Die Schriftstellerin Alba de Céspedes arbeitete sich am Geschlechterverhältnis ab

Sie verstehen sich nicht

Die italienische Schriftstellerin Alba de Céspedes hat mit dem 1949 erstmals erschienenen und jetzt neu ins Deutsche übertragenen Roman »Aus ihrer Sicht« ein feministisches Buch über das Geschlechterverhältnis geschrieben, das in autobiographischer Manier das Leben der Hauptfigur Alessandra im faschistischen Italien schildert – und dabei melancholisch, aber nie kitschig ist.

Kennen Sie Alba de Céspedes? Falls nicht, stehen Sie damit leider wahrlich nicht allein. Die 1911 in Rom geborene und 1997 in Paris verstorbene Céspedes war in Italien zu Lebzeiten eine Bestseller-Autorin und genießt dort immer noch ein gewisses Ansehen, in Deutschland hingegen ist sie nahezu unbekannt. Zwar wurden sechs ihrer Bücher ins Deutsche übertragen – vor allem in der DDR wurde Céspedes früh wahrgenommen –, doch die letzte Übersetzung datiert auf das Jahr 1971. Auch in der hiesigen Literaturwissenschaft spielte sie damals, trotz Frauenbewegung, und heute, trotz der vielbeschworenen Wiederentdeckung weiblicher Autoren, nicht wirklich eine Rolle.

Dass sich der Insel-Verlag seit 2021 an die Neuübersetzung gleich meh­rerer Romane der italienischen Schriftstellerin gemacht hat, mag auch mit dem Erfolg einer an­deren, noch lebenden Autorin zu tun haben, deren Bücher seit einiger Zeit beim Suhrkamp-Verlag erscheinen, dem wiederum Insel gehört: Auch die im vergangenen Jahr mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete Annie Ernaux war noch ein paar Jahre vorher in Deutschland kaum bekannt gewesen.

Das hätte so nicht sein müssen, doch die deutschen Übersetzungen von Ernaux ließen teilweise jahrelang auf sich warten. »Les Années« beispielsweise, das Schlüsselwerk von Ernaux, erschien in Frankreich bereits 2008, die deutschsprachige Ausgabe mit dem Titel »Die Jahre« erst 2017.

Ernaux beschäftigt sich in ihren Büchern mit den gesellschaftlichen Verhältnissen der Nachkriegszeit, dem Konsumkapitalismus und der sich langsam verändernden Moral. Nachdenken lässt sie über diese Umbrüche stets ein weibliches Alter Ego, eine subjektiv erzählende, aus einfachen Verhältnissen stammende Figur – sie bedient sich der literarischen Form der Autofiktion. Auch Céspedes’ Bücher drehen sich um Frauen, die sich Welt erschließen, obwohl diese ihnen nicht einfach so offensteht.

Alba de Céspedes war in der Resistenza, unter dem Namen »Clorinda« moderierte sie die Radiosendung »Italien kämpft«.

»Das verbotene Notizbuch« zum Beispiel, erstmals 1952 als »Quaderno proibito« erschienen und seit 2021 in einer Neuübersetzung erhältlich, handelt von Valeria, einer Angestellten, Hausfrau und Mutter im Rom der fünfziger Jahre. Valeria ist unglücklich, wegen ihres Manns, wegen ihrer Kinder, wegen ihres Lebens – und vertraut sich ihrem Notizbuch an. Der Roman ist, so darf man stark vermuten, nicht zuletzt das Ergebnis einer Lektüre von Virginia Woolfs berühmtesten Essay »Ein Zimmer für sich allein«, in dem die britische Schriftstellerin 1929 darlegte, warum Frauen im Vergleich zu Männern weniger bedeutende Literatur geschaffen haben – sind sie doch finanziell abhängig von den Männern und dadurch zu einer Existenz als Hausfrau gezwungen.

Obwohl Frauen die meiste Zeit ihres Lebens im Haus verbrachten, hatten sie kein eigenes Zimmer für sich, das ihnen die Ruhe zum Schreiben gewährt hätte, fern von den Kindern und dem Haushalt. Davon abgesehen galt es nicht als sittsam, wenn Frauen sich intellektuell betätigten, ja gar die Fähigkeit dazu wurde ihnen abgesprochen. Kein Wunder also, dass schreibende Frauen ihre Tätigkeit oft verheimlichten. Pragmatisch fragt Woolf in ihrem Essay: »Wäre ›Stolz und Vorurteil‹ ein besserer Roman geworden, wenn Jane Austen ihr Manuskript nicht vor Besuchern hätte verstecken müssen?«

Auch Valeria, die Heldin aus Céspedes’ »Das verbotene Notizbuch«, hat kein eigenes Zimmer, aber zumindest ein eigenes Notizbuch. Doch auch dieses muss sie verstecken, zumindest empfindet sie es so. Selbst die banalsten Dinge, die sie hineinschreibt, sollen ihrer zwar einengende, aber nicht im klassischen Sinne konservative Familie verborgen bleiben – und irgendwann ist das, was sie notiert, eben auch nicht mehr banal, sondern geradezu erschütternd.

Gesteigert wird die Intensität durch die Konzeption des Romans, der komplett aus den besagten Notizen besteht und nicht zuletzt dadurch Authentizität erzeugt, die so stark wirkt, dass die Leserin oder der Leser sich beinahe schämt, denn stellenweise denkt man tatsächlich, ein Tagebuch zu lesen und damit die größte Angst der Protagonistin Realität werden zu lassen – dass jemand ihre geheimsten Gedanken erführe.

Der Großvater war Revoluti­onär in Kuba
Auch das zuletzt erneut ins Deutsche übersetzte Buch von Céspedes, »Aus ihrer Sicht« (»Dalla parte di lei«, 1949), hat eine Römerin zur Heldin, die ebenfalls autobiographisch aus ihrem Leben berichtet, jedoch mit einem offizielleren Ton als dem eines Tagebuchs. Alessandra, genannt Sandra, ist ein jungenhaftes Mädchen kurz vor ihrem Studium, das im faschistischen Italien in bescheidenen Verhältnissen lebt. Ihre Mutter Eleonora, eigentlich eine Pianistin, ist das Leben als Hausfrau, zu dem sie verdammt ist, zu eng – sie flüchtet sich in den Freitod. Alessandra wird daraufhin zu Verwandten in die Abruzzen geschickt, wo sie ein ihr bis dahin, trotz der einfachen Verhältnisse, aus denen sie stammt, unbekanntes Leben kennenlernt: »›Das ist Italien‹, dachte ich beim Anblick der Straßen, auf denen unsere Landsleute unterwegs waren: Frauen mit Krügen auf dem Kopf, Bauern mit Strohbündeln, barfüßige Kinder.«

Wieder zurück in Rom nimmt Alessandra ein Studium auf. Obwohl bis dahin dem Leben als Ehefrau und Mutter ablehnend gegenüberstehend, verliebt sie sich unsterblich in den Philosophiedozenten Fran­cesco, der Mitglied der Resistenza ist. Dieser schließt sich später auch Alessandra an – obwohl Fran­cesco, mittlerweile ihr Ehemann, nichts davon hält.

Als Leser, der mit dem Leben der Autorin vertraut ist, kommt man nicht umhin anzunehmen, dass es sich hier um ein autobiographisches Dokument handelt – aber so einfach ist es dann doch nicht. Tatsächlich war Alba de Céspedes in der Resistenza, unter dem Namen »Clorinda« moderierte sie die Radiosendung »Italien kämpft«. Doch anders als Alessandra und auch anders als Valeria aus »Das verbotene Notizbuch« stammt Céspedes nicht aus einfachen Verhältnissen, ganz im ­Gegenteil: Ihr Großvater Carlos Manuel de Céspedes war zwar Revoluti­onär und kämpfte in Kuba gegen die spanische Kolonialmacht, war aber Großgrundbesitzer; von 1869 bis 1873 war er der erste »Präsident der Republik Kuba in Waffen«, auch wenn der unter seiner Führung begonnene erste von drei Unabhängigkeitskriegen Kubas letztlich scheitern sollte. Ihr Vater war 1933 ebenfalls Präsident des Landes, wenn auch nur für wenige Wochen; ihre Mutter war Italienerin, so wuchs Alba de Céspedes in Rom auf. Sie selbst heiratete kurze Zeit nach Ende des Zweiten Weltkriegs einen Diplomaten. Ihre Prosa ist schlicht keine Autofiktion.

Nun hört man schon beinahe jemanden etwas über »kulturelle Aneignung« murmeln: Wie kann sie nur, die bürgerliche Schriftstellerin, die es doch tatsächlich wagt, über arme Frauen zu schreiben? Doch nicht nur ist dieser Vorwurf gegen eine Autorin von vornherein albern, er ist auch völlig abwegig, wenn man sich Woolf und den Essay »Ein Zimmer für sich allein« wieder ins Gedächtnis ruft. Man könnte sogar mutmaßen, dass Céspedes genau davon angetrieben wurde: Frauen, die ihre Geschichten nicht selbst erzählen können, weil sie alle Hände voll zu tun haben, kommen durch sie und ihr Schreiben zu ihrem Recht – und können sich endlich rächen.

Mehr Überlebensstrategie als feministische Organisierung
Rächen für etwas, das dieser Tage auch aufgrund einer feministischen Debatte, in der man lieber von »Gender« als von »Geschlecht« spricht, nicht mehr häufig angesprochen wird: die Geschlechterdifferenz. Denn die setzt den Frauen zu, und davon weiß Céspedes zu berichten: »Aus ihrer Sicht« ist vollgestopft mit Beschreibungen der Unterschiede zwischen Mann und Frau, und zwar keiner körperlichen (oder wie manche heute fälschlicherweise sagen: »biologischen«), keiner metaphysischen, sondern der Unterschiede, die den Verhältnissen entspringen – und die dann zu einem konflikthaften Geschlechterverhältnis führen. Die Männer gehen arbeiten, die Frauen bleiben zu Hause, bald schon haben sie sich einander entfremdet. Während die Männer nach schwerer Arbeit ihre Ruhe haben wollen, igeln sich die Frauen in ihrem Heim ein und formen Gemeinschaften mit anderen Frauen – wahrlich mehr Überlebensstrategie als feministische Organisierung.

»Aus ihrer Sicht« ist vollgestopft mit Beschreibungen der Unterschiede zwischen Mann und Frau, und zwar keiner körperlichen, keiner metaphysischen, sondern der Unterschiede, die den Verhältnissen entspringen.

So liest man also davon, dass die Freundin Sista zu berichten weiß: »Die Männer sind Schweine«, der Tomboy Alessandra von Offizieren, die nach Tabak und Leder riechen, glaubt, sie gehörten »zu einer anderen Sorte Mensch«, und dass die Großmutter Alessandra darin einweist, was es bedeutet, Kinder zu bekommen, denn: »Du hegst keinen Groll mehr gegen die Männer, auch sie sind nun deine Kinder.« Dieser niederschmetternden Aussicht will Alessandra entkommen, doch, und das ist der geniale Kniff des Romans, ist ihr dieser Ausweg mit dem intellektuellen Francesco nicht vergönnt. Dieser entpuppt sich nämlich als ebenso abweisend wie alle anderen Männer, ihm ist immer irgendetwas wichtiger, als Zeit mit seiner Frau zu verbringen – ernst nimmt er sie schon gar nicht. Diese Geringschätzung äußert er aber nicht offen und aggressiv, sondern subtil.

Kurz streift die Erzählung den Kitsch, um dann doch wieder die zwischenmenschliche Brutalität auszubuchstabieren, die aus der Ferne vermutlich gar nicht so aussieht.
Beeindruckend und auf eine radikale Art eigentümlich an dem Roman ist auch, dass er zwar in der Zeit des italienischen Faschismus und der deutschen Besatzung spielt, die Antifaschistin Céspedes ihre Haupt­figur aber niemals wirklich darüber nachdenken lässt. Die Namen Mus­solini und Hitler fallen erst gar nicht; »Aus ihrer Sicht« ist auch in diesem Sinne keine Autobiographie von Céspedes, sondern eine Art Autobiographie Alessandras. Einer Frau, die zwar fiktiv ist, deren Leben im Schatten eines Mannes aber durchaus reale Vorbilder hat.

»Ich möchte nur erklären, wie es für mich war. Denn alle wissen, welche Bedeutung er durch seine Schriften und für seine Schüler hatte, seine Freunde kennen ihn als Freund und seine Mutter kennt ihn als Sohn, aber nur ich kenne ihn als Ehemann«, heißt es an einer Stelle programmatisch. Hier spricht kein autofiktionales Ich, sondern eine Schriftstellerin, die ihre Figur die kollektive Erfahrung von Frauen durchleben lässt. Und zwar die, für schwach gehalten zu werden, obwohl man stark ist, für zu emotional gehalten zu werden, obwohl man leidenschaftlich ist, für schlicht gehalten zu werden, obwohl man ständig voller Sehnsucht in Büchern liest, wie Alessandra es im Roman immer wieder tut. Hier spricht eine Schriftstellerin, die einen Zustand durchbrechen will, den sie folgendermaßen schildert: »Und oft sagte Francesco ›Frauen‹, und ich sagte ›Männer‹, und beide antworteten wir: ›Ich verstehe sie nicht.‹«


Buchcover

Alba de Céspedes: Aus ihrer Sicht. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Mit einem Nachwort von Barbara Vinken. Insel-Verlag, Berlin 2023, 637 Seiten, 28 Euro