Was bedeutet die Forderung nach der »Dekolonisierung« Russlands?

In der imperialen Sackgasse

Nicht alle Forderungen nach einer »Dekolonisierung« Russlands sind sinnvoll. Doch eine demokratische Zukunft kann Russland nur haben, wenn seine Bürger mit der imperialen Geschichte brechen und sich mit den strukturellen Ungleichheiten der russischen Gesellschaft auseinandersetzen.
Disko Von

Begriffe wie Kolonialismus und Imperialismus bestimmen immer mehr die Debatten. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine spricht selbst Bundeskanzler Olaf Scholz vom »russischen Imperialismus«, fordern Aktivisten, Russland zu dekolonisieren und reaktivieren Linke Begriffe aus der Zeit der Solidarität mit nationalen Befreiungsbewegungen. Doch wie werden Begriffe wie Kolonialismus und Imperialismus dabei verwendet, und wie sinnvoll sind sie für das Verständnis heutiger Konflikte? Peter Korig (»Jungle World« 35/2023) befürchtet, es könne sich eine linke ­Romantisierung von Befreiungsbewegungen wiederholen. Udo Wolter argumentierte, Russlands sei von postkolonialer und imperial-kolonialer Herrschaft zugleich geprägt (»Jungle World« 39/2023).

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Infolge von Russlands umfassender Invasion der Ukraine im Februar 2022 hat sich die Debatte über eine »Dekolonisierung« Russlands, die zuvor vor allem an Universitäten oder im Kulturbereich geführt wurde, in den Bereich realer Politik verlagert. Forderungen nach einer Dekolonisierung Russlands erheben oppositionelle Aktivisten aus Russlands Autonomen Republiken (wie Burjatien oder Baschkortostan) sowie ukrainische und einige europäische Politiker. Unter oppositionellen russischen Emigranten hat das Nachdenken über die Ursachen der Invasion auch zur Frage nach ihren Grundlagen in der imperialen Vergangenheit Russlands geführt.

Gleichzeitig spielt das Thema Dekolonisierung eine wichtige Rolle in der Rhetorik der russischen Regierung: Einerseits betrachtet Präsident Wladimir Putin »Separatismus« als Hauptbedrohung für die nationale Sicherheit Russlands, andererseits ruft er die Länder des Globalen Südens zum Kampf gegen den »westlichen Kolonialismus« auf.

Die Unschärfe des Begriffs der Dekolonisierung wird durch seine Instrumentalisierung im geopolitischen Diskurs noch verstärkt. In mehreren seiner programmatischen Reden hat Putin sein Weltbild offenbart: Alle Länder seien entweder Kolonien oder ­Metropolen, das sei schon immer so gewesen und werde auch immer so bleiben. Der Unterschied sei nur, dass einige den Mut hätten, dies zuzugeben, während die anderen (»der kollektive Westen«) diese bittere Wahrheit mit heuchlerischer Demagogie über das Völkerrecht verdeckten. Putin (der damit im Grunde dem Ansatz des deutschen Denkers Carl Schmitt folgt) ist davon überzeugt, dass das Recht nur eine Form der Herrschaft widerspiegele und es daher notwendig sei, den »Souverän« zu identifizieren, der der eigentliche Ursprung allen Rechts ist.

Demnach bedeutet Dekolonisierung die Befreiung von den Fesseln westlicher Kolonialherrschaft und den Übergang zu einer »multipolaren Welt«, in der es keine gemeinsamen Normen mehr geben und das einzig wahre Recht das des Stärkeren sein wird. Innerhalb Russlands selbst bedeutet eine so verstandene Dekolonisierung (oder »Stärkung der Souveränität«, um Putin zu zitieren) die vollständige Beseitigung nicht nur jedes politischen Dissenses, sondern auch jeglicher Formen der Autonomie der Gesellschaft vom Staat, einschließlich der Abschaffung von Nichtregierungsorganisationen und der Meinungsfreiheit im akademischen oder kulturellen Bereich. Der Begriff der »kulturellen Souveränität« wurde in die offiziellen »Grundlagen der russischen Kulturpolitik« aufgenommen, und das Justizministerium bereitet eine Definition der »rechtlichen Souveränität« vor.

Auf der anderen Seite setzten einige Forderungen US-amerikanischer und europäischer Politiker nach Dekolonisierung Russlands dies mit einer Form von Strafe gleich. Dekolonisierung bedeutet hier die Aufteilung des Landes infolge einer militärischen Niederlage. Dahinter steht die Annahme, dass ein so »dekolonisiertes« Russland endlich seine imperialen Ambitionen aufgeben und keine Bedrohung mehr für seine Nachbarn darstellen würde.
Doch lässt sich schwer übersehen, dass eine solche »Dekolonisierung« auch das Gegenteil bewirken könnte, nämlich ein Erstarken des imperialen Revanchismus und des Wunsches, die von außen auferlegten politischen Formen, die als Ergebnis einer »nationalen Demütigung« empfunden werden, wieder abzuwerfen (wie historische Präzedenzfälle immer wieder gezeigt haben, von Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg bis zum postso­wjetischen Russland in den frühen Neunzigern).

Notwendig ist eine Antwort auf die Frage, was Russland noch zusam­men­hält außer einer starren autoritären Herrschaft, einer vereinheitlichten imperialen »Kultur« und der ökonomischen Dominanz Moskaus.

Beide Versionen von Dekolonisierung verwenden diese also nur als Mittel zum Zweck und berauben den Begriff seiner ursprünglichen emanzipatorischen Bedeutung. Indem sie die ­Dekolonisierung als einen externen Prozess darstellen, verweigern sie außerdem denjenigen eine aktive Rolle, die ihr Hauptsubjekt sein sollten – zum Beispiel die unterdrückten Volksgruppen, deren Identitäten, Kulturen und Sprachen historisch von imperialen Mächten unterdrückt worden ist.

All dies zeigt, wie notwendig eine ernsthafte Diskussion über das Verständnis von Dekolonisierung als politischem Programm ist, das sowohl mit einer Revision der imperialen Stoßrichtung der russischen Außenpolitik als auch mit der Demokratisierung des inneren Aufbaus des Landes verbunden wäre. Der Krieg hat strukturelle soziale und nationale Ungleichheiten in Russland offengelegt und die Aufmerksamkeit auf die ungerechte Verteilung von Ressourcen und Macht gelenkt.

Die überproportionale Mobilisierung von Männern aus Teilrepubliken mit nichtrussischen Titularethnien (wie Dagestan, Tuwa und Burjatien) in die russische Armee rührt daher, dass diese Regionen innerhalb Russlands die ärmsten und wirtschaftlich rückständigsten Landesteile darstellen; Massenarbeitslosigkeit lässt jungen Menschen dort oft keine andere Wahl. Während der zwei Jahrzehnte der Herrschaft Putins hat Russland konsequent einen Weg der Entföderalisierung verfolgt und ein Modell errichtet, in dem alle finanziellen Ressourcen in Moskau und einigen wenigen Millionenstädten konzentriert sind, während die Regionen das bisschen Selbstverwaltung und Kontrolle über ihre Einnahmen einbüßten, das sie einmal hatten.

Dieses höchst ungerechte und antidemokratische Modell der so genannten »Machtvertikale« (Putins Definition) führte in den Jahren vor der umfassenden Invasion der Ukraine in einigen russischen Regionen (sowohl in Repu­bliken wie Komi und Baschkortostan als auch in ethnisch russischen Gebieten wie der Region Chabarowsk) zum Anwachsen lokaler Protestbewegungen für das Recht auf Selbstverwaltung und Umweltschutz.

Ein Ausweg aus der durch Putins Einmarsch in die Ukraine geschaffenen Krise der russischen Gesellschaft ist nur durch die Verabschiedung einer neuen Verfassung und eine tiefgreifende Umgestaltung der bisherigen politischen Ordnung möglich. Das bedeutet nichts Geringeres als die Suche nach den Grundlagen eines neuen Gesellschaftsvertrags – nach einer Antwort auf die Frage, was Russland als Land noch zusammenhält außer einer starren autoritären Herrschaft, einer vereinheitlichten imperialen »Kultur« und die ökonomische Dominanz Moskaus.

Das Schlüsselprinzip einer künftigen echten Föderation (oder Konföderation) in Russland sollte die Freiwilligkeit des Zusammenschlusses sein, die durch ein gesetzliches Recht der Föderationssubjekte (in erster Linie ethnischer Minderheiten) auf Austritt aus dem Zusammenschluss gesichert ist. Es lohnt sich, darauf hinzuweisen, dass genau dieser Grundsatz für Unionsrepubliken von Lenin bei der Gründung der Sowjetunion vorgeschlagen und dann in alle drei sowjetischen Verfassungen übernommen wurde. Obwohl dieses Recht während der Sowjetzeit nicht in Anspruch genommen werden konnte, stellt es einen wichtigen historischen Präzedenzfall für das Nachdenken über Alternativen zur imperialen Überzentra­lisierung dar, die maßgeblich dazu beigetragen hat, das Land in die gegenwärtige Krise zu führen.

Dekolonisierung kann nur ein interner Prozess sein, eine umfassende Reflexion und Neubewertung der Vergangenheit und der Gegenwart, an der sich die gesamte Gesellschaft Russlands, einschließlich der ethnisch russischen Mehrheit, beteiligen muss. Nur wenn sich die Bewohner Russlands freiwillig und bewusst den imperialen Weg verlassen, können sie einen demokratischen, sozialen Staat aufbauen, der aufhört, eine ständige Bedrohung für seine Nachbarn darzustellen.

Dieser Text wurde zuerst vom Mailänder Istituto per gli studi di politica internazionale (ISPI) veröffentlicht. Übersetzung aus dem Englischen von Paul Simon.