Das Hardcore-Festival Fluff Fest hat dieses Jahr zum vorerst letzten Mal stattgefunden

Zwischen Wühlmäusen und Grindcore

Über 20 Jahre beheimatete die tschechische Kleinstadt Rokycany das Punk-Festival Fluff, das sich trotz weitgehenden Verzichts auf Werbung und Sponsoring zur Szenegröße mauserte. Im Juli fand die letzte Ausgabe statt – ein Rück- und Ausblick.

Eben noch schrie der schlaksige Mann wie am Spieß, nun purzeln sentimentale Worte aus dem Mund von Tim De Gieter. »Danke, es ist eine Ehre«, haucht der Sänger und Bassist der belgischen Metalband Doodses­kader – Deutsch: Todesschwadron –, der mit seiner Stimme sonst ganz und gar nicht zaghaft umgeht, ins Mi­kro­phon. »Nach 20 Jahren fühlt es sich an, als wäre ich endlich zu Hause.«

Der Musiker steht neben seinem Bandkollegen Sigfried Burroughs auf der Hauptbühne des Fluff Fests im tschechischen Städtchen Rokycany. Es ist eine halbe Stunde vor Mitternacht am Freitagabend, das Duo der letzte große Act an diesem zweiten Festivaltag – und die Dunkelheit links und rechts neben der Bühne trägt beträchtlich zu dem experimentellen, aggressiv-düsteren Sound der Band bei. Eigentlich ist De Gieter einiges gewohnt, mit seiner zweiten Band Amenra spielt er regelmäßig ausverkaufte Konzerte auf der ganzen Welt, auch vor deutlich größerem Publikum. Wie kommt es, dass dieser Mann sich ausgerechnet hier, auf einem tschechischen Amateurflugplatz zwischen einem Wald und einer Autobahn, 20 Kilometer von der Stadt Pilsen entfernt, gewürdigt und angekommen fühlt?

Wer die mehr als 20jährige Geschichte des Fluff kennt, den verwundert diese Rührseligkeit nicht. In gleich mehrfacher Hinsicht ist es kein gewöhnliches Festival, das hier stets am letzten Juliwochenende stattfand. Keine Firmenlogos zieren die Bühnen, kein großer Catreingdienstleister verkauft Speisen und Getränke. Nur die Ehrenamtlichen des tschechischen Anarcho-Kollektivs Underdogs aus Prag, die das Festival maßgeblich organisieren, stehen hier tagelang teils von früh bis spät an den Zapfanlagen, am Einlass und hinter den Mischpulten.

Regulierungen waren dem Veranstaltungskollektiv immer fremd. Sicherheitsgräben, Security-Dienstleister? Nein danke.

Seit der Gründung im Jahr 2000 – damals noch unter dem Namen Y2K HC Fest – verzichtet das Fluff Fest vollständig auf Sponsoren und macht jenseits von sozialen Medien und ein paar Anzeigen in Fanzines keinerlei Werbung für sich. Das brauchte es auch nie. Bis zu 3.000 Leute aus der ganzen Welt, vor allem aber aus osteuropäischen Ländern und dem nahen Ostdeutschland, kamen auch ohne Selbstvermarktung vorbei. Das Image war Reklame genug.

Dieses Image wurzelt sehr tief in der Punk-Subkultur und ihren mannigfaltigen Ausprägungen. Das zeigt allein der Speiseplan: Tofuburger, Seitankebaps und mehr vom Kollektiv Svoboda zvířat (Tierfreiheit). Gegessen wird auf dem Fluff ausschließlich vegan, immer schon, denn der Tierrechtsaktivismus ist hier keine Floskel. Im Verlauf der drei Tage wurden immer mehr kleinere Flächen auf dem Festivalgelände mit Absperrband markiert – auch unmittelbar vor der Hauptbühne –, damit die dort residierenden Wühlmäuse trotz Lärm in Frieden wühlen können. Mit Wirkung: Auch der besoffenste Punk gab sich größte Mühe, die Miniaturschutzgebiete brav zu umsteuern.

Um Wühlmäuse zu schützen, wurden beim diesjährigen Fluff Fest einige Teile des Geländes abgesperrt

Vorsicht, Wühlmäuse! Um die kleinen Geschöpfe zu schützen, wurden beim diesjährigen Fluff Fest einige Teile des Geländes abgesperrt

Bild:
Konstantin Nowotny

Nun haben die Wühlmäuse erst einmal Ruhe, und zwar wohl auf Dauer. Das Szenefest fand im Juli zum letzten Mal statt. Eine nachhaltige Organisation – finanziell, logistisch und klimatisch – sei den Veranstaltern nach der Covid-19-Pandemie und dem Beginn des Ukraine-Kriegs nicht mehr gelungen. Der Preis für ein Dreitagesticket lag zuletzt bei 2.000 tschechischen Kronen, umgerechnet etwa 82 Euro. Für deutsche Verhältnisse ist das immer noch günstig, im Vergleich zum Ticketpreis vor zehn Jahren aber fast eine Verdopplung.

Neben Doodseskader betonten zahlreiche Bands der unterschiedlichsten Punk-Subgenres in mal kurzen, mal ausufernden Bühnenansagen die Bedeutung dieser Zusammenkunft in Rokycany. Viele Größen besuchten schon den tschechischen Acker, unter anderem Hardcore-Legenden wie Converge (2007), Have Heart (2009), Verse (2012) oder Ceremony (2011 und 2019). Das Image des Festivals wandelte sich zum Siegel: Wer hier spielt, ist kredibel. Wohl auch deswegen gab sich schon so mancher Headliner mit vergleichsweise niedrigen Gagen zufrieden: Die bekannte Straight-Edge-Band Good Clean Fun soll für ihren Auftritt im Jahr 2007 gerade einmal 300 Euro erhalten haben.

Ausgehend von einem Schwerpunkt auf Hardcore hat sich das Line-up über die Jahre immer weiter diversifiziert. Zu vielem Punk gesellte sich erst viel Metal, später fanden auch Screamo-/Emo- oder Post-Punk-Bands nach Rokycany. Auch die Headliner wurden vielseitiger: 2021 beendeten die US-Shoegaze-Band Nothing und die jüngst eher zum Indierock konvertierten Dänen Iceage je einen Abend auf der Hauptbühne. Dass es einmal zu wenig Krach auf dem Fluff geben könnte, stand aber spätestens seit Einführung der »All Go/No Slow«-Bühne nicht zu befürchten. Black Metal, Grindcore, Powerviolence – kein Sound war dafür zu extrem. Viele Bands kamen aus Osteuropa, aber das Fluff lockte stets auch Gäste aus ferneren Ländern an. Im Juli spielten unter anderem die Crust-Punker Doldrey aus Singapur und die marokkanische Post-Punk-Band Taqbir.

Politische Bildung fand seit 2012 im Info-Zelt statt. Hier referierten verschiedene linke Kollektive über Tierrechtsaktivismus, Klimaaktivismus oder die Situation politisch Unterdrückter auf der ganzen Welt.

Spätestens seit dem Jahr 2012, in dem erstmalig das sogenannte Psych Tent vom Gründer des Prager Labels Stoned to Death Records, Jakub Ďuraško, etabliert wurde, hatten sich Genregrenzen weitgehend erledigt. Hier durfte nun alles stattfinden, was für die ohnehin teils obskuren Bühnen noch zu seltsam, zu nischig gewesen wäre, aber gerade deswegen als punkig durchgehen kann: Psychedelisches und Elektronisches. Egal ob hier zu später Stunde jemand mit einer elektronisch verstärkten Oboe vor sich hin krächzte oder ein maskiertes Kollektiv mit einem Synthesizer und einer Satellitenschüssel so viel Lärm wie möglich zu machen versuchte – alles hat sein mal interessiertes, mal amüsiertes, mal ekstatisches Publikum gefunden.

Politische Bildung fand seit 2012 im Info-Zelt statt. Hier referierten verschiedene linke Kollektive über Tierrechtsaktivismus, Klimaaktivismus oder die Situation politisch Unterdrückter auf der ganzen Welt. Politisiert wurde aber – wie sollte es bei so einem Festival anders sein – alles Mögliche. So musste die schwer gehypte US-Hardcoreband Defeater 2012 ihre gut besuchte Show abbrechen, weil sie sich an einer Spendensammelaktion für US-amerikanische Kriegsveteranen beteiligt hatte. Versuche des Fluff-Gründers Michal Kočan, die Situation zu beruhigen, halfen wenig. Die Formulierung in einer Pressemitteilung der Band, in der von »Helden, die für unsere nationale Freiheit kämpfen« die Rede war, hatte für einige ein zu intensives Gschmäckle. Unter Pfiffen und Buhrufen mussten die Bostoner vorzeitig die Bühne verlassen.

Regulierungen waren dem Veranstaltungskollektiv immer fremd. Sicherheitsgräben, Security-Dienstleister? Nein danke. Auf etlichen Youtube-Videos lässt sich gut beobachten, wie das Publikum bei vielen Shows wie selbstverständlich die Bühne einnimmt und sich zum Teil der Performance erklärt, ungebremst und oft animiert von der Band. 2001 führte das bei einer Show der Straight-Edge-Band Vitamin X zum Abbruch des Festivals, aber es blieb dabei: Rock­stars können draußen bleiben, es gibt kein Exklusivrecht aufs Podium, auch 2023 nicht.

Mit hoher Wahrscheinlichkeit geht die letzte Ausgabe des Festivals als die weiblichste in dessen Geschichte ein: Beinahe jede zweite Band hatte eine Frau am Mikrophon oder mindestens weibliche Mitglieder, was sich direkt in spürbar gestiegener Begeisterung der Fesitval-Besucherinnen für Stagedives zeigte

Konflikte klärte man nach Möglichkeit ohne die tschechische Polizei, die jedes Jahr sichtbar skeptisch auf einem Zeltplatz voller 1312-Nummernschilder und ACAB-Patches ihre Runden drehte. Nur eine Sache brauchte offenbar strukturellere Maßnahmen: Kontrovers diskutiert wurde vor ein paar Jahren die Abschaffung des allnächtlichen Partyzelts, in dem an einem Tag voller Lärm jahrelang bis in die Morgenstunden zu Charthits aus der Konserve getanzt werden durfte. Gerüchten zufolge habe der exzessive Modus, in den hier einige Festivalbesucher gerieten, regelmäßig zu gar nicht mehr so linken Szenen geführt. Proteste in den sozialen Medien halfen nichts, das Partyzelt wurde abgesägt. Punks understand no fun? Natürlich doch: Statt Disco gab es nun DJ-Sets, und wer die Trance-Remixes bekannter Hits der Slowenin Karolina Matova alias Kaa Glo hörte, der konnte ahnen, dass der Bierernst hier nicht gewonnen hatte.

Das Bier selbst mitunter schon: Obwohl das Festival auch mit der Straight-Edge-Bewegung verbandelt ist, machte das Veranstaltungskollektiv aus dem freiwilligen Verzicht auf Alkohol und andere Drogen nie ein Dogma. Immer mal zierte ein X einen Handrücken, konsumiert wurde dennoch in friedlicher Koexistenz.

Mit hoher Wahrscheinlichkeit geht die letzte Ausgabe des Festivals als die weiblichste in dessen Geschichte ein: Beinahe jede zweite Band hatte eine Frau am Mikrophon oder mindestens weibliche Mitglieder, was sich direkt in spürbar gestiegener Begeisterung der Fesitval-Besucherinnen für Stagedives zeigte – etwa bei der angesagten kalifornischen Hardcoreband Scowl, deren Sängerin Kat Moss ihrem Publikum ganz in DIY-Manier riet, das Ende zum Anfang werden zu lassen: »Lasst das Feuer nicht ausgehen, gründet eine Band, macht ein Zine, macht Fotos … « Wer hier war, dem wird das Argument von Bookern, es gebe zu wenige weibliche Bands für ein ausgeglichenes Line-up, so vorkommen, wie es ist: falsch.

»Wir werden nicht komplett verschwinden«, sagte Michal Kočan kurz vor Beginn des letzten Festivals dem DIY-Magazin Idioteq, »vielleicht werden wir in Zukunft sogar ein neues Festival mit einem etwas anderen Konzept veranstalten, wer weiß.« Bis zu diesem »wer weiß« bleibt der Samstag des diesjährigen Fluff-Festivals vorerst der letzte. ­Die US-Screamo-Legende Jeromes Dream, die nach über 17 Jahren ­Pause seit 2018 wieder Musik veröffentlicht, spielte ein letztes, minimalistisches, aber nicht minder gewaltiges Set bei leichtem Regen – ein gelungenes Finale auf der Hauptbühne. Wer dann noch konnte, sang nebenan mit Reel Notch and Gym Shark – einer Neil-Young-Coverband – ein paar Textzeilen, welche die Band kaum beherrschte. »Keep musicians out of punk«, stand auf einem Shirt geschrieben.