»Der Song, der mein Leben veränderte«

Feindseliger Krach

22 Autorinnen und Autoren erzählen Geschichten aus ihrem Leben und davon, welche Rolle ein Musikstück darin spielte. Teil I eines zweiteiligen Dossiers.

Mit Elvis oder den Beatles fing es oft an. Das klang überraschend anders als die Fischer-Chöre oder James Last. Und es war für die meisten der Soundtrack zur Entfaltung des eigenen Lebens.

Oder später, als Sie ein wenig älter waren: Denken Sie zuweilen noch daran, wie es war, als Sie im autonomen Jugendzen­trum auf den einschlägigen Konzerten inbrünstig mitbrüllten? »USA, SA, SS!« Oder gehören Sie zu der Fraktion, die auf Ostermärschen mitgelaufen ist und zuhause Konstantin Weckers pathetische Lieder gehört hat?

Oder erinnern Sie sich an einen der finstersten Momente Ihrer Pubertät, als Sie mit verklärtem Blick und umnebeltem Verstand zu Phil Collins’ großartig schmierigem Schmuseliedchen »A groovy kind of love« (oder war es »Against all odds«?) Wange an Wange mit einer gewissen Susi oder einem schlaksigen Tolpatsch namens Hans-Dieter einen so genannten Blues getanzt haben und dabei ganz schweißfeuchte Händchen bekamen? Oder waren Sie womöglich einer bzw. eine von den ganz Abgeklärten, die schon immer Kunststudentenmusik geliebt haben und ganz verzückt waren, als Sie zum ersten mal »Grünes Winkelkanu« von Palais Schaumburg gehört haben?

Sehen Sie: Wir erinnern uns auch nicht. Zumindest nicht genau.

22 Autorinnen und Autoren frischen deshalb unsere Erinnerung auf und erzählen davon, wie sie mit einer ganz bestimmten Musik erwachsen (bzw. eben nicht erwachsen) geworden sind, wie einst ein ganz bestimmtes Musikstück ein Erweckungserlebnis für sie war, oder davon, welche Musik ihnen als alltägliche Überlebenshilfe dienlich war. Geschichten, wie sie das Leben schrieb und noch immer schreibt.

 

Genau das ist es!

Bei meinen Eltern wurde viel Musik gehört. »Die große Schlagerparade« und »21 tolle Partyhits« und Reinhard Mey, das dudelte vom Plattenteller. Sonntags lief »Erkennen Sie die Melodie?« im Fernsehen. Als Kind mochte ich all dies gerne, doch dann begannen Hormone damit, in großen, unkontrollierbaren Mengen meinen Körper zu überfluten und rissen dabei alles mit, was ein harmonisches Zusammenleben mit meinen Eltern bislang ermöglichte. Meine Ohren wurden durchgespült, und plötzlich hörte ich zum ersten Mal, wie grässlich, ja absolut unerträglich Tony Marschall und Bata Ilic sind, wenn man nur mal richtig hinhört. Also sparte ich mein Taschengeld, bis ich mir meine erste Musikcassette kaufen konnte. Ich ging in einen Plattenladen und musste dort feststellen, dass ich keinen der angebotenen Interpreten kannte. Mist! Alles Namen, die mir nichts, aber auch gar nichts sagten. Also griff ich mir eine Cassette auf gut Glück. Und Glück hatte ich damit wirklich, denn als ich zuhause war, die Verpackung entfernte und die Cassette in meinen Rekorder legte, hörte ich eine Offenbarung! »If you can’t give me love, oho-«, rief mir eine kraftvolle, grelle Stimme entgegen, die immer lauter und höher wurde. Verdammt, genau das ist es! Das wollte ich eigentlich auch schon immer sagen! Ach was, nicht sagen, sondern schreien, rufen, tanzen. Und zwar laut! Ganz, ganz laut. In der Stimme von Suzi Quatro versammelte sich alles, was ich bis dahin nicht genau benennen konnte, diese merkwürdige neue Unzufriedenheit und die Sehnsucht und Widerborstigkeit, die in mir drin waren und nun ein Ventil und ein Sprachrohr gefunden hatten. Vermutlich waren es wieder nur Hormone, aber alles an und in mir wollte sich bewegen. Rennen. Schreien. Ja! Das ist Musik. Ich sah mir das Cover an, mein Gott, sah diese Frau großartig aus. Wild und stark und atemberaubend und alles zusammen. So bin ich auch, das weiß nur noch niemand, dachte ich mir. Meine Mutter kam in mein Zimmer, schrie mich an, dass ich diesen Krach sofort ausmachen soll. Mich aber interessierte sie nicht mehr, ich sang ihr lachend entgegen: »If you can’t give mir love, aha- « Dafür bekam ich eine Ohrfeige, aber von diesem Moment an war ich verloren für die kleine Welt meiner Mutter. Ich hatte von einer Sekunde auf die andere schließlich ein ganz neues Universum gefunden. Danke, Suzi!

sarah schmidt

 

Waidwunde Wölfe

Ich war sehr darauf bedacht, diese CD immer gut zu verstauen, damit kein Besucher sie zufällig in die Hände bekam. Klaus Hoffmann war ein Sänger, den man besser hörte, wenn man sicher war, dass die Mitbewohner unterwegs waren. Und die Fenster geschlossen. Ich war gerade 20, und ich war mir über die Peinlichkeit dieser Lieder völlig im Klaren. Dennoch zwang mich etwas immer mal wieder, diese CD aus der Schublade hervorzukramen, wo sie unter den alten Schülerzeitungen mit Beiträgen von mir lag, die auch niemand sehen durfte. Aber wenn der Moment gekommen war, gab ich mich ihr, leicht beschämt, hin.

Es war die Zeit der Suche. Als verklemmtes Bürgersöhnchen aus der Provinz frisch in Berlin eingetroffen, ohne rechte Vorstellung, was aus diesem Leben zu machen sei, ohne Freunde und vor allem ohne Sex. Und wenn sich schon keine Frau anbot, das Verlangen zu stillen, dann musste wenigstens mit irgendjemandem darüber lamentiert werden. Ich suchte bedingungslos intime Gespräche, ein Emotionsdiskurslemming mit heftigem Drang zum Abgrund.

So auch an jenem Abend mit Bernd. Bier war reichlich geflossen, Onanie längst abgehakt, unsere bisherigen jeweiligen Erfahrungen waren bereits detailgenau nachvollzogen, aber uns verlangte nach mehr. Wenn es zu Frauen nichts mehr zu sagen gab, blieb immer noch die Musik. Ich weiß nicht mehr, wie es dazu kam, plötzlich aber versicherten wir uns gegenseitig: Ja, manchmal, also in bestimmten Momenten, also mit allen Vorbehalten natürlich, also gut, wir fanden Klaus Hoffmann ganz okay, zumindest einiges, zumindest diesen einen Song. Ein dunkles gemeinsames Geheimnis, das wir uns gegenseitig niemals zugetraut hätten, und dann ging es los. Bernd konnte die Akkorde von »Derselbe Mond über Berlin« und schrieb sie auf einen Zettel, den Text kannten wir auswendig, ich setzte mich ans Klavier. Und dann sangen wir gemeinsam, erst noch schüchtern und unangenehm berührt. Bei Zeilen wie: »Und nebenan, da lieben sich zwei Engel/Und flattern einmal übern Horizont/Dieselbe Sehnsucht unterm gleichen Himmel/Und über alle Liebe wacht der Mond«, da zuckten wir noch zusammen, aber schließlich sangen wir und sangen immer lauter: »Das ist derselbe Mond/Derselbe Mond/Das ist derselbe Mond wie über Berlin.« Leidenschaftlich, hemmungslos, wie waidwunde Wölfe in einer Vollmondnacht, die fürchten, dass sie am nächsten Tag abgeschossen werden, die nur noch diese eine Nacht haben, wir sangen, wir grölten, wir heulten »Derselbe Mond wie über Berlin«, ohne Scham, mit offenem Visier, mit vollen Akkorden, immer und immer wieder: »Derselbe Mond wie über Berlin«. Bernds große Liebe war zu der Zeit in den USA und hatte sich schon von ihm getrennt, ohne dass er davon wusste, und ich war schwer verliebt, aber sie biss nicht an, doch irgendwo da draußen in dieser Stadt lag sie in irgendeinem Bett eines gottverdammten Studentenwohnheims, »und über aller Liebe wacht der Mond – das ist derselbe Mond...«

Der Kater am nächsten Tag war furchtbar. Die CD blieb ganz unten in ihrer Schublade, ich hätte sie auch wegwerfen können, ich habe sie nie wieder gebraucht. Jahre später begann ich, eigene Lieder zu schreiben.

Vorhin habe ich den Zettel mit den Akkorden in meinem Notenstapel wiedergefunden. Ganz vergilbt ist er, an den Rändern zerfleddert, mit Bierflaschenkringeln und verschmierten Buchstaben. Aber man kann noch alles lesen. Ich denke, ich setze mich mal ans Klavier.

heiko werning

 

Stimmen aus dem Maschinenraum

Westfälische Tiefebene. Späte achtziger Jahre. Die Baukrise zerstört die Ehe meiner Eltern. Auf gefährlicher Selbstverwirklichungssafari begeben sie sich jeweils allein in die Dorfdiscos der Kleinstädte des Münsterlands. Mutter geht ihren Weg. Vater seinen eigenen. Schwarze Ausgehmode. Herrenschuh. Der Hintergrund: betongrau. Die Betonmischmaschine verdreckt. Die Trommel dreht sich nicht mehr. Der Winter ist hart. Auch das noch. Trotzdem Neugierde. Die Discokugel dreht sich immer nachts. Wie viel Spaß kann man sich noch kaufen, wenn die plötzliche Joblosigkeit einem unerwartet die Pforten in den Discohimmel öffnet?! Zuhause die Kinder. Zwei Brüder und ein Beagle. Hund. Geknüpfter Teppich. Panische Angst. Vor und nach »Aktenzeichen XY«. Die Fälle werden schon nachts gelöst. Im fiebrigen Angstschlaf. Stimmen im Kopf. Anzeichen früher Paranoia. Ich. Der ältere von beiden. Der mit dem Aufpass­part. So viel Kartoffelchips und Schokolade ’reinstopfen, wie man mag. Bis einem schlecht wird. Dafür gehen wir freitagnachmittags immer einkaufen. In den ersten Supermarkt der Stadt. Orangefarbene Preisschilder. Noch kein Münzenpatent am Einkaufswagen.

Zuhause antike Möbel. Geknüpfte Teppiche. Beige. Regale. Massiv. Westfälisch. Kein Ikea. Hoher Lebensstandard. Einfamilienhaus. Garten. Risiko. Hohes Risiko. Sehr hohes Risiko: mit einem Fuß im Dispo, mit dem anderen auf der Discofox-Tanzfläche. Die Branche erholt sich. Klar, was von alleine kommt, geht auch wieder von allein. Whisky-Cola. Der Hund schläft. Er schnarcht. Na warte, ich krieg’ dich schon wach.

Mixcassette. Vom deprimiertesten DJ der Gegend. Aus der »Fabrik«. Name der Discothek. (Anmerkung des Verfassers: Mir wird wieder schlecht.) Alien Sex Fiend. The Cramps. Birthday Party. Dave Ball. Psychobilly. Front 242. Auf dem Dorf macht EBM das Rennen. Brüssel. Belgien. Play-it-again-Sam-Records. Seltsame Ästhetik. Dicke Pappe. Gasmasken. Industrieromantik. Sequencer. Midi. Stimmen aus dem Maschinenraum. S&M. Keine Ahnung von S&M. Nur von Pornographie. Keine Anzeichen von Liebe. Keine Küsse. Nur gewaltsames Eindringen. Horror! Wahnvorstellungen! Leder. Striemen. Selbstgeißelung. Selbstentgleisung. Das für den Jungen. Allein zuhause. Der kleine Bruder schläft. Wildstyle. An Schlaf nicht zu denken. Aber keine Party. Cassette wieder zurückspulen. Immer nur einen Song. Darkwave ausblenden. Mehr Wahnsinn! Manic Depression lange vor Jimi Hendrix. Mein Leben verläuft retrospektiv wie das aller Nachkriegsdeutschen.

»No Tears for the creatures of the night... No Tears!« Erst Jahre später begreife ich, wie perfekt dieser Soundtrack für mein damaliges Leben war. Bataille, Residents, Multitude. Alles viel später. Alles verschlungen. Die Prägung war da. Das Gefühl. Das Verlassensein.

Schizophrenie. Kampf. Krampf. Widersprüche und Kartoffelbrei. Und ein Soundtrack, dem ich mein Leben verdanke: No Tears. Tuxedomoon.

maurice summen

 

Mit Backblech und Benzinkanister

Wenn es einen Song gab, der mein Leben veränderte, dann war das »Tanz Debil« von den Einstürzenden Neubauten: was für ein Krach! Was für ein Wahnsinn! Und das alles mit Schrott-Instrumenten! Das war schmutzig und stylish, und die Musiker auf dem LP-Backcover – verhungerte Gestalten vor einer Unmenge säuberlich aufgereihten Metallmülls – waren unfassbar cool. So wollte ich auch sein! Ich war 14, als ich das zum ersten Mal hörte und sah, 1983 als Neuntklässler auf dem Gymnasium im niedersächsischen Tostedt, und die Platte hatte mir ein älterer, gerade sitzengebliebener Punk geliehen – bis dahin hatte ich mit meinen Freunden vor allem US-amerikanischen Hardrock gehört, der über einen als Gitarrenlehrer arbeitenden Vater in die Gruppe kam: Accept, Boston, Journey, ja sogar Status Quo (Gitarrenlehrer sind für die Bildung musikalischen Geschmacks schon immer höchst schädlich gewesen). Mit »Tanz Debil« und der LP »Kollaps« wurde dann alles anders: Die Liebe zu menschenfeindlichem Krach, die damals in mir erwachte, ist bis heute kaum kälter geworden. Zum ersten Mal im Konzert habe ich die Einstürzenden Neubauten 1985 gesehen, im »Bunker« in Osnabrück; dorthin war ich mit meinem Freund Frans aus dem bayerischen Burgkirchen getrampt, den ich aus einem Club von Perry-Rhodan-Brieffreunden kannte – als Zeichner der Comics der Popgruppe Die Ärzte und Sprechblasenbeschrifter der »Carl Barks Library« ist er inzwischen weltberühmt. Bei dem Versuch, nach dem Einstürzende-Neubauten-Konzert aus Osnabrück wieder nach Tostedt zurückzutrampen, strandeten wir freilich um drei Uhr nachts in Bremen. Nie werde ich meinem Vater vergessen, wie klaglos er sich aus dem Bett klingeln ließ, um den verwegen gestylten Industrial-Nachwuchs (der damals schon grafisch begabte Frans hatte sich sogar ein T-Shirt mit dem Neubauten-Männchen selber gebatikt) mit dem Auto wieder sicher ins Bett zu bringen. In den etwas mehr als 20 Jahren seither bin ich auf zirka 20 weiteren Konzerten der Neubauten gewesen, an allen möglichen Orten der Welt. 1986 gründete ich mit zwei Freunden eine Band, deren Haupt­inspirationsquelle sich nur schwer verleugnen ließ: Unsere Instrumente bestanden aus einem Backblech, einem Benzinkanister und einem Bass, den ich einem Freund von Frans für 20 Mark abgekauft hatte und auf dessen Saiten ich nun mit einer groben Metallfeile feilte. Unser erstes Konzert fand am 30. Januar 1987 auf einem Rock-gegen-Rechts-Festival im Jugendzentrum Tostedt statt. Wir hatten drei Stücke: Eines beschäftigte sich mit den empörenden Zuständen in Nordirland (»Straßen von Belfast«), eines mit unserer generellen Unzufriedenheit mit der Welt (»I don’t care«), das dritte war eine für Backblech, Benzinkanister und Bass arrangierte Coverversion von »Pippi Langstrumpf«. Auch die Band, die nach uns auftrat, war von den Einstürzenden Neubauten inspiriert. Das »Kommando Holger Meins«, das sich kurz darauf in »Klingonenkreuzer Vogon« umbenannte, bot unter anderem seinen Szene-Hit »Bundeskabinett« dar. Dieser bestand aus den forsch gebrüllten Namen der Mitglieder des damals amtierenden Bundeskabinetts, wobei nach der Nennung jedes Namens eine Bierflasche in einer mit Wackersteinen gefüllten Badewanne zerschlagen wurde. Für den weitaus größten Skandal sorgte freilich die Gruppe »Dum Spiro Spero«, die sich nach dem bekannten Ausruf des Revolutionsführers Spartakus benannt hatte und eher konventionellen »Haut-die-Bullen-platt-wie-Stullen«-Punk spielte. In einer Ankündigung des Konzerts im örtlichen Nordheide-Wochenblatt hatte der des Lateinischen offenbar unkundige Programmredakteur den Namen der Band als »Dum Dum Spiro« wiedergegeben, woraufhin eine Flut von Protesten über das Jugendzentrum hereinbrach: hier werde »menschenverachtenden Bands ein Forum gewährt, die sich nach Dum-Dum-Geschossen benennen«. Man sieht, warum Lieder wie »Tanz Debil« in der westdeutschen Provinz auf so fruchtbaren Boden fielen.

jens balzer

 

My Baby Baby Balla Balla

Last night a record changed my life, so etwas machen doch sonst nur Magazine wie Mojo und Uncut, für die Jungle World sollte es politischer werden, denke ich noch, als ich ohne große Erwartungen geschweige denn Vorfreude das neue Album der Stooges auflege. Ich meine, das »neue Stooges-Album«, wie sich das anhört! Die Stooges haben zwei Platten gemacht, die bis heute so viel von ihren Entstehungsjahren erzählen wie nur wenige andere, vor allem: sonisch erzählen. Die Entstehungsjahre waren 1969 und 1970.

Das neue Stooges-Album erschien also 37 Jahre nach dem letzten von Interesse, und es dauert 27 Sekunden, bis das Men’s-Health-Wunder Iggy Pop droht: »My dick is turning into a tree.« Die Musik dazu is turning into a rock. Keine Platte, die Leben verändert. Bis zur Nummer 6. »Free & Freaky«. Tatsächlich singt Iggy Pop »Free & Frea­ky in the USA« ungefähr so hymnenambitioniert wie Springsteen (»Born in … «), John Mellencamp (»R.O.C.K. in … «) oder, für Kulturimperialismuskritiker mit Hymnenbedarf, The Clash (»I’m so bored with … «). Nach dem vierten Refrain aber passiert Unvorhergesehenes.

»Free & Freaky in the USA«, brüllt Iggy noch, und bevor es so subramonesk weiterläppert, hat er eine Idee: »Alabama, Dalai Lama, Baby Mama«, poppt es aus ihm heraus, und dann: »Primadonna, Marihuana, Intifada«. Was für eine bezaubernde Onomatopoesie in dieser Rockwüste, denke ich, bin aber nicht sicher, was ich da gehört habe. Google sagt:

»Alabama/Dalai Lama/Baby Mama/Madonna/Benihana/Intifada.« Stimmt: »Benihana« (eine japanische Restaurantkette) singt er. Klar, bei unserem letzten Interview am 7. Dezember 1985 hatte er eine japanische Freundin und schwärmte von japanischem Essen. »Marihuana« hätte auch nicht gepasst. Aber »Madonna« passt nicht ins Reimschema, das heißt schon »Primadonna«. Was allerdings nichts daran ändert, dass di Wortfolge »Alabama, Dalai Lama, Baby Mama, Primadonna, Benihana, Intifada« keinen rechten Sinn ergibt. Anstatt sich über Iggys Lichtblick zu freuen, sein kurzes Abbiegen aus der Rockwüste ins »Idiot«- und »Lust-for-Life«-Land Berlin ’77, setzt es heftige Kritik von enttäuschten Fans. Was denkt er sich? Was für sinnlose Texte? Und so weiter. Ich bin Iggy dankbar und singe inzwischen manchmal selbst: »Alabama/Dalai Lama/Baby Mama/Primadonna/Benihana/Intifada«, allerdings nur in unbeobachteten Momenten, da kann man doch zu viel missverstehen. Aber vor allem bin ich Iggy dankbar dafür, dass ich die Antwort gefunden habe auf die Frage der Jungle World: Welcher Song hat mein Leben verändert? Ehrlich und wahrhaftig, wie es eine so an die Substanz gehende Frage erfordert, kann ich antworten: »My Baby Baby Balla Balla« von The Rainbows – aus Berlin – war wohl einer der ersten Songs, die mein Leben verändert haben. »My Baby Baby Balla ­Balla!« Das war der Text, sonst nichts! Nie zuvor hatte der Neunjährige, der ich war, so viele konsternierte Erwachsene so uniform wütend reagieren sehen, bis hin zur identisch vorgetragenen Scheibenwischer-Geste und Verwünschungen wie »Vergasen« oder »Staaa­bruch« (hessisch für »Steinbruch«). Diese Reaktionen impften mir eine für mein weiteres Leben hilfreiche Skepsis gegenüber einer gewissen Sorte Erwachsener ein, die mich bis heute davor bewahrt, mich zu benehmen wie diese gewisse Sorte Erwachsener, und mich in die Lage versetzt, auch trostlosen Stooges-Platten ein paar Sekunden Glück abzugewinnen.

klaus walter

 

Ordentlich wummern

Nachdem ich bereits meine halbe Kindheit damit zugebracht hatte, Klavier zu üben, reifte in meiner Jugend der Entschluss, noch mehr zu üben, später Klavier an einer Musikhochschule zu studieren und noch später als gefragter Pianist auf den großen Bühnen dieser Welt umjubelte Konzerte zu geben. Für die Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule in Weimar stellte ich ein Programm zusammen, welches neben Stücken von Beethoven und Rachmaninow auch das erste Präludium des polnischen Avantgardisten Henryk Mikolaj Górecki enthielt. Dieses virtuose Drei-Minuten-Werk enthält zehnstimmige, dissonante Akkorde, die vierfach sforzato zu spielen sind (was in etwa »absurd laut« bedeutet), und ist passagenweise in drei Systemen notiert (anstatt der üblichen zwei für linke und rechte Hand), damit der Pianist nicht den Überblick über die vielen Noten verliert.

Laut, viele Noten, genau das richtige für einen jungen Wilden wie mich.

Ich übte wie besessen, aß nicht viel und wagte kaum zu schlafen. In den wenigen Stunden der Ruhe, die ich mir gönnte, träumte ich von der brachialen Dynamik Góreckis. Meine Eltern hingegen träumten inzwischen von einer Welt ohne Klaviere, ohne Musik und vor allem ohne Górecki. Das Präludium wurde zu meinem Paradestück, das ich den Damen und Herren Professoren gleich zu Beginn der Aufnahmeprüfung um die Ohren hauen wollte, damit an der Frage, ob ich für das Studium geeignet bin oder nicht, von vornherein kein Zweifel bestünde. Mit glasigen Augen würden sie mir nach meinem Vortrag die Hand schütteln und mich in der späteren Kulturhauptstadt willkommen heißen.

Aufgeregt fuhr ich nach Weimar. Nach stundenlangem Warten wurde ich in die große Aula geführt, in der sich mein Schicksal entscheiden sollte. Am einen Ende des Saales saß die etwa fünfköpfige Kommission, am anderen stand ein gewaltiges Instrument, ein Bösendorfer Flügel Imperial. Der wird ordentlich wummern, dachte ich noch. Der Vorsitzende lugte professoral über seine Lesebrille und fragte mich zu meiner Erleichterung, mit welchem Stück ich beginnen wolle. Mit dem Präludium von Górecki, womit sonst!

»Och nö«, war die Antwort, das sei nicht nötig. Wie es denn mit Beethoven sei. Also spielte ich Beethoven. Nach einer Minute wurde meine Performance abgebrochen. Danach noch ein paar Minuten Rachmaninow. Bumms, aus, vorbei.

Der Kommissionsvorsitzende, wiederum über die Brille lugend, hat mir dann empfohlen, etwas anderes zu studieren. Das habe ich dann auch getan.

axel buschmann

 

Aufklärung durch Entfremdung

Songs haben mein Leben nicht verändert, aber wenn sich das Leben änderte, gab es manchmal einen Song dazu. Im Jahr 1982 war das so. Als ich meinen Zivildienst antrat, machte ich mich mit den anderen auf einer Party bekannt. Sie legten eine damals brandneue Platte von einer noch unbekannten kölnischen Polittruppe auf, sehr engagiert, Bap. Mein Missfallen an dieser Musik erregte das Interesse eines jungen Mannes, der auf mich zutrat und mich fragte, was ich denn so höre.

Ich antwortete, meine Lieblinge seien Captain Beefheart und Pere Ubu. Von Stund an waren wir Freunde. Freundschaften und Feindschaften wurden damals auf Platten begründet. Es war so einfach wie stupide. Man war jung und narzisstisch und heftete sich Buttons ans Jackett. Dieser neu gewonnene Freund – er ist später Künstler geworden – machte mich mit Punk und New Wave vertraut. Fünf Jahre zu spät, aber seine pädagogischen Cassetten kamen doch zur rechten Zeit.

Ich hatte die freien Sitten der Hippies geschätzt, ihre Sexualität und ihre Spontaneität. Aber dieses ewige Zusammenglucken und Sichwohlfühlen schien dem Denken nicht bekömmlich und deprimierte auf die Dauer. Auch fragte ich mich, warum zum Teufel ich gegen die Entfremdung ankämpfen sollte? Ob nicht im Gegenteil allein die Entfremdung uns aufklären kann? Auf den Cassetten des Freundes gefielen mir deshalb die frozen ones und ganz besonders der Song, der so hieß.

Es wäre mir heute wohler, wäre es »Blank Generation« von Richard Hell oder »Orgasm Addict« von den Buzzcocks gewesen, aber nein, es musste diese blasierte Gruppe von Art-Rockern sein, Ultravox, allein der Name schon. Doch ich mochte das Fingerschnippen am Anfang, die sehr schräge Intonation von John Foxx, den explosionsartigen Einstieg der Rhythmusgruppe und über alles die pathetische Zeile: »All bridges built for burning«.

»The Frozen Ones« hält die Mitte zwischen dem »Nowhere Man« und »Pretty Vacant«, nicht so verspielt wie die Beatles, nicht so stumpf wie die Sex Pistols. Der Eindruck, die alten Werte seien erledigt, wurde von meinen neuen Freunden geteilt. Anders als die Generation vor uns und die Zivis um mich her glaubten sie nicht mehr an Nischen im Kapitalismus, insbesondere nicht an die biogasversorgte Kommune. Der Nihilismus wirkte verführerisch auf viele von uns, nachdem wir haben erkennen müssen, dass der Humanismus gescheitert ist.

stefan ripplinger

 

Wenn du keinen Krach machst

Gibt es viele Songs, die die Welt verändert haben – oder gibt es gar keinen? Die Geschichte der Lieder, die für mich die besten sind, weil sie alles auf den Kopf stellten, begann mit einem Stück, für das ich zu jung war. Ich schlief damals noch in einem fremden Zimmer und lebte in einer Familie, die gar keine war. Könnte aber auch sein, dass alle Familien so sind, und dass auch in anderen Familien bestimmte Musik ganz besonders laut und gewaltig klingt.

Im Zimmer meines Bruders wohnte ich quasi als Untermieter. An den Wänden klebten lauter Bravo-Poster. Es muss anno 1977 gewesen sein, ich war vier Jahre alt, mein Bruder vierzehn. Beim Einschlafen schaute ich auf das Porträt eines blassen Typen mit einer Sonnenbrille und schrillem Haar. Er ließ mich nicht los, verfolgte mich im Traum. Heute lege ich manchmal die LP »Never Mind The Bollocks« auf, höre »God Save the Queen« und denke an meinen Bruder – etwa so, wie Sal Paradise an Dean Moriarty denkt. Aber bevor die Sex Pistols diese vermittelnde Rolle spielen konnten, musste erst Johnny Rotten von der Wand verschwinden.

Mein Vater wollte nämlich nicht, dass er uns Gesellschaft leistete. Am Tag der Initialzündung holte er ihn von der Wand, zerriss das Poster mit Rottens Visage, zerknüllte es und trampelte darauf herum. Er schrie: »Was für ein Gesocks!« Schwer beeindruckt vom Zeitgeist hatte der Alte sich zu dieser bizarren Tat hinreißen lassen. Sonst saß er bloß im Sessel, glotzte die Sportschau, zerlegte Graubrotscheiben mit Messer und Gabel und kaute Harzer Roller. Es schmeckte ihm gar nicht, nach mehreren Wochen Arbeit auf Montage nach Hause zu kommen und festzustellen, dass nicht nur Arbeitgeberpräsident Schleyer tot war, sondern auch im Kinderzimmer ein anderer Wind wehte. Einige Jahre, nachdem mein Vater das Poster zerrissen hatte – ich meine, dass Johnny Rotten damals endlos »No Future« brüllte, weil die Platte an der Stelle einen Sprung hatte –, waren Vater und Bruder längst ausgezogen. So trieb ich allein meine Mutter mit dem Lautstärkeregler in den Wahnsinn. Natürlich hörte ich zeitgemäße Sachen, tanzte etwa zum »Safety Dance« wie ein Geisteskranker durch die Bude. Mit dem Single-Erfolg von »Road to Nowhere« begann dann alles von vorne. Mein Bruder meinte, die Talking Heads hätten schon viel coolere Sachen gemacht, und schleppte mich in den Plattenladen. Dort zog er die Alben »Fear Of Music« und »Remain in Light« aus dem Regal. Inzwischen gibt’s für mich viele beste Songs. Allerdings ist mir die Zeit gut in Erinnerung, in der ich mir pausenlos volle Pulle ein Stück der NDW-Rocker Fee anhörte. Die LP stammt aus der Sammlung meines Bruders. Er hat sie mir geschenkt. Der Refrain des Songs lautet: »Wenn du keinen Krach machst/Dann wirst du nicht gehört/Keiner hört dich/Keiner liebt dich.« Das ist wahr – und ein Grund dafür, warum ich das Zimmer, in dem auch Johnny Rotten mal wohnte, recht bald verließ.

wolfgang frömberg

 

Heiliger Lärm

Der Musiklehrer war als Pädagoge eine Katastrophe. Sich nicht um Anfang und Ende einer Schulstunde kümmernd, viel zu häufig cholerisch fuchtelnd, mit uns Kindern Gefechte austragend, die eines alten Mannes nicht würdig sind, stolz auf sein absolutes Desinteresse an den musikalischen Interessen seiner Schüler. Der Mann war Katholik und CDU-Wähler. Aber eben auch ein Kind der fünfziger und sechziger Jahre. Das war nicht nur die Zeit von Postfaschismus, Kommunistenverbot und Adenauermief, sondern auch die letzte heroische Epoche der musikalischen Avantgarde. So kam es, dass der Lehrer, dessen völlige Ahnungslosigkeit in Sachen Didaktik das einzige war, was ihn liebenswürdig machte, ein großer Anhänger dieser späten Moderne war: John Cage, Louis Armstrong, Pierre Boulez, Jimi Hendrix, Frank Zappa, John Coltrane, The Beatles und Captain Beefheart – seine Helden! E und U? Der Unterschied interessierte ihn nicht.

Der Unterricht ging so: Er kam irgendwann hereingestolpert, mit sich und den ignoranten Schülern hadernd, und legte ein paar Platten auf – Stockhausen, Schönberg, Hendrix. Immer in brüllender Lautstärke. Die Stücke wurden ausgespielt. Danach wollte er mit 15jährigen über Adornos Philosophie der Neuen Musik diskutieren.

Die Geschichte des Jazz war sein Herzensanliegen. Er erzählte richtig viel, schilderte Biographien, verteilte Referate und hörte (undenkbar!) uns Schülern zu. Von Anfang an machte er klar, dass der Jazz nur einer Bestimmung entgegenstrebt: der freien Improvisation. Jede Epoche, jeder neue Stil diente einzig einer Sache: der immer weiter gehenden Entfesselung der Improvisation. Wir bewegten uns auf den Höhepunkt zu, die letzte Stunde. Das Thema war Free Jazz. Der Lehrer war wortkarg (auf einmal) und legte nur eine Platte auf. Wahnsinniger, heiliger Lärm, ein Schreien und Toben, ein Sich-Aufschaukeln völlig haltloser Charaktere zu einem ununterbrochenen Polylog. 20 Minuten, eine Plattenseite. Sein einziger Kommentar war: »Das ist Free Jazz.« So ist es wirklich passiert.

Es handelte sich um John Coltranes Suite »Meditations«, eingespielt am 23. November 1965. Ein heikles Datum. Coltrane war da bereits dem Free Jazz verfallen und akzeptierte Albert Ayler, den oft Belächelten, als den alles überstrahlenden Mann der Stunde. Coltrane spielte damals noch mit seinem alten, dem klassischen Quartett: mit McCoy Tyner, Jimmy Garrison und Elvin Jones. Allerdings hatte er schon die großen Radikalen Pharoah Sanders (wie Coltrane Tenorsax spielend) und Rashied Ali (Schlagzeug) mit dabei. Die Spannung zwischen den treuen Partnern, dem freien Jazz gegenüber höchst misstrauisch, und den ungestümen No-Names entlud sich in einem wütenden Clash, einzig zusammengehalten von Coltrane. Natürlich.

Jahre später bin ich darauf gekommen, dass wir aus der Suite den Ausschnitt »The Father And The Son And The Holy Ghost« gehört hatten. The Father = Coltrane. The Son = Sanders. The Holy Ghost = Ayler. So muss man das lesen.

Es gibt keine Songs, die mein Leben verändert haben. Musik ist sekundär. Bei »Meditations« mache ich die Ausnahme. Ich habe sie jahrelang nicht besessen. Ich hatte zu großen Respekt vor diesem Schatz, um das Album aus dem Schularchiv zu stehlen. Das müssen doch auch die Jahrgänge nach mir hören können. »Meditations« wurde irgendwann auf CD wiederveröffentlicht. Ich bereitete mich auf das Wiederhören vor, ein kleines, magisches Ritual. Was soll ich sagen? Das wird es wohl gewesen sein, das hatte ich damals gehört, eine Aufnahme aus den Sechzigern halt, Coleman und Taylor und Brötzmann sind besser. Ein bisschen rumpelig, dann diese Coltrane’sche Harmoniesoße, die ja immer bei ihm durchsickert. Mehr war da nicht.

felix klopotek

 

Zugeschnürtes Herz

Es war ein heißer Hochsommertag, als der Brieffreund aus heiterem Himmel fragte: »Geht Ihnen das manchmal auch so?« Wir waren gerade wieder per Sie, weil uns das eleganter schien und den Worten bisweilen eine neckische Note beimischte. »Geht Ihnen das manchmal auch so? Da gibt es einen Song, der ist stets ein sicherer Garant für ein zugeschnürtes Herz, und Sie wissen nicht, warum. Es gibt kein Ereignis, mit dem er sich verbinden ließe, keine Stimmung, keine Zeit, an die man sich wehmütig erinnern könnte. Es ist einfach so: Kaum hören Sie das Lied, fallen Sie vorübergehend in tiefe Schwermut.« So gehe es ihm mit einem Lied des ungarischen Komponisten Gabor Presser, der es 1977 mit seiner Band Locomotiv GT einspielte.

Ja, antwortete ich, es gehe mir manchmal auch so. Wenngleich ich kein Lied zu benennen wusste, das diese Eigenschaften im Moment aufwies, glaubte ich aus früheren Tagen zu wissen, was er meinte. Ich wechselte das Thema und versuchte, ihn aufzumuntern. Im Dezember fing er wieder davon an. Er habe jetzt eine Live-Aufnahme vom Abschiedskonzert besagter Kapelle aufgetrieben. »Auch das Lied war dabei. Zwischen- und Endergebnis waren Tränen pur.« Nun wollte ich »das Lied« mit eigenen Ohren hören. Mitte Januar hielt ich eine Kopie in Händen, aber plötzlich fehlte mir der Mut, sie abzuspielen. »Mit dem Lied lass dir Zeit«, tröstete der Brieffreund. Wir waren wieder per Du, weil das Siezen uns inzwischen nur mehr alberne Attitüde schien. Ihm gefalle das Lied übrigens nicht, aber es rühre ihn eben »aus unergründ­lichen Gründen« sehr an.

In einem ruhigen Moment wagte ich es dann doch. Die vorübergehende Weigerung des Geräts, die selbstgebrannte CD abzuspielen, steigerte die Spannung. So viel vorweg: Die Augen blieben trocken. Ich mochte das Lied nicht besonders. Es schien mir zu den schwächeren dieser eigentümlichen Rockband zu gehören, ein bisschen zu sehr auf Hit getrimmt, Locomotiv GT hatten unter dem Titel »Star« auch gleich eine englische Version eingespielt, die, weil man die Worte verstand, platter klang als das Original »Egy elkésett dal« mit seinem osteuropäischem Timbre. Doch der an Paolo Conte gemahnende Gesang mit dem fast penetrant in die Länge gezogenen Refrain setzte sich unwiderruflich im Kopf fest. Ob die ihm innewohnende Melancholie oder die Vorstellung des weinenden Brieffreunds ausschlaggebend dafür war, dass mich das Lied nicht ganz unberührt gelassen hat, vermochte ich nicht mit Gewissheit zu sagen. Vermutlich beides.

Es war ein kalter Februartag, als der Brieffreund plötzlich verstummte. Seither habe ich nicht gewagt, das Lied noch einmal anzuhören. Schon der bloße Gedanke daran lässt nun die Tränendrüsen ungehemmt ihr Sekret absondern. Locomotiv GT planen eine Reunion, lese ich. Es ist mir egal.

Da gibt es ein Lied, dessen Bedeutung Sie erst durch ein späteres Ereignis, lange nach dem ersten Hören, erfassen. Geht Ihnen das manchmal auch so?

marit hofmann

 

Ohne Umweg in die Hölle

Das war es also, dieses Lied. Ich hatte ja schon viel darüber gehört. Dass es angeblich schlecht sei, so etwas zu hören, ja, dass man sogar Gefahr laufe, Satan zu begegnen. Vor solchen Gefahren wurde ich in meiner christlichen Jugendgruppe immer gewarnt. Da war nämlich so ein Buch im Umlauf. Von einem gewissen Herrn U. Bäumer. Der Titel lautete: »Wir wollen nur deine Seele«. Darin wurde einem ganz genau erklärt, dass das Hören der Beatles und der Rolling Stones, erst recht aber der Genuss von Hard Rock und Heavy Metal ohne Umweg in die Hölle führen könne, ach was, führe. Mit zwölf ließ man sich damals ja noch viel erzählen.

Dann war ich aber endlich alt genug (13?), um in der Jugenddisco »Orange« bis zum Schluss bleiben zu dürfen. Und der war um 22 Uhr. Auch die »Jugenddisco« gehörte übrigens zu einer Kirche, was man ihr aber nicht besonders anmerkte. Jeden Freitagabend wurden dort gegen Ende die gleichen Songs gespielt. Bisher hatte ich mich immer auf den Nachhauseweg machen müssen, bevor die letzten drei Songs aufgelegt wurden. Aber jetzt nicht mehr. Und das sollte alles ändern. Denn das letzte Lied war einfach großartig. Was konnte das nur sein? Ich tanzte. Dann kam der Refrain: »I’m on a Highway to Hell!«

AC/DC!

Innerhalb von vier Minuten war es vorbei mit dem albernen Jugendgruppenglauben, dass es sich hierbei um »böse« Musik handle, die die Menschen zum Schlechten verführe. Im Gegenteil: Wer solche Musik macht, kann gar nicht schlecht sein! Und wenn doch, dann wollte ich von nun an zu den Schlechten gehören.

Jetzt kamen Rock, Punk und Rebellion. And somewhere in the distance, a dog ­barked.

biggi hirschfelder