Partei, Daniel Jadue, durchsetzen müssen – Jadue gehört der palästinensischen Gemeinde an.

Dass die sogenannte palästinensische Sache eine große Rolle in der Linken in Lateinamerika spielt, hat in der Regel weniger mit traditionellen antisemitischen Vorstellungen zu tun. Die jüdischen Gemeinden in Lateinamerika – die größte lebt in Argentinien, Brasilien und Mexiko folgen mit einigem Abstand – werden nicht unbedingt als geheime Macht halluziniert, wie das noch bei katholischen Rechtsextremen des vorigen Jahrhunderts der Fall war, so bei einem Pogrom 1919 in Buenos Aires.

Konflikt von Landbesitzenden gegen Landlose

Treiber des linken Antisemitismus sind der starke Antiamerikanismus, der sich aus historischer Erfahrung speist, und eine unstatthafte Übertragung für Lateinamerika sinnvoller Kategorien auf den Nahost-Konflikt. So deutet die brasilianische Landlosenbewegung diesen als einen Konflikt von Landbesitzenden gegen Landlose; auch die antikoloniale Deutung hat Tradition und führte vor allem zu Sympathien für Terrorgruppen wie die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) oder die Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP). Auf dem Hof der Fakultät für Sozialwissenschaften in Buenos Aires wurde man jedenfalls vor ein paar Jahren noch von einem Wandgemälde der PFLP-Terroristin und Flugzeugentführerin Leila Khaled begrüßt.

Was stärker wird, ist die Tendenz, südamerikanische Juden umstandslos mit dem verhassten Israel zu identifizieren. In Santiago de Chile beschmierten im Dezember Unbekannte die älteste Synagoge der Stadt mit der Forderung, den Zionismus zu stürzen. Bereits 2019 hatte Boric als Abgeordneter für einen Skandal gesorgt, als er auf ein Geschenk der Jüdischen Gemeinde mit einem Tweet reagierte, wonach »sie« anfangen sollten »zu fordern, dass Israel das illegal besetzte palästinensische Land zurückgibt«.

Auch die Äußerungen Lulas haben Ängste in der jüdischen Gemeinde Brasiliens ausgelöst. »Mit jedem Kommentar, jeder Äußerung von Präsident Lula wächst die Zahl der antisemitischen Demonstrationen in den sozialen Medien und die Bedrohung der örtlichen jüdischen Gemeinde«, sagte der Vorstand der jüdischen Gemeinde von São Paulo, Ricardo Berkiensztat. In Brasilien wurden außerdem einige Personen festgenommen, die in Verdacht stehen, der libanesischen Hizbollah anzugehören und Anschläge geplant zu haben.

Bei einer Veranstaltung der Organización Sionista Argentina (Osa) im Dezember warnten Experten, dass der 7. Oktober und seine Folgen den Antisemitismus in Lateinamerika stärken könnten. Ariel Seidler, Programmdirektor der lateinamerikanischen Sektion des World Jewish Congress, sprach von einem starken Anstieg antisemitischer Postings auf Spanisch bei X. Bei Meldungen besonders heftiger Angriffe der ­israelischen Armee auf Ziele im Gaza-Streifen seien bis zu einem Viertel aller Postings mit Nahost-Bezug antisemitisch – wobei hier auch solche aus Spanien beinhaltet sind, dessen linksorientierte Regierung Lula in Sachen israelbezogenem Antisemitismus nicht viel nachsteht.

Die im autoritär regierten Venezuela einst mehr als 20.000 Personen zählende jüdische Gemeinde schrumpfte unter der Regierung des damaligen Präsidenten Hugo Chávez auf um die 2.000 Personen.

Bei derselben Veranstaltung berichtete Ariel Gelblung vom Lateinamerika-Büro des Simon Wiesenthal Center von einer Zunahme des Antisemitismus auf der Straße. Nach dem 7. Oktober habe man so große israelfeindliche ­Demonstrationen beobachten können wie nie zuvor. Auch ein mit der Bekämpfung des Antisemitismus befasster hochrangiger Funktionär der US-Regierung warnte, dass der Antisemitismus in Lateinamerika schon vor dem 7. Oktober zugenommen habe, aber »was wir seither sehen, ist ein Tsunami«.

Im schlimmsten Fall drohen Zustände wie im autoritär regierten Venezuela. Die dort einst mehr als 20.000 Personen zählende jüdische Gemeinde schrumpfte unter der Regierung des damaligen Präsidenten Hugo Chávez auf um die 2.000 Personen. Chávez suchte nicht nur offensiv die Nähe zur Islamischen Republik Iran, sondern sprach auch der Hamas und der Hizbollah immer wieder seine Unterstützung aus. Juden wurden von chavistischen Kräften offen als Fremde behandelt und unter Generalverdacht gestellt.

Nach der Ermordung eines Staatsanwalts 2004 warf die Regierung Israel Tatbeteiligung vor und Polizisten durchsuchten eine jüdische Schule in Caracas. Ende Januar 2009, während der damaligen israelischen Operation im ­Gaza-Streifen, drangen 15 bewaffnete Personen in die Synagoge Tiféret Israel in Caracas ein und hielten sie mehrere Stunden besetzt. Auch nach weiteren Angriffen weigerte sich die Regierung, den Schutz der jüdischen Bevölkerung zu gewährleisten. Konsequenterweise sprang nun Chavez’ Nachfolger Nicolás Maduro seinem Amtskollegen Lula bei. In seiner Fernsehsendung sagte er: »Wie Präsident Lula da Silva schon gesagt hat, tut die israelische Regierung mit den Palästinensern dasselbe, was Hitler mit den Juden getan hat: sie vernichten.«