Benno Gammerl zeigt mit seinem Buch »Queer« die Geschichtslosigkeit der Queer Theory auf

Gequeertes Deutschland

Der Historiker Benno Gammerl hat mit »Queer« ein Grundlagenwerk zur queeren Geschichte Deutschlands vorgelegt. Wie hier die Opfer von Misogynie, Homophobie und Transphobie über einen Kamm geschoren werden, zeugt von einem methodologischen Problem der Geschichtswissenschaft.

Seit einigen Jahren wird mit dem sogenannten »Queering« der Anspruch verbunden, wissenschaftliche Disziplinen und Fragestellungen unter queertheoretischen Prämissen neu auszurichten. Es gelte, Wissen zu »dekolonisieren« und Marginalisierten zur gerechten Repräsentation zu verhelfen.

Längst erstreckt sich dieser akademische Aktivismus nicht mehr allein auf die Geisteswissenschaften – er hat sich auch in anderen Disziplinen herumgesprochen, dass es sich um ein besonders ergiebiges Feld akademischer Arbeitsbeschaffung handelt. 2017 fand, gefördert von der Kulturstiftung des Bundes, das Projekt »Queering Holocaust History« statt. Im Rahmen eines Puppentheaters und einer Konferenz sollte unter anderem ausgelotet werden, wie sich die Holocaustforschung mit der Queer Theory neu denken ließe.

Mit »Queer. Eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute« hat der Emotionshistoriker Benno Gammerl nun den Versuch einer populärwissenschaftlichen, queeren Geschichtsschreibung vorgelegt. Dass es sich bei der Bezeichnung »queer« nicht bloß um ein griffiges Synonym für Schwule, Lesben und Trans-Personen handelt, wird bereits in der Einleitung klar. Queeraktivistische Kampfbegriffe wie »Islamophobie«, »Klassismus« oder »Homonationalismus« werden hier als hilfreiche Konzepte zur Kritik von Ungleichheit innerhalb queerer Bewegungen empfohlen.

Der erste Fernsehkuss zwischen zwei Männern in der Fernsehserie »Lindenstraße« leitet das Kapitel über die achtziger Jahren ein, das von der wachsenden öffentlichen Wahrnehmung von Lesben, Schwulen und Trans-Personen sowie der Aids-Krise handelt.

In sieben Kapiteln widmet sich der Autor der deutschen LGBT-Geschichte – von der Frauenbewegung des späten 19. Jahrhunderts über den Kampf gegen den Paragraphen 175 bis zur lesbisch-feministischen Antira-Bewegung der neunziger Jahre. Ziel sei es, »die deutsche Geschichte zu diversifizieren« und queere Perspektiven auf die Geschichte Deutschlands zu entwickeln.

Jedes Kapitel wird mit einer Fotografie eingeleitet. Den Abschnitt über die Geschichte des Kaiserreichs ziert eine Studiofotografie von fünf Frauenrechtsaktivistinnen, unter ihnen Anita Augspurg und Marie Stritt. Die lesbische Juristin Augspurg, die selbst nur in Zürich studieren konnte, setzte sich für die Zulassung von Frauen zum Studium auch im Deutschen Reich ein. 1918 gehörte sie dem »revolutionären Zentralarbeiterrat« in Bayern an. Marie Stritt kämpfte für das Frauenwahlrecht in Deutschland und setzte sich für eine Reform des Sexualstrafrechts und die Straffreiheit von Abtreibungen ein.

Das Kapitel über den Nationalsozialismus wird mit einem Foto der geplünderten Bibliothek des Instituts für Sexualwissenschaft aus dem Jahr 1933 eingeleitet. Die Bücher liegen aufgehäuft im Berliner Studentenhaus. Darüber beugt sich ein junger Mann, der das Raubgut betrachtet. Sein Gesicht ist nicht zu erkennen, und so mutmaßt Gammerl darüber, ob dieser wohl lächelt oder seine Stirn runzelt, als Zeichen der inneren ­Distanz oder des Erstaunens.

Und der erste Fernsehkuss zwischen zwei Männern in der Fernsehserie »Lindenstraße« leitet das Kapitel über die achtziger Jahren ein, das dann von der wachsenden öffentlichen Wahrnehmung von Lesben, Schwulen und Trans-Personen sowie der Aids-Krise handelt. Die Fotogra­fien haben an einigen Stellen die Funktion, einen persönlichen Bezug zwischen dem Leser und den histo­rischen Subjekten herzustellen. Man soll sich in die deren gesellschaftliche Situation hineinversetzen.

Die »Diversifizierung deutscher Geschichte« meint nicht, das Augenmerk auf bisher in der Wissenschaft marginalisierte Gruppen zu lenken, sondern die Erinnerung und Aufarbeitung ihrer Geschichte in eine queere Erzählung einzuordnen.

Die Fotografien und das »Einfühlen« in die Abgelichteten forcieren eine auf Identifikation fokussierte Geschichtsschreibung. Dies geschieht häufig auf Kosten jener Distanz zum eigentlichen Objekt der Betrachtung, die eben den Unterschied zwischen Reflexion und bloßer Parteinahme ausmacht. Nur vordergründig kommen die dargestellten Subjekte zu Ihrem Recht, wenn man ihr Fühlen und Erleben in den Fokus der Aufmerksamkeit stellt. Allgemeine Erkenntnisse, die ja gerade auf der Abstraktion vom individuellen Erleben beruhen, lassen sich so nicht mehr formulieren. ­Solche Erkenntnisse scheinen aber auch gar nicht mehr im Interesse des Autors zu liegen, geht es doch viel mehr um eine wie auch immer geartete gerechtere Repräsentation von queeren Identitäten und Geschichten, als sie bisher üblich schien.

Dabei sind die im Buch versammelten vielfältigen Biographien und Ereignisse keineswegs unerforscht. ­Es gibt mittlerweile eine Fülle von geschlechtergeschichtlichen Arbeiten zur frühen Frauenbewegung, zur Beziehung von Nationalsozialismus und Homosexualität oder ­zum schwulenfeindlichen backlash im Zuge der Aids-Krise in der Bundesrepublik.

Die pauschale Behauptung, all dies spiele in der Geschichtswissenschaft und Erinnerungspolitik kaum eine Rolle, ist so heute nicht mehr aufrechtzuerhalten, was Gammerl auch selbst einräumt. Die »Diversifizierung deutscher Geschichte« meint also nicht, das Augenmerk auf bisher in der Wissenschaft marginalisierte Gruppen zu lenken, sondern die Erinnerung und Aufarbeitung ihrer Geschichte in eine queere Erzählung einzuordnen.

Es mag daher auch nicht mehr verwundern, dass Gammerl die Frage nach dem Warum der Geschichte und den Triebfedern sozialer Veränderungen nicht stellt; gleichwohl bleiben bei ihm die üblichen queertheoretischen Feindbilder nicht ­unerwähnt. Nicht namentlich genannte »weiße wohlhabende schwule Cismänner« werden als Hemmnisse bei der Aufgabe ausgemacht, die Community noch vielfältiger zu gestalten. Denn diese würden an ihren Privilegien hängen und dadurch schließlich den gemeinsamen Kampf für Inklusion und Partizipation erschweren.

Über die Kritik an Misogynie sowie Schwulen- und Lesbenfeindlichkeit »in muslimisch geprägten und anderen Ländern des globalen Südens« heißt es dagegen lapidar, es seien dort eben »kulturelle Kontexte, die Vielfalt oft auf ganz andere, mindestens ebenso interessante Weise organisieren«. Diese organisierte Vielfalt entgehe den Kritikern, denn diese hätten den »westlichen Blick« und »westliche Standards« gewissermaßen so stark verinnerlicht, dass ihnen die andere Kultur allein LGBT-feindlich erscheinen könne.

Eine Auseinandersetzung mit der Kritik an queerem Aktivismus der vergangenen Jahre sucht man in dieser Aufstellung queerer Geschichte übrigens vergebens. Dabei wäre diese ein lohnendes Objekt historischer Betrachtungen gewesen. Der Autor unternimmt jedoch genau das Gegenteil, indem er den Begriff »queer« enthistorisiert, ihn von seiner Genese in den neunziger Jahren löst und ihm umstandslos auch die Zeit des Kaiserreichs subsumiert. So wird ein Bedarf nach queerer Theorie suggeriert, als hätte es in der Geschichtswissenschaft bisher nicht die Möglichkeit gegeben, sozi­ale Minderheiten und abweichendes Verhalten abzubilden und zu analysieren.

Die Geschichtslosigkeit, die der Queer Theory als identitärer Seins-Ideologie innewohnt, schlägt bei Gammerl durch. Er wirft alle in einen Topf, die irgendwie als subaltern gelten.

Obwohl »Queer« ein populärwissenschaftliches Buch ist, legt es doch präzise offen, wie die akademische Vereinnahmung historischer Subjekte funktioniert. Die Geschichtslosigkeit, die der Queer Theory als identitärer Seins-Ideologie innewohnt, schlägt bei Gammerl durch. Er wirft alle in einen Topf, die irgendwie als subaltern gelten: die frauenliebende Suffragette, die Trans-Aktivistin in der Weimarer Republik, der von den Nazis verfolgte schwule Kommunist, die Tunten der Homosexuellen Aktion Westberlins, die Berliner Jahre der schwarzen, lesbischen Aktivistin Audre Lorde – sie alle tauchen bei Gammerl auf. Gemeinsam sei ihnen die sexuelle oder geschlechtliche Devianz, ihr Leiden und ihre Kämpfe werden vom Autor als queerer Kampf um gesellschaftliche Anerkennung der eigenen Andersartigkeit vereinheitlicht.

Durch diese Homogenisierung der »Opfer« entziehen sie sich aber der historischen Analyse. Die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse, die die Genannten überhaupt erst zu »Opfern« machten, bleiben in »Queer« blass und werden durch ahistorische ­Worthülsen wie »Heteronormativität« eher verschleiert als analysiert.

Die Empörung tut ein Übriges: Wer will sich schon mit Rassismus, Anti­semitismus und Misogynie auseinandersetzen, wenn er stattdessen ganz allgemein gegen Diskriminierung und für authentische Repräsentation der jeweils Betroffenen sein kann? Da historische Arbeiten es an sich haben, dass die Betroffenen meist selbst nicht mehr für sich sprechen können, stehen die queeren Akademiker und Kulturpraktiker schon bereit, diese von ihnen formulierte moralische Aufgabe stellvertretend zu übernehmen. So auch Gammerl mit »Queer«, der zunächst eine nicht genau definierte Masse an unterdrückten Queers ausmacht, um ihnen dann zur richtigen Repräsentation zu verhelfen.

Am Ende seines Buches bleibt Gammerl nichts anderes, als doch zu bekennen, dass man es eigentlich nicht besser wissen kann. Queere Geschichte sei ein in sich selbst wi­dersprüchlicher Prozess, mit Positivem wie Negativem, mit Licht und Dunkelheit – nie nur das eine oder das andere. Als »lebendige Erzählung« ­erinnere Geschichte daran, dass man nicht wisse, was die Zukunft bringt, und weiter heißt es ganz staatstragend: »Gerade deswegen müssen wir uns darum kümmern.« Aber kümmern um wen? Das Gemeinsame der Menschen, über die Gammerl schreibt, ist lediglich die vermeintliche oder tatsächliche Abweichung von einer Norm – und kann damit den unterschiedlichen Biographien im Sinne der Geschichtswissenschaft nicht gerecht werden.


Queer_Buchcover

Benno Gammerl: Queer. Eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute. Hanser, München 2023, 272 Seiten, 24 Euro