Der Journalist Jake Wallis Simons und sein Buch »Israelphobie«

Wer hat Angst vor Israel?

Der Journalist Jake Wallis Simons stellt in seinem neuen Buch den Begriff der »Israelphobie« vor, den er als Ergänzung zum Antisemitismus und Antizionismus verstanden wissen will. Doch auch unabhängig von der Frage, ob es die neue Begrifflichkeit wirklich braucht, liefert Simons’ Buch eine radikale Kritik am Antisemitismus der Progressiven.

Ein Autokorso rollt durch ein jüdisch geprägtes Viertel im Norden Londons. Männer schwenken palästinensische Fahnen aus den Fenstern aufgemotzter Wagen. Parolen sind zu hören. Durch ein Megaphon wird gebrüllt: »Fuck the Jews, rape their daughters!« Diese antisemitische Eruption auf den Straßen Londons hat sich nicht etwa im Rahmen der Explosion antisemitischer Attacken in Großbritannien nach dem Hamas-Massaker am 7. Oktober ereignet, sondern spielte sich im Frühjahr des Jahres 2021 ab. Jake Wallis Simons, britischer Journalist und Romanautor, steigt in seinem nun auch auf Deutsch vorliegenden Buch »Israelphobie: Die unendliche Geschichte von Hass und Dämonisierung« mit diesem Vorfall in seine Untersuchung des zeitgenössischen Antisemitismus ein.

Die zitierte Parole klingt wie eine düstere Ankündigung dessen, was die Hamas und ihre Lakaien am 7. Oktober verwirklichten: grauenhafte, bestialische Morde an jüdischen Zivilisten und systematische Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen. Simons konnte noch nicht wissen, was sich am 7. Oktober im vergangenen Jahr in Israel ereignen sollte, als er den Londoner Autokorso als Einstieg in sein Thema wählte. Sein Buch erschien im englischen Original auf den Tag genau einen Monat vor dem Massaker.

Simons’ Band ist zuvorderst der Versuch einer globalen Bestandsaufnahme des zeitgenössischen israelbezogenen Antisemitismus am Vorabend des 7. Oktober.

Was als ungünstiger Veröffentlichungszeitpunkt erscheinen könnte, hebt die eigentliche Stärke des Buchs hervor. Simons’ Band ist zuvorderst der Versuch einer globalen Bestandsaufnahme des zeitgenössischen israelbezogenen Antisemitismus am Vorabend des 7. Oktober. Der Autor trägt in guter journalistischer Tradition eine Fülle an empirischem Material, an Ereignissen und Tendenzen zusammen, die das Ausmaß des Phänomens eindrucksvoll verdeutlicht. Er zeigt damit, wie virulent der israelbezogene Antisemitismus bereits vor dem 7. Oktober war – und wie stark sich der Hamas-Angriff bereits anzukündigen schien.

Simons’ Schilderungen der Verbreitung von israelbezogenem Antisemitismus sind erschreckend. Er ist gut über die verschiedensten globalen Ausprägungen informiert. Insbesondere den israelbezogenen Antisemitismus innerhalb des sich als progressiv verstehenden politischen Lagers in Großbritannien und den Vereinigten Staaten schildert er eindrücklich und detailliert. Gerade diesen israelbezogenen Antisemitismus, der sich linksliberal wähnt, versteht Simons als die gegenwärtig dominante Form des Antisemitismus.

Deren Protagonisten, die Simons als »nützliche Idioten« bezeichnet, übersetzen alte antisemitische Ressentiments in die Sprache des Antirassismus. Wo dieser Antisemitismus der Progressiven auftaucht, hüllt er sich in ein politisches Gewand, verweist auf jüdische Sympathisanten und versichert immerzu, deshalb mit Antisemitismus nichts zu tun zu haben. Schließlich stelle man sich gegen Diskriminierung jeder Art und habe auch eine Menge antizionistischer Juden auf seiner Seite.

Wo der Antisemitismus der Progressiven auftaucht, hüllt er sich in ein politisches Gewand, verweist auf jüdische Sympathisanten und versichert immerzu, deshalb mit Antisemitismus nichts zu tun zu haben.

Neben einer Bestandsaufnahme der Form und Verbreitung und von israelbezogenem Antisemitismus sowie seiner Geschichte – die klare Stärke des Buchs – möchte Simons jedoch auch eine theoretische Reflexion des Antisemitismus im Allgemeinen leisten. Dieser jahrtausendealte Hass, so Simons, habe sich immer anzupassen gewusst. Richtete er sich in der Vormoderne gegen das Judentum als Religion, im 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegen die Juden als »Rasse«, so habe er sich jetzt an den Staat der Juden geheftet. Diese keineswegs neuen Einsichten sowie der Begriffs- und Deutungskampf um den israelbezogenen Antisemitismus bringen Simons zum zentralen Vorschlag seines Buchs, der zugleich sein Titel ist: der Einführung eines neuen Begriffs, der »Israelphobie«.

Diesen Begriff, der etwas sonderbar an den Kampfbegriff der »Islamophobie« erinnert, führt Simons ein, weil er zum einen die spezifische Israelbezogenheit des neuen Antisemitismus erfasse und zum anderen im Gegensatz zum Begriff des Antizionismus deutlich die Wahnhaftigkeit des Phänomens hervorhebe. Dem »israelphoben« Lager sei es gelungen, sich dem Vorwurf des Antisemitismus zu entziehen, teils durch den Verweis auf antizionistische Juden oder durch die Hervorhebung des eigenen Antirassismus, vor allem aber weil es sich auf die Formel »Antizionismus ungleich Antisemitismus« zurückzuziehen wisse.

Ähnlich dem 3-D-Test für Antisemitismus, der Dämonisierung, Delegitimierung und double standards als Kriterien benennt, stellt auch Simons eine Liste mit drei Punkten auf, an denen man Israelphobie erkennen könne: »1. Dämonisierung: Verleumdung Israels als böse und Bedrohung für die Welt. 2. Bewaffnung: Instrumentalisierung der Bewegung für soziale Gerechtigkeit als trojanisches Pferd für den Hass auf Juden und ihre nationale Heimat. 3. Verfälschung: Nachbeten von Nazi- oder Sowjetpropagandalügen.«

Mit der Wortschöpfung »Israelphobie«, die man zunächst auch für eine Verballhornung des Begriffs »Islamophobie« halten könnte, meint es Simons sehr ernst. Zwar glaubt er nicht, dass die Begriffe »Antisemitismus« und »Antizionismus« unbrauchbar geworden seien, doch sie würden »mit der jüngsten Mutation des antijüdischen Hasses einen Teil der Wirklichkeit verdeckt lassen«. Deswegen plädiert er dafür, »›Antisemitismus‹ und ›Antizionismus‹ mit dem dritten Konzept der ›Israelphobie‹« zu »verknüpfen«.

Doch so unscharf, wie Simons behauptet, sind die in der Debatte über Antisemitismus bereits etablierten Begrifflichkeiten gar nicht. An einem neuen Begriff fehlt es nicht, immerhin werden ja über den Antizionismus noch immer Deutungskämpfe ausgefochten. Der Versuch, dem Phänomen einen neuen Namen zu geben, wirkt im Buch deshalb etwas vorschnell und einem Relevanzdruck entsprungen.

Simons zeigt die historischen Anfänge der »Israelphobie« in der NS-Ideologie und deren Nachwirkungen im Panarabismus oder bei der Muslimbruderschaft auf und stellt dar, wie die heutige Linke im Westen bewusst oder unbewusst an die antizionistische Propaganda der Sowjetunion anknüpft.

Das ist aber nicht weiter schlimm, wenn man sich für ein gut zu lesendes und gründlich recherchiertes Überblicks- und Einführungswerk interessiert. So zeigt Simons beispielsweise die historischen Anfänge der »Israelphobie« in der NS-Ideologie und deren Nachwirkungen im Panarabismus oder bei der Muslimbruderschaft auf und stellt dar, wie die heutige Linke im Westen bewusst oder unbewusst an die antizionistische Propaganda der Sowjetunion anknüpft. Nur wer sich vom Buch einen originellen Beitrag zum Begriff des Antisemitismus verspricht, wird eher enttäuscht werden.

Das Buch ist vor allem eine entschiedene Anklage des im progressiven Milieu herrschenden Antisemitismus in Bezug auf Israel. Völlig zu Recht ist Simons über das Ausmaß und die Aggressivität der antisemitischen Rhetorik und über die Gewalt empört. Aus seinem Buch spricht gleichzeitig die Hoffnung, dass Israel endlich als »Land wie jedes andere« anerkannt wird, als Land, das als erste Bedingung für seine Gleichheit unter den Nationen das Recht hat, seine eigenen Schurken zu haben, wie alle anderen Länder auch, wie es Ze’ev Jabotinsky einst spitz formulierte, was Simons in seinem Buch als Motto zitiert.

Diese sehr verständliche Hoffnung Simons’, dass Israel endlich in seiner Komplexität, in seinen Stärken wie Schwächen gesehen, anerkannt und von der family of nations wirklich aufgenommen wird, ist jedoch auch einer Naivität geschuldet: Simons scheint ungebrochen der Idee einer liberalen Weltordnung anzuhängen, obwohl doch gerade auch die kritische Antisemitismusforschung gezeigt hat, wie eng der Antisemitismus als zivilisationshistorisches Nebenprodukt im Allgemeinen, aber eben auch als konformistische Rebellion gegen das uneingelöste Glücksversprechen der Moderne im Besonderen mit der kapitalistischen Einrichtung der Gesellschaft verwoben ist, die ihn provoziert.


Buchcover_Israelphobie

Jake Wallis Simons: Israelphobie. Die unendliche Geschichte von Hass und Dämonisierung. Aus dem Englischen von Klaus Bittermann, Mark Feldon und Christoph Hesse. Edition Tiamat, Berlin 2023, 240 Seiten, 24 Euro