Rodrigo Morenos Gauner­komödie »Die Missetäter« opponiert gegen den Zwang zur Lohnarbeit

Die Freiheit der anderen

Rodrigo Moreno hatte »Die Missetäter« bereits abgedreht, als Javier Milei argentinischer Präsident wurde. Die aberwitzige Gaunerkomödie wirkt dennoch wie ein Kommentar zu dessen Politik. Jetzt kommt der Film in die deutschen Kinos.

Ein Schatten fällt auf einen Holzstuhl, auf dem ein Anzug bereitliegt. Der Bankangestellte Morán (Daniel Elías) kleidet sich schnell an, schaut dann noch kurz, eine Teetasse in der Hand, aus dem Fenster der kleinen Wohnung gen Himmel. Dann die Treppen runter auf die Straße, absteigen in die U-Bahn von Buenos Aires und in der Innenstadt wieder raus. Rasch ins Café, Espresso trinken und ein süßes Teilchen bestellen, weiter über die Kreuzung Richtung Bank.

Hier löst sich die Kamera von Morán, fährt an der Fassade eines imposanten Jugendstilgebäudes hoch, an dem er vorbeikommt. Die Prachtfassade aus der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, als der boomende Rindfleischexport die Bourgeoisie Argentiniens reich machte und sie ihren Wohlstand auch zeigte, hat längst Flecken bekommen.

Mitreißend erzählt der im Mai 2023 in Cannes in der Reihe Un Certain Regard uraufgeführte Film »Die Missetäter« des argentinischen Drehbuchautors und Regisseurs Rodrigo Moreno ein brillant-skurriles Schurkenstück aus dem Leben des Bankangestellten Morán und seines Kollegen Román (Esteban Bigliardi), das vom Ende der Lohnarbeit und vom Aufbruch in die Freiheit handelt.

Der Bankangestellte Morán (Daniel Elías)

Der Bankangestellte Morán (Daniel Elías)

Bild:
Mubi

In der Bank noch weitere 25 Jahre bis zur Rente arbeiten oder mit einer Tasche voller Dollarscheine nach Hause gehen und dafür dreieinhalb Jahre Gefängnis absitzen – der Kassierer Morán hat beide Möglichkeiten am Taschenrechner durchkalkuliert und sich entschieden: Um sich einen vorzeitigen Ruhestand leisten zu können, braucht er genau 325.000 US-Dollar und einen verlässlichen Komplizen, der das Geld aufbewahrt, bis er seine Strafe abgesessen hat und sein neues Leben beginnen kann. Er wird daher 650.000 Dollar stehlen, 325.000 Dollar für sich behalten und den Rest seinem Kompagnon zu geben. Der allerdings weiß noch nicht von seinem Glück.

Trübes Licht, enge Flure, niedrige Decken und Kabel, die in den Büros über Putz liegen. Die Einrichtung im Innern der Bank ist so abgerockt, dass der Filialleiter ostentativ mit seinem Drehstuhl quietschen kann. Nur die Flachbildschirme sind auf der Höhe der Zeit. Morán geht seelen­ruhig in den Tresorraum, packt die Dollarscheine gewissenhaft ein und noch ein paar Päckchen argentinische Pesos obendrauf.

Der untersetzte Mann mit Halbglatze ist der vielleicht kaltblütigste Bankräuber, den das Kino je gesehen hat.

Der untersetzte Mann mit Halbglatze ist der vielleicht kaltblütigste Bankräuber, den das Kino je gesehen hat. So beiläufig er den Raub durchzieht, so beiläufig weiht er abends seinen Kollege an der Theke beim Bier in den großen Plan ein. Die Tasche mit dem Geld hat er praktischerweise gleich mitgebracht und Román vor die Füße ­gestellt. »Ich habe einen Vorschlag. Schau mal nach unten. Da sind 650.000 Dollar drin. Ich habe sie heute in der Bank mitgenommen.«

Kunstvoll verschachtelt erzählt der Film die Geschichte der beiden Angestellten, deren Schicksal auf komplizierte Weise miteinander verbunden ist; angefangen bei den Namen Morán und Román, die Anagramme sind. Der Film steckt voller Rätsel, Spielereien, Verweise, narrativer Dopplungen und interner Witze.

So wird der verhasste Filialleiter, der dem nun des Raubs verdächtigten Román schon bald das Leben zur Hölle macht, von demselben Darsteller verkörpert, der auch den Gangsterboss spielt, welcher Morán im Gefängnis terrorisiert. Unschwer ist dieser Casting-Kniff als versteckter Kommentar des Regisseurs zur Korruption im Finanzwesen zu verstehen.

Regisseur Rodrigo Moreno erklärte in Interviews, Morán sei kein Marxist, sondern jemand, der Freiheit vom Zwang zur Lohnarbeit sucht.

Während sich Morán hinter Gittern gegen die Einschüchterungsversuche des Bandenchefs wehren muss, wird Román in der Bank der Mitwisserschaft verdächtigt. Auch die in den Fall eingeschaltete Bankenaufseherin Laura Ortega (Laura Paredes) versucht, Román ein Geständnis zu entlocken. Vor allem will sie wissen: Wo ist das Geld geblieben?

Auf Rat des nervösen Morán, der bereits fürchtet, am Ende völlig umsonst im Gefängnis zu schmoren, flieht Román samt Beute in die argentinische Provinz Córdoba, wo er das Geld auf einem Hügel vergräbt. Er trifft auf eine Gruppe von Menschen, die irgendwas mit Kunst, Film und Musik zu tun haben. Es ist dieselbe Künstlergruppe, die Morán bei einer Landpartie vor dem Raub getroffen und die ihm gezeigt hat, dass es noch etwas anderes gibt, als das Geld anderer Leute zu zählen.

Regisseur Rodrigo Moreno erklärte in Interviews, Morán sei kein Marxist, sondern jemand, der Freiheit vom Zwang zur Lohnarbeit sucht. Die wäre das Gegenteil jener Freiheit, die der neue argentinische Präsident Javier Milei propagiert – die Freiheit des Kapitals.

Geschichte trivialisieren und die Bedeutung von Wörtern kapern

Noch bevor Milei am 19. November 2023 die Stichrunde der Prä­sidentschaftswahl gewann, während des Wahlkampfs, kam der Film in Argentinien in die Kinos: »›Los delincuentes‹ wird gerade zu einer Zeit uraufgeführt, in der Charaktere wie Javier Milei und seine Gefolgsleute die Sprache verschmutzen, die Geschichte trivialisieren und die Bedeutung von Wörtern wie ›Freiheit‹ kapern«, schrieb Tomás Guarnaccia auf dem Blog »Con los ojos abiertos«. »›Los delincuentes‹ ist ein Film, der Bedeutungen offenlegt, der das Geld in den Mittelpunkt stellt, es aber verwirft, um den Schönheiten zu huldigen, die man mit nichts kaufen kann. Es ist ein Film, in dem eine poetische Autonomie im Dienste der Befragung der eigentlichen Idee der Freiheit entsteht.«

Freiheit und kulturelle Entfaltung jenseits entfremdeter Lohnarbeit scheinen in Morenos Film auf. Um ihn zu drehen, hat der Regisseur fünf Jahre gebraucht. Nicht wegen des Drehbuchs, nicht wegen des ­Filmens, sondern wegen der Geldbeschaffung. Fünf Koproduktionsfirmen und mehrere Filmfonds sind beteiligt.

»Eine Streichung der Kinofinanzierung (die den Staat nur sehr wenig kostet) wird nur dazu führen, dass eine Branche verschwindet und viele Menschen arbeitslos werden.« Rodrigo Moreno

Ein übliches Modell bei argentinischen Filmen; trotz teilweise prekärer Finanzierung weist das Land die drittgrößte Filmproduktion Lateinamerikas auf. Ob das dafür zuständige Nationale Institut für Kino und audiovisuelle Künste (Instituto Nacional de Cine y Artes Audiovisuales, INCAA) seine Arbeit fortsetzen kann, ist ungewiss. Auch wenn die von Milei angestrebte Schließung des Filminstituts erst mal vom Tisch ist, droht er weiterhin damit, es auszuhungern. Mindestens 140 Beschäftigte werden zum 1. April entlassen, ­einige Bereiche sind dann nicht mehr arbeitsfähig.

Rodrigo Moreno schrieb auf dem Microblogging-Dienst X: »Eine Streichung der Kinofinanzierung (die den Staat nur sehr wenig kostet) wird nur dazu führen, dass eine Branche verschwindet und viele Menschen arbeitslos werden.« Um als bedeutender Wirtschaftszweig weiterzuexistieren wird wie bisher, benötigt die argentinische Filmwirtschaft die staatliche Filmförderung, die sich aus Abgaben der Fernsehstationen und Kinounternehmen speist.

Independent-Filme mit kleinem Budget werden aber weiterhin gedeihen. »Wenn dem INCAA die Mittel entzogen werden, wie es diese Regierung und so viele Argentinier beabsichtigen, werden wir Filmemacher weiterhin ­Filme machen, egal was passiert«, so Moreno.

Die Missetäter (Argentinien 2023). Buch und Regie: Rodrigo Moreno. Darsteller: Daniel Elías, Esteban Bigliardi, Margarita Molfino, Germán De Silva, Laura Paredes. Kinostart: 21. März