Für Solidarität mit der Ukraine werden Antikolonialismus und Antiimperialismus neu belebt

Das ewige Kolonialreich

Linke Solidarität mit der Ukraine im derzeitigen Krieg beruft sich oftmals darauf, gegen Russland eine antiimperialistische oder antikolonialis­tische Haltung einzunehmen. Doch sind deren Begriffe angesichts der russischen Geschichte durchaus fragwürdig und es droht außerdem, dass die linke Romantisierung von nationalen Befreiungsbewegungen sich wiederholt.
Disko Von

Begriffe wie Kolonialismus und Imperialismus bestimmen immer mehr die Debatten. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine spricht selbst Bundeskanzler Olaf Scholz vom »russischen Imperialismus«, fordern Aktivisten, Russland zu dekolonisieren und reaktivieren Linke Begriffe aus der Zeit der Solidarität mit nationalen Befreiungsbewegungen. Doch wie werden Begriffe wie Kolonialismus und Imperialismus dabei verwendet, und wie sinnvoll sind sie für das Verständnis heutiger Konflikte?

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Der Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar 2022 hat die Linke weltweit vor theoretische wie praktische Probleme gestellt. Die lassen sich mit zwei Fragen umreißen: »Was geschieht?« Und: »Was tun?« Vor allem Links­alternative, Postautonome und Anarchist:innen in Europa beantworten das mit einer Wiederbelebung und Neuausrichtung antiimperialistischer und antikolonialer Politik und fokussieren auf den russischen Imperialismus und Kolonialismus.

Was die beiden Begriffe in diesem Kontext bedeuten, wird, abseits von englisch- oder russischsprachigen akademischen Veröffentlichungen, kaum diskutiert. Der Aufruf »Für einen solidarischen Antiimperialismus« beispielsweise, mit dem im August 2022 ein linkes Autor:innenkollektiv aus der Ukraine, Russland, Polen, Deutschland, Österreich und der Schweiz in der Wochenzeitung Analyse & Kritik für eine linke Unterstützung des ukrainischen Verteidigungskampfs plädierte, kommt ohne jede spezifische Bezugnahme auf historische oder neuere Versuche aus, Imperialismus als spezifische Form kapitalistischer Verhältnisse theoretisch zu fassen.

Noch dünner wird es, wenn die Rede auf den russischen Kolonialismus kommt. So mutmaßt zum Beispiel die Taz anlässlich einer Ausstellung von Künstler:innen ethnischer Minderheiten in Russland, dass eine Been­digung des Ukraine-Krieges »nur über die Überwindung des kolonialen und imperialen Geists dieses letzten großen Kolonialreichs zu erreichen« sei. Fundierte Diskussionen werden hierzu kaum geführt. Stattdessen wird der Krieg Russlands gegen die Ukraine häufig in eine angebliche Kontinuität militärischer Unternehmungen wie der Eroberung des Nordkaukasus im 19. Jahrhundert, der Annexion der baltischen Staaten und Bessarabiens 1939, des Einmarschs in Afghanistan 1979, der militärischen Niederschlagung des tschetschenischen Separatismus in den neunziger und frühen nuller Jahren und des Kriegs mit Georgien 2008 gestellt. In dieser Betrachtung sind das zaristische Russland, die Sowjetunion und das heutige Russland nur Aggregatzustände eines überhistorischen russischen Kolonialismus und Imperialismus.

Sozialismus, ­nationale Befreiung und Modernisierung
Durch detailliertere Argumente wird diese Behauptung selten unterlegt. In der Regel begnügen sich die Ver­tret­er:in­nen dieser Position mit dem Verweis auf die russische Dominanz in den fraglichen multiethnischen Staaten und die Gewaltförmigkeit der jeweiligen Herrschaft. Diese Betrachtung übersieht jedoch die qualitativen Unterschiede zwischen diesen Herrschaften.

Im Zarenreich waren die zunehmende staatliche Durchdringung und wirtschaftliche Nutzbarmachung des feudal beherrschten Landes und die Eroberung und Kolonisierung angrenzender Gebiete viel enger miteinander verbunden, als dies beispielsweise in den Kolonien Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands der Fall war. Die So­wjetunion war unter den so geschaffenen Bedingungen der Versuch der Bolschewiki, angelehnt an Ideen, die die österreichische Sozialdemokratie im Vielvölkerreich der Habsburgermonarchie entwickelt hatte, Sozialismus, ­nationale Befreiung und Modernisierung zu verbinden. Damit konnten sie durchaus Anhänger:innen unter nichtrussischen Bevölkerungen gewinnen.

Die enorme Gewalt, die die sowjetische Gesellschaft von der Oktoberrevolution bis in die fünfziger Jahre prägte, ist kein Beleg für deren kolonialen Charakter. In vieler Hinsicht weist die Gewaltgeschichte der Sowjetunion eher Ähnlichkeiten mit der anderer postkolonialer Modernisierungsregime, vor allem in Asien und Afrika, auf. Dass mit dem Georgier Iosseb Bessarionis dse Dschughaschwili (Josef Stalin) und dem Mingrelier Lawrentij Berija (der seit 1938 die »Säuberungen« leitete) zwei Angehörige vermeintlich kolonialisierter Völker in der repressivsten Phase der Sowjetunion die zentralen staatlichen Machtpositionen besetzten, lässt sich so auch besser erklären.

Dass die Sowjetunion eher eine postkoloniale als eine koloniale Gesellschaft war, zeigt sich auch in ihrem Scheitern: Viele der aus ihr hervorgegangenen postsozialistische Gesellschaften weisen frappierende Ähnlichkeiten zu den gescheiterten postkolonialen Modernisierungsregimen im arabischen Raum auf. Dass die Annahme, die Sowjetunion und das heutige Russland seien koloniale Gesellschaften, in linken Kreisen eine gewisse Relevanz gewinnen konnte, verwundert nicht. Die Dominanz postkolonialer Theorien im linken akademischen Betrieb und der vorherrschende Blick auf den sowjetischen Realsozialismus, der diesen auf seine Repressionsgeschichte reduziert, spielen hierfür eine wichtige Rolle. So ist es aber, zumindest in Deutschland, auch ein Resultat abgebrochener Diskussionen.

In vieler Hinsicht weist die Gewalt­geschichte der Sowjetunion Ähnlich­keiten mit der anderer postkolonialer Modernisierungs­regime, vor allem in Asien und Afrika, auf.

Für die westdeutsche radikale Linke war die positive Bezugnahme auf antikoloniale, antiimperialistische Kämpfe ein konstitutiver Bestandteil des eigenen Weltbilds. Die Erschütterung von 1989/1990, die ja nicht nur die realsozialistischen Staaten betraf, sondern auch die linken nationalen Befreiungsbewegungen, die sich explizit oder implizit auf diese bezogen, stellte dieses Weltbild in Frage. Bewegungen, auf die kurz zuvor noch Revolutionshoffnungen projiziert wurden, transformierten sich zu so korrupten wie repressiven Regierungsparteien – wie der ANC in Südafrika oder die Sandinisten in Nicaragua – oder religiösen Mörderbanden – wie die PLO und die PFLP in Palästina – und bestenfalls zu sozialdemokratischen Parteien wie die FMLN in El Salvador. In dieser Situation wurde Kritik am Konzept nationaler Befreiung und an der »antiimperialistischen ­Solidarität« lauter. Im Bewusstsein der meisten Linken dürfte von dieser Aus­einandersetzung mit dem klassischen linken Antiimperialismus vor allem die Kritik an dessen inhärentem Antiamerikanismus hängengeblieben sein.

»Gerd Albartus ist tot«
Doch die Kritik am Antiimperialismus und an der Idee nationaler Befreiung ging darüber hinaus und stellte diese Konzepte so grundlegend in Frage, dass auch eine Wiederbelebung eines vom Antiamerikanismus bereinigten Antiimperialismus, wie sie derzeit in Folge des Kriegs in der Ukraine zu erleben ist, nur schwer vorstellbar war. Um sich das zu vergegenwärtigen, muss man zunächst einen Blick zurück auf den alten Antiimperialismus werfen. Dieser und ein sich auf nationale Befreiung konzentrierender Antikolonialismus koppelten die soziale Befreiung unmittelbar an die Erlangung staatlicher Souveränität.

Die Revolutionären Zellen (RZ) schrieben bereits 1987 in ihrem Papier »Gerd Albartus ist tot« selbstkritisch: »Die Beendigung der Fremdherrschaft, so dachten wir, sei gleichbedeutend mit dem Beginn der sozialen Revolution.« Kritiker:innen des Antiimperialismus erkannten nun, dass die Herstellung nationaler Souveränität Gewalt nicht nur nach außen, sondern auch nach innen erfordert, die Gesellschaft zu formieren und Klassenwidersprüche repressiv und ideologisch einzuhegen und zu unterdrücken. Dieses dem postkolonialen nation building inhärente Gewaltpotential ­ergibt sich nicht aus Verrat oder Dummheit der Verantwortlichen, sondern aus dem Zwang zur Kapitalakkumulation und der internationalen Konkurrenz. Denn nationale Befreiung zielt letztlich nicht auf die Überwindung des Kapitalverhältnisses ab, sondern auf die Etablierung neuer ideeller Gesamtkapitalisten.

Weil Antiimperialismus und Antikolonialismus sich auf nationale Kollektive als Protagonisten beziehen, sind sie im Ernstfall notwendig reaktionär. Im Interesse des Bestehens oder der Etablierung eines souveränen Staates und des Siegs über ein Imperium müssen zwangsläufig innere Konflikte hintangestellt werden. Soziale Bewegungen, die die vermeintliche nationale Einheit dennoch in Frage stellen, müssen demnach niedergeschlagen werden. Und gleichzeitig erfordert das Interesse der unabhängigen Nation zumeist Bündnisse mit sehr unsympathischen Leuten.

Fehlende Selbstkritik antinationaler und antideutscher Linker
Diese Erkenntnisse verloren jedoch schnell an Wirkmacht, was sich zum Beispiel am antideutschen Antiimperialismus während der Jugoslawien-Kriege zeigte, als manche Gegner:innen einer deutschen Vorherrschaft in Südosteuropa sich verbal mit der serbischen Kriegspartei solidarisierten. Es ist wohl auch die hier fehlende Selbstkritik antinationaler und antideutscher Linker, die dazu beitrug, dass Kritik am Antiimperialismus und Befreiungsnationalismus in den vergangenen Jahren hierzulande nicht weiterentwickelt wurde.

Davon abgesehen ist der neue postsowjetische Antikolonialismus auch Resultat des Scheiterns revolutionärer und demokratischer Hoffnungen. Da derzeit weder die Weltrevolution noch die Etablierung einer liberalen Demokratie in Russland denkbar sind, erscheint den Verfechter:innen und Sym­pathisant:innen des neuen Antiimperialismus und Antikolonialismus ­Befreiung nur mehr als nationale Emanzipa­tion möglich. Allerdings ist die Vorstellung, beispielsweise in Da­gestan, Baschkortostan, Jakutien oder Udmurtien souveräne, international konkurrenzfähige ideelle Gesamtkapitalisten aus dem Boden zu stampfen, höchst voluntaristisch und idealistisch.

Eine Dekolonialisierung Russlands, verstanden als Aufteilung in unabhängige, ethnisch definierte Staaten, bietet in der gegenwärtigen globalen Krise des Kapitalismus und vor dem Hintergrund der ökonomischen und sozialen Verwüstungen der vergangenen 30 Jahre nur düstere Aussichten. Die georgische Sozialistin Sopo Japaridze umriss diese auf Twitter folgendermaßen: »Ich kann mir nichts Bösartigeres und Regressiveres vorstellen als die ›Entkolonialisierung‹ in unserer Region, in der jeder denkt, sein ›ursprüngliches‹ Land sei das der anderen. Es ist ein Rezept für ewige reaktionäre, ethnische Kriege.«