Ein Bericht aus Marseille, der Hochburg von Street Art, Bouillabaisse und Strandpartys

Marseille, Marseille, du bist so wunderbar

Popkolumne. Von der alten Mauerstadt in die Metropole des Lichts.
Die Summens Von

»Marseille ist keine Stadt für Touristen«, urteilte der Kriminalschriftsteller Jean-Claude Izzo 1996 über die französische Hafenstadt. Lang ist’s her. Aus dem Stadtzentrum zumindest wurden Gewalt und Bandenkriminalität inzwischen vertrieben.

Das Herz von Marseille ist nach wie vor der Vieux-Port. Er ist die älteste Hafenanlage Europas und war während des Zweiten Weltkriegs Zufluchtsort, aber auch Falle für Emigranten, die per Schiff vor den Nazi fliehen wollten. Anna Seghers hat dies in ihrem Roman »Transit«, Jean Malaquais in »Planet ohne Visum« eindrücklich beschrieben. Heute ist die Hafenanlage eine beliebte Flaniermeile und Ankerplatz Hunderter sorglos vor sich hin schaukelnder Privatyachten.

Auf der Hin- und Rückfahrt im Highspeed-Zug wurde allerdings nicht pflichtgemäß die Netflix-Serie »Marseille« mit Gérard Depardieu als langjährigem Bürgermeister der Stadt gebingt, sondern stattdessen die Serie »Dead to Me« nachgeholt.

Geil ist es hier trotzdem, besonders bei Nacht, und eine schmackhafte Bouillabaisse bekommt man fast überall. Danach flieht man vor der Sommerhitze am besten mit der Fähre zu einem der Stadtstrände. Mit dem DJ der Privatlounge für völlig schallunempfindliche In­fluenc­er:in­nen streitet man sich dort besser nicht über die Lautstärke, sondern baut sein überschüssiges Adrenalin beim Bahnenziehen im erstaunlich klaren Wasser ab. Marseille, du wunderschöne Hochburg der Street Art und des unglaublichen Lichts: Wir kommen wieder.

Auf der Hin- und Rückfahrt im Highspeed-Zug wurde allerdings nicht pflichtgemäß die Netflix-Serie »Marseille« mit Gérard Depardieu als langjährigem Bürgermeister der Stadt gebingt, sondern stattdessen die Serie »Dead to Me« nachgeholt. Gibt es doch kaum etwas Erbaulicheres, als zwei Frauen dabei zuzusehen, wie sie sich bei Death-Metal-Listening-Sessions im Auto gegen die Widrigkeiten des Lebens stählen.

Das 800 Seiten schwere Buch »Ferne Ziele. Geschichten über die Berliner Schule für elektronische Musik« passte gerade noch in den Koffer. In liebevoll geführten und transkribierten Interviews mit Szeneprotagonisten wie Manuel Göttsching, Harald Grosskopf oder Michael Duve erzählt Bernd Kistenmacher, wie sich in der alten Mauerstadt aus den Resten einer epigonalen Beat-Musik über progressiven Rock eine transzendentale, eigenständige Musik entwickelt, die sich mehr und mehr vom angelsächsischen Rock abkoppelt und mit Hilfe neuer Synthesizer und Sequenzer in ungehörte elektronische Sphären vordringt. Musik für Space-Tou­risten.
 

Buchcover_Ferne_Ziele

Bernd Kistenmacher: Ferne Ziele. Geschichten über die Berliner Schule für elektronische Musik. Edition Mahlstrom, Berlin 2023, 788 Seiten, 69 Euro