Lou Reeds Album »Berlin« erschien vor 50 Jahren

Sad Songs

Mit dem Konzeptalbum »Berlin«, das vor 50 Jahren erschien, mauserte sich Lou Reed zum Rock-Schriftsteller – und setzte der Stadt ein Denkmal, das sie heute nicht mehr verdient hat.

In den frühen nuller Jahren kam der Künstler Jeremy Shaw aus Kanada nach Berlin – und war enttäuscht. Enttäuscht deswegen, weil sein Bild der Stadt vor allem geprägt war von der Verfilmung der Memoiren von Christiane F., »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo«. Statt Junkies und Punk-Discos bekam er aber ein Berlin zu sehen, das sich schon mitten im Prozess der Gentrifizierung befand. Als Reaktion darauf klebte er 2011 anlässlich der Ausstellung »Based in Berlin« das Filmplakat von »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo« an die Wände – ein kläglicher Versuch, die Stadt an ihre Imago zu erinnern.

Dass Berlin ein Sehnsuchtsort ist, das hatte lange Zeit viel mit der Weimarer Republik zu tun – und mit dem, was der Schriftsteller Christopher Isherwood 1939 darüber aufschrieb. Doch bevor der Film über die heroinabhängige Teenagerin 1981 das Bild der Stadt in der gesamten westlichen Welt (auch mit Hilfe von David Bowie, dessen Song »Heroes« Teil des Soundtracks war) so tief prägen sollte, war es der ehemalige Velvet-Underground-Frontmann Lou Reed, der sich auf seinem dritten Soloalbum, das 1973 erschien, nicht nur der Stadt widmete, sondern es auch nach ihr benannte.

Reed hatte gerade erst sichergestellt, dass er überhaupt Aussichten auf eine Karriere hatte. Großen Anteil daran hatte David Bowie: Dieser hatte nicht nur die Stooges davon überzeugt, ein drittes Album aufzunehmen (»Raw Power«, 1972), sondern auch Reed nach seinem völlig misslungenen und von der Kritik gescholtenen Debüt-Soloalbum, das 1972 erschien und fast ausschließlich Neuaufnahmen alter Demosongs von The Velvet Underground ent­hielt (die allerdings nun völlig totproduziert klangen), unter seine Fittiche genommen. Bowie produzierte »Transformer«, das ebenfalls 1972 erschien, und ist auf einigen Songs sogar als Hintergrundsänger zu hören.

Die Idee des Konzeptalbums war damals, Anfang der Siebziger, noch etwas relativ Neues.

»Transformer« ist wohl Reeds bekanntestes Album und mit Songs wie »Satellite of Love« oder »Walk on the Wild Side« auch ohne Zweifel eines seiner besten. Jeder Song funktionierte wie ein kleines Gedicht, ist eine kleine Geschichte (auf »Walk on the Wild Side« geht es unter anderem um die Transfrauen und Warhol-Musen Candy Darling und Holly Woodlawn; im Song »New York Telephone Conversation« wird eine typisches Telefongespräch verballhornt), die aber, wie Produzenten-Legende Bob Ezrin bemerkte, nie ein Ende haben. Besonders trieb den Produzenten von Alice Cooper, Pink Floyd und Deep Purple jedoch um, was wohl aus dem Paar aus dem Lied »Berlin« geworden ist, ein Song, der nicht auf »Transformer«, sondern auf Reeds Debüt­album erschienen war.

Die Idee des Konzeptalbums war damals, Anfang der Siebziger, noch etwas relativ Neues. Frank Sinatra gilt als ihr Erfinder, mit den Beach Boys und den Beatles war die Idee des Konzeptalbums auch in der Rockmusik angekommen – allerdings bezeichnete man so zunächst Alben, die einen konsistenten Sound verfolgten. Eine Platte, die eine Geschichte durcherzählt, das kam erst in der Zeit auf, als Reed an »Berlin« arbeitete, etwas, was man auch mit dem Begriff der »Rockoper« charakterisieren könnte.

Tatsächlich hatten Reed und Ezrin (der »Berlin« dann produzieren sollte) von Beginn an geplant, das Album für die Theaterbühne zu adaptieren. Dieser Wunsch ging erst 33 Jahre später in Erfüllung: Der Künstler Julian Schnabel machte aus einer Reihe von Aufführungen des Albums 2006 (Reed hatte das Album bis dahin nie komplett live gespielt) den Film »Berlin: Live at St. Ann’s Warehouse«, der mit Chor und einer von Schnabels Tochter Lola angefertigten Videoproduktion, die im Hintergrund der Band zu sehen ist, aufwartet. 1973 hatte Reeds Label RCA noch ein Werbeposter für »Berlin« gedruckt, das aussah wie ein Filmplakat und mit dem Slogan »A film for the ear« warb – jetzt gab es ihn auch tatsächlich fürs Auge.

»Wir haben uns mit diesem Album psychologisch umgebracht. Wir waren so tief drin, dass es schwer war, wieder rauszukommen.« Album-Produzent Bob Ezrin

In diesem Film geht es um die Prostituierte Caroline und Jim, einen Drogenabhängigen. Die beiden werden ein Paar, und während sie am Anfang noch beim Candelight-Dinner sitzen und »Dubonnet on ice« trinken, also alles, wie Reed singt, wie im »paradise« ist (»Berlin«), gerät das Leben beider Figuren schon bald aus den Fugen. Caroline kann nämlich ziemlich gemein sein, zum Beispiel dann, wenn sie sich über Jim lustig macht und ihn nicht für einen richtigen Mann hält (»Caroline Says I«).

Dieser kann derweil nicht mehr schlafen und ist dank seiner Drogenabhängigkeit auch noch pausenlos pleite (»How Do You Think It Feels«). Als Caroline ihn schließlich verlässt, schlägt er sie »black and blue« (»Oh, Jim«), was Carolines Liebe für Jim dann vollends zum Erliegen bringt (»Caroline Says II«).

Zu allem Überfluss werden ihr dann auch noch ihre Kinder weggenommen (»The Kids«), die sich daraufhin in herzzerreißender Weise die Seele aus dem Leib schreien und nach ihrer »Mommy« verlangen. In ihrem Bett liegend bringt Caroline sich schließlich um (»The Bed«), was bei Jim im letzten Song allerdings keine Empathie, sondern noch mehr Sadismus hervorruft (»Sad Song«).

Dass Jim ein Alter Ego von Reed ist und Caroline eine ganze Menge mit Reeds erster Ehefrau Bettye Kronstad zu tun hat, klingt nach einer These, die fast zu gut ist, um wahr zu sein. Tatsächlich heirateten Reed und Kronstad 1973 – und ließen sich im selben Jahr auch schon wieder scheiden. Ende der Siebziger erzählte Reed dem britischen Musikjournalisten Allan Jones, dass Kronstad tatsächlich in der Zeit der Aufnahme von »Berlin« versucht habe, sich das Leben zu nehmen, indem sie sich die Pulsadern aufschnitt – ganz so, wie Caroline auf dem Album zu Tode kommt; Kronstad wiederum erzählte einmal, dass Reed ihr ein blaues Auge verpasst habe.

Reed und David Bowie bei einer Party in London, zwischen ihnen ein verdutzter Mick Jagger, 1973

Nicht nur eine private, sondern auch eine berufliche Freundschaft. Reed und David Bowie bei einer Party in London, zwischen ihnen ein verdutzter Mick Jagger, 1973

Bild:
picture-alliance / dpa

Ein makaberes Beispiel dafür, was passieren kann, wenn die Kunst das Leben imitiert. Als »Berlin« fertig eingespielt war (aufgenommen wurde in den Morgan Studios in London), war auch die Ehe zwischen Reed und Kronstad nicht mehr zu retten. Doch nicht nur Kronstad scheint Thema zu sein, sie selbst gab einmal zu Protokoll, dass auch Nico, Reeds Bandkollegin und Liebschaft aus Velvet-Underground-Zeiten, viel mit Caroline zu tun habe – immerhin lebte Christa Päffgen alias Nico als Kind in Berlin.

»Wir haben uns mit diesem Album psychologisch umgebracht. Wir waren so tief drin, dass es schwer war, wieder rauszukommen«, erzählte Produzent Ezrin 1976 über die Aufnahmesession für »Berlin«, die er ein anderes Mal auch als »Alptraum« bezeichnete. Auch für Reed waren die Aufnahmen kein Zuckerschlecken – und doch war ihm das Album wichtiger als »Transformer«. 1974 erzählte Reed dem britischen Musikjournalisten Nick Kent: »Ich musste ›Berlin‹ machen. Wenn ich es nicht gemacht hätte, wäre ich verrückt geworden. Es war sehr schmerzhaft, dieses Album zu machen. Ich will das nie wieder durchmachen, diese Worte immer und immer wieder sagen zu müssen.«

Eigentlich sollte es ein Doppel­album werden, nicht mit mehr Songs, sondern mit längeren Laufzeiten der einzelnen Lieder. Doch RCA sagte nein: Ein Doppelalbum mit zwei LPs war teurer in der Herstellung, wurde deswegen auch teurer verkauft, und Reeds gerade erst erfolgreich begonnene Solokarriere wollte man nicht aufs Spiel setzen. Viele Songs mussten deswegen gekürzt werden, trotzdem enthält »Berlin« mit »The Kids« (7:50) und »Sad Song« (6:55) auch für Reeds damalige Verhältnisse zwei längere Stücke. Der Musiker hörte sich das finale Produkt gar nicht erst an, so sehr nahm es ihn mit.

So schmerzhaft die Aufnahmen für Reed waren, so schmerzhaft waren auch die Reaktionen auf das Album, das am 5. Oktober 1973 erschien. Der wichtige Musikkritiker Robert Christgau (der sich bei Musikern wahrlich nur Feinde gemacht hat) bezeichnete in Village Voice das Argument, Reed sei eine »künstlerische Leistung« gelungen, als »horseshit«. Ähnlich hart ging der Rolling Stone mit Reed ins Gericht, nannte das Album ein »Desaster« und schlussfolgerte, man solle Reed »körperliche Gewalt« antun als Strafe dafür, es aufgenommen zu haben. »Die Art und Weise, wie dieses Album verrissen wurde, war wahrscheinlich die größte Enttäuschung, die ich je erlebt habe«, erzählte Reed 1977. »Ab diesem Zeitpunkt machte ich dicht.«

Lou Reed schockierte selbst in den Siebzigern noch sein Publikum mit den Themen Drogenabhängigkeit, Sex und Selbstmord.

Er nahm zwar noch das Bluesrock-Album »Sally Can’t Dance« auf, war aber auch damit unzufrieden, um schließlich 1975 ein Album vorzulegen, dass man nur als Affront gegen die Musikindustrie verstehen kann: »Metal Machine Music« besteht aus lediglich vier Songs, die jeweils etwas über 15 Minuten dauern und allesamt aus unmelodischem Gitarrenkrach bestehen – ein unhörbares Album. Zum Glück gab Reed aber nicht auf: Ebenfalls 1975 erschien »Coney Island Baby«, im Gegensatz zum Vorgänger vollgestopft mit wunderschönen Melodien – besser aufgenommen wurde es von der ­Kritik am Ende auch.

Dass »Berlin« so verkannt wurde (immerhin gilt es mittlerweile als Reeds wohl wichtigste Platte), hat definitiv mit Arroganz zu tun, denn das Konzept des Albums war geradezu avantgardistisch – und verlangte von Reed, sich seine erst kürzlich mit Hilfe von Bowie zugelegte Glam-Rock-Persona wieder abzustreifen. Auch schockierte Reed selbst in den Siebzigern noch sein Publikum mit den Themen Drogenabhängigkeit, Sex und Selbstmord. Reed scherzte einst selbst drüber und schlug vor, Sticker auf seine Alben zu kleben, auf denen stehen würde: »Bleiben Sie weg, wenn Sie keinen moralischen Kompass haben.«

Richtig schockierend ist allerdings die Tatsache, dass die literarische Qualität von »Berlin« nicht wertgeschätzt wurde. Lou Reed mauserte sich mit diesem Album endgültig zum Rock-Autor, und zwar trotz der vermeintlichen Parallelen zu seinem eigenen Leben in einer Art, die heute in Zeiten der Autofiktion erfrischend ungewöhnlich ist. »Ich hatte noch nie zuvor Dubonnet getrunken«, erzählte Reed einer verdutzen Journalistin der BBC einmal, anspielend auf eine Zeile aus dem Eröffnungstrack »Berlin«, um fortzufahren: »Und ich bin niemals zuvor in Berlin gewesen, als ich das Album schrieb.«

Dass Reed nie in Berlin gewesen war, aber trotzdem ein Album über die Stadt machte, nannte er, ganz der Schriftsteller, den »Vorteil des Schreibens«.

So wie Franz Kafka nie in Amerika gewesen war, als er an seinem gleichnamigen Roman arbeitete, sondern nur ein Foto eines Lynchmords besaß, so kannte Reed Berlin nur aus der Literatur und dem Film der zwanziger Jahre. »Ich dachte an Christopher Isherwood, an den Schauspieler ­Peter Lorre, den Regisseur und Schauspieler Erich von Stroheim oder an Marlene Dietrich.« Auch ­­Filme wie »Nosferatu« und Stücke wie die »Dreigroschenoper« hätten sein damaliges Bild von Deutschland und Berlin geprägt, erzählte er dem Tagesspiegel 2007. Noch etwas anderes wird ihn geprägt haben: Das Musical »Cabaret«, basierend auf den Romanen von Isherwood, lief 1966 am Broadway an – kein Wunder, dass das Far Out Magazine »Berlin« als »Cabaret from hell« charakterisierte.

Dass er nie in Berlin gewesen war, aber trotzdem ein Album über die Stadt machte, nannte er, ganz der Schriftsteller, den »Vorteil des Schreibens«. Berlin interessierte ihn vor allem auch wegen der Mauer, dass er das Album nach der Stadt benannte, war »total metaphorisch«, genauso gut hätte es »Brooklyn« heißen können, wie er einmal erzählte. Tatsächlich veröffentlichte Reed 1989 das ­Album »New York«, das handfeste Ungerechtigkeit in seiner Heimatstadt thematisierte – so gar nicht metaphorisch.

Reeds Album machte zwar keinen Eindruck auf die Presse, dafür aber auf seine Musikerkollegen: Es ist kein Wunder, dass David Bowie sowie Iggy Pop Mitte der Siebziger nach Berlin zogen, Bowie der Stadt sogar eine ganze Alben-Trilogie (»Low«, »›Heroes‹« und »Lodger«) widmete. Die Armut und das Leid, das hier ­geschildert wurde, wünscht man sich wahrlich nicht zurück, das Berlin von heute aber, das sich seiner Subkultur entledigt hat und in dem man nicht mal mehr günstig wohnen kann, ist auch nicht mehr das Berlin, von dem Lou Reed euphorisch sprach. Als eine Journalistin von der BBC fragte, ob die Berliner enttäuscht waren, als er endlich in die Stadt reiste und sie herausfanden, dass er niemals zuvor dagewesen war, antwortete er: »Waren sie. Aber ich war begeistert.«