Russlands antiimperialistische imperiale Bestrebungen

Das antiimperialistische Imperium

Das Großmachtstreben Russlands erscheint als ein paradoxer Anti­imperialismus, der sich gegen die westliche Hegemonie auflehnt, um andere Staaten in den eigenen unmittelbaren Herrschaftsbereich einzugliedern.
Disko Von

Begriffe wie Kolonialismus und Imperialismus bestimmen immer mehr die Debatten. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine spricht selbst Bundeskanzler Olaf Scholz vom »russischen Imperialismus«, fordern Aktivisten, Russland zu dekolonisieren und reaktivieren Linke Begriffe aus der Zeit der Solidarität mit nationalen Befreiungsbewegungen. Doch wie werden Begriffe wie Kolonialismus und Imperialismus dabei verwendet, und wie sinnvoll sind sie für das Verständnis heutiger Konflikte? Peter Korig (»Jungle World« 35/2023) befürchtet, es könne sich eine linke ­Romantisierung von Befreiungsbewegungen wiederholen. Udo Wolter wies auf eine Gleich­zeitigkeit von kolonial-imperialistischen und postkolonialen Momenten in der russischen Geschichte hin (»Jungle World« 39/2023). Ilya ­Budraitskis forderte einen Bruch mit Russlands imperialer Geschichte (»Jungle World« 40/2023). Olaf Kistenmacher kritisierte die Parteinahme des Antiimperialismus für Nationalstaaten und Volksgruppen (»Jungle World«  42/2023). Ernst Lohoff diagnostizierte einen Weltbürgerkrieg, der sich mit dem Begriff des Imperialismus nicht erklären lasse (»Jungle World« 43/2023). Jörn Schulz argumentierte, der Begriff Imperialismus eigne sich für eine vergangene Phase in der Entwicklung des Kapitalismus, nicht aber für die Analyse heutiger Herrschaftsformen (»Jungle World« 44/2023). Tomasz ­Konicz analysierte den heutigen »Krisenimperialismus« (»Jungle World« 46/2023). Ewgeniy Kasakow plädierte für die Notwendigkeit einer Theorie der Außenpolitik kapitalistischer Staaten (»Jungle World« 48/2023).

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Seit dem Kalten Krieg ist Antizionismus auf eine bezeichnende Weise zentral für den linken Antiimperialismus. Auch heute noch: Der »Zionismus« sei eine »Waffe des westlichen Imperialismus«, die gegen »Souveränität und Einigkeit der arabischen Welt« gerichtet sei, heißt es beispielsweise in einer Ende Oktober veröffentlichten »Gaza Resolution« der Progressiven Internationale (PI).

Die autoritären und regressiven Tendenzen des antiimperialistischen Befreiungsnationalismus treten in diesem Text offen zutage. So heißt es, die Palästinenser müssten zuerst ihren »nationalen Kampf« gewinnen, bevor feministische Kämpfe und Klassenkämpfe ausgefochten werden können; zurückgewiesen werden müsse ein »kolonialer Feminismus«, der von dem »Hauptwiderspruch des Kolonialismus und Imperialismus ablenkt«. Das bedeute, den Kampf gegen Israel zu führen: Als »koloniales Projekt und imperialer Vorposten« stehe es »gegen die Tendenz der Geschichte, in Richtung Befreiung voranzuschreiten«; ein Sieg über Israel werde »dem Imperialismus überall einen schweren Schlag versetzen«.

Diese dogmatische Sprache und die Unterstützung eines unter autoritären Vorzeichen geführten nationalen Befreiungskampfs wirken altmodisch, liegen aber bei Linken wieder weltweit im Trend. Die PI wurde erst im Dezember 2018 gegründet, um neuere linke Bewegungen in den USA und Europa – beispielsweise Yanis Varoufakis’ Democracy in Europe Movement (DiEM25) und die Democratic Socialists of America (DSA) – mit Parteien, Gewerkschaften und Organisationen in Lateinamerika, Afrika und Asien zu vernetzen.

»Die herrschenden Klassen des Westens sind demaskiert«, heißt es in einer Ankündigung der Progressiven Internationale, auf den Krieg im Gaza-Streifen mit einer internationalen Kampagne gegen den US-Militarismus zu reagieren.

Wie schon im Kalten Krieg eint die Feindschaft gegen Israel die Internationale der Antiimperialisten, und wie zu Sowjetzeiten ist der Antizionismus auch deshalb so attraktiv, weil er es ermöglicht, Propaganda gegen den Westen als Ganzes zu machen. »Die herrschenden Klassen des Westens sind demaskiert«, heißt es in einer Ankündigung der Progressiven Internationale, auf den Krieg im Gaza-Streifen mit einer internationalen Kampagne gegen den US-Militarismus zu reagieren. Sie trägt den vielsagenden Namen »From all rivers to all seas«. Die »ihrem Ende zugehende unipolare Ära« verleite den Imperialismus dazu, Herausforderungen seiner Macht mit brutaler Gewalt zu unterdrücken, wie jetzt in Palästina. Israel gilt als Symbol und Speerspitze des von den USA aufrechterhaltenen globalen Ausbeutungssystems, dessen »parasitären Verbindungen« der Imperialismus mit brutaler Gewalt verteidige.

Ein Grund für die neue Beliebtheit antiimperialistischer Rhetorik ist sicher der Aufstieg nichtwestlicher Mächte, allen voran Chinas. China hat vorgemacht, dass ein nicht demokratisch regierter Staat, der mit autoritären Mitteln die Ausbeutung der Arbeit organisiert, steuernd in die Wirtschaft eingreift und die Interessen des Kapitals politischen Zielen unterordnet, dem Westen Konkurrenz machen kann.

Deshalb ist die antiwestliche Rhetorik der Herrscher in China und Russland nicht nur Bühnenzauber, mit denen sie den sogenannten Globalen Süden auf ihre Seite zu ziehen versuchen. Den beiden nichtwestlichen Großmächten Russland und China dient ein antiimperialistisch konnotierter Nationalismus zur Legitimation der Herrschaft im Inneren und zur Rechtfertigung ihrer außenpolitischen Ambitionen, die man als Streben nach einem gegen die westliche Hegemonie durchzusetzenden Großmachtstatus be-
schreiben könnte.

Gleichzeitig geht diese antiwestliche Rhetorik insbesondere bei Russland einher mit der Feindschaft gegen liberale Gesellschaftsformen und emanzipatorische Bestrebungen. In einem Anfang Dezember vom russischen Außenministerium verbreiteten Artikel wird beispielsweise behauptet, Russland sei »wieder einmal ausländischen Versuchen ausgesetzt, seine Entwicklung zu hemmen«. Dabei stellt der Autor Aleksej Drobinin, der im Ministerium die Abteilung für außenpolitische Planung leitet, die Bedrohung durch die »Werteagenda« der »globalistischen Eliten« des Westens – gemeint sind unabhängige Medien und freie Wahlen ebenso wie die »LGBT-Agenda« – mit der neoliberalen Weltwirtschaftsordnung, der »Dominanz des US-Dollars« und den westlichen Maßnahmen gegen den Protektionismus nichtwestlicher Staaten in eine Reihe.

Solche Rhetorik dient nicht zuletzt dazu, sich den isolationistisch gesinnten Rechtsextremen im Westen als Partner anzubieten. Die westliche Hegemonie erscheint hier als ein gegen die Interessen selbst der westlichen Nationen gerichtetes Projekt »globalistischer Eliten«, mit dem alle möglichen anderen Ressentiments und Verschwörungstheorien verquickt werden können.

Damit bestätigt sich ein weiteres Mal, dass eine bloße Parteinahme gegen den Westen und dessen globale Machtpolitik kein per se emanzipatorisches Anliegen ist. Spätestens seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine werden auch in englischsprachigen linken Diskussionen schlichte antiimperialistische Konzepte verstärkt kritisiert, denen kaum noch ein Begriff von Kapitalismus zugrunde liegt, sondern die eine fast schon manichäische Weltsicht propagieren, in der Befreiung mit dem Kampf gegen die westliche Hegemonie gleichgesetzt wird. Oft mündet eine solche Kritik in dem Appell, sich für alle Unterdrückten einzusetzen, auch für die Opfer des Imperialismus nichtwestlicher Staaten.

Deshalb ist Peter Korigs Hinweis verdienstvoll, dass die Probleme des Befreiungsnationalismus auch dadurch nicht verschwinden, dass dieser sich – wie im Falle der Ukraine – gegen nichtwestliche Mächte wie Russland richtet. Überhaupt scheint es Ausdruck der politischen Resignation unserer Zeit, wie sehr sich die Vorstellungen von Befreiung selbst der weltweiten Linken in nationaler Souveränität und Demokratie erschöpfen.

Real ist die Gefahr einer »Dekolonisierung« Russland für Wladimir Putin, obwohl wie immer unklar scheint, wo ehrliche Paranoia aufhört und die kalkulierte Propaganda beginnt.

Allerdings ist fraglich, ob Korigs Kritik wirklich hilft, die russische Außenpolitik und Kriegsführung zu verstehen. Wie er selbst anmerkt, ist eine »Dekolonialisierung Russlands, verstanden als Aufteilung in unabhängige, ethnisch definierte Staaten« praktisch kaum vorstellbar, weil dafür die ökonomischen Grundlagen fehlen und ein solcher Zerfall in ethnischer Gewalt enden könnte. Ilja Budraitskis argumentiert in seinem Text, dass mit den tatsächlich existierenden innerrussischen Problemen und Konflikten, die der Diskussion über eine Dekolonisierung Russlands zugrunde liegen, anders umgegangen werden könnte und müsste als mit der Forderung nach Separatismus.

Real ist die Gefahr einer »Dekolonisierung« Russland jedoch für Wladimir Putin, obwohl wie immer unklar scheint, wo ehrliche Paranoia aufhört und die kalkulierte Propaganda beginnt. Putin beschwört bei jeder Gelegenheit den drohenden Zerfall Russlands als das eigentliche Ziel des Westens, zuletzt beispielsweise bei einer Rede Ende November vor Vertretern der Russischen Orthodoxen Kirche. Russland kämpfe für das »historische Recht, Russland zu sein – eine starke, unabhängige Macht, ein Zivilisationsstaat«. Die USA jedoch wollten Russland »zerstückeln und ausplündern«. Die »Diversität und Einheit unserer Kulturen, Traditionen, Sprachen und ethnischen Gruppen passt nicht in die Logik der westlichen Rassisten und Kolonialisten, in ihre grausamen Pläne der totalen Entpersonalisierung, Uneinigkeit, Unterdrückung und Ausbeutung«. Die eigentlich harmonische gesellschaftliche Ordnung Russlands werde also durch die westliche Einmischung bedroht. Die von den USA dominierte Weltordnung befinde sich im Niedergang, jetzt sei Russland dabei, »eine gerechtere Weltordnung zu schaffen«.

Solche Rhetorik Putins ist nicht neu, er sprach auch schon beispielsweise direkt nach der Annexion der Krim 2014 davon, der Westen strebe eine Zerteilung Russlands an, die er nicht zulassen werde. Das zeigt drei Dinge: Erstens, wie wichtig es für Putin ist, zu betonen, dass Russland mehr als nur ein Nationalstaat ist, nämlich ein zahlreiche Nationalitäten umfassender »zivilisatorischer« Staat und eine Weltmacht. Zweitens, wie eng der Kampf gegen den Westen mit der Repression und Gewalt im Innern verknüpft ist.

Wenn Putin behauptet, der Westen wolle Russland »zerteilen«, dann meint er damit nicht das tatsächliche russische Staatsgebiet, sondern einen viel diffuseren und weiter reichenden Großraum.

Und drittens ist das Streben nach russischem Weltmachtstatus und die Stärkung einer im permanenten Ausnahmezustand befindlichen repressiven Ordnung im Innern eng mit dem Krieg verknüpft und weist damit weit über die russischen Staatsgrenzen hinaus. Die Diskussionen über eine »Dekolonisierung« Russlands und einen antiimperialistischen Widerstand sind nicht deshalb aufgekommen, weil es in Russland unzufriedene Nationalisten gibt, sondern weil Russland Herrschaft über andere Staaten beansprucht oder sie in eine von Russland dominierte Ordnung einfügen will.

Wenn Putin behauptet, der Westen wolle Russland »zerteilen«, dann meint er damit nicht das tatsächliche russische Staatsgebiet, sondern einen viel diffuseren und weiter reichenden Großraum, dessen Beherrschung die nationale Souveränität kleinerer Staaten ebenso im Weg stehen kann wie eine demokratische Gesellschaftsordnung oder der Widerstand der Bevölkerung.

Viele Linke stehen dem gegen Russland gerichteten postkommunistischen Befreiungsnationalismus, wie er in der Ukraine eine große Rolle spielt, distanziert gegenüber, denn sein konkreter Inhalt ist die Verteidigung oder die Erkämpfung nationaler Souveränität, bürgerlicher Demokratie und Mitgliedschaft in EU und Nato, verbunden mit einer gesellschaftlichen und kulturellen »Dekolonisierung«, die letztlich vor allem aus Nationalismus und Ablehnung der Sowjetunion besteht.

Den Bürgern dieser Staaten – wieder allen voran die Ukraine – erscheint ein solcher Kampf allerdings häufig plausibel und notwendig: weil ihnen vor Augen steht, was die Abschaffung der nationalen Souveränität bedeuten würde. Selbst der von Korig zitierte, in Analyse&Kritik publizierte Aufruf »Für einen solidarischen Antiimperialismus« formuliert an einer wichtigen Stelle die Forderung, sich einen Begriff von den Unterschieden der Herrschaft in Russland und der Ukraine zu machen. Es sei falsch, »die protofaschistische Putin-Diktatur mit der korrupten bürgerlich-parlamentarischen Demokratie in der Ukraine« gleichzusetzen. Zwar mag Faschismus ein zur Analyse Russlands noch weniger geeigneter Begriff sein als Imperialismus, aber dass viele ihre Parteinahme für die Verteidigung der Ukraine mit antifaschistischem Vokabular begründen, hat dennoch eine Berechtigung, denn es geht dabei um die Verteidigung eines bürgerlichen Nationalstaats gegen seine Unterwerfung unter das autoritär-imperiale Projekt Russlands.