Die Gruppe Young Struggle frönt einem Gedenken, das deutscher kaum sein könnte

Erinnerung als höchste Form des Vergessens

Am Jahrestag der Novemberpogrome luden Gruppen zum »Gedenken« ein, die es besser hätten sein lassen sollen.
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Wer sich nicht zu den Massenmorden an jüdischen Zivilisten durch die Hamas geäußert habe, brauche sich auch nicht zur Po­gromnacht vom 9. November 1938 äußern. Diese mahnenden Worte waren am Jahrestag der Novemberpogrome vielfach in den sozialen Medien zu lesen. Der Journalist Sascha Lobo beispielsweise kritisierte »ritualisierte Solidaritätsposen mit toten Juden« bei gleichzeitigem Ausbleiben der »Solidarität mit lebenden, lebensbedrohten Juden«.

Tatsächlich aber blieben diesmal weitestgehend die verstaubten »Nie wieder«-Postings aus, die es in den vergangenen Jahren meistens gerade noch rechtzeitig in die Insta-Story zwischen Pumpkin-Spice-Latte und herzallerliebste Herbstimpressionen geschafft haben. Viele äußerten sich jedoch zum 7. Oktober diesen Jahres – nur wünschte man sich in den meisten Fällen, sie hätten es gelassen.

Die linksreaktionäre Gruppe Young Struggle zum Beispiel lud zum Gedenken an die Novemberpogrome vor das ehemalige KZ-Außenlager in der Sonnenallee in Berlin-Neukölln ein; nicht aber ohne auch an den 7. Oktober zu erinnern. Eine junge Aktivistin kritisierte in ihrer Rede den deutschen Staat, der kein Interesse daran habe, »Antisemitismus zu bekämpfen und damit Jüdinnen zu schützen«. Man empfinde sogar »Wut darüber, dass Gewalt gegen Frauen in Form von Vergewaltigung und systematischer Ermordung« auch heute noch »als Kriegswaffe« genutzt werde.

Der Shoah-Überlebende Jean Améry hat in den sechziger Jahren als einer der ersten den linken Antizionismus treffend analysiert. Der Antisemitismus sei dem Antizionismus inhärent »wie das Gewitter in der Wolke«, so Améry.

Dass das deutsche »Nie wieder« nicht mehr als ein Lippenbekenntnis sei, zeigt sich der jungen Revolutionärin zufolge jedoch nicht daran, dass die verschleppten israelischen Zivilisten in ihrer Mehrheit noch immer in der Geiselhaft der Hamas sind; nicht daran, dass es seit dem 7. Oktober einen Zuwachs an antisemitischen Vorfällen um 240 Prozent auf deutschen Straßen gibt; und auch nicht daran, dass die Berliner Polizei damit beschäftigt ist, Vermisstenanzeigen eben jener Verschleppten abzureißen, aber den Schutz von Demonstrationen gegen Antisemitismus in Neukölln nicht gewährleisten kann. Nein, es zeige sich daran, dass Jüdinnen, »die sich mit Palästina solidarisieren und sich damit gegen Kolonialismus und Unterdrückung stellen«, schärfster Repressionen ausgesetzt seien.

Und auch die »Wut« über die Gewalt gegen Frauen ließ jegliche Empathie oder auch nur Erwähnung jener Frauen vermissen, die die Hamas vergewaltigt, verschleppt und ermordet hat. Wütend sei die Aktivistin, weil die Gewalt gegen Frauen als Kriegswaffe nicht nur damals »im Hitlerfaschismus«, sondern »eben auch heutzutage in Kongo oder in Palästina« zum Einsatz käme.

Young Struggle kann man nicht vorwerfen, zum 7. Oktober geschwiegen zu haben. Es dauerte nur drei Tage, bis die Gruppe die blutigen Angriffe auf Partybesucher und Kibbuzbewohner jeden Alters als palästinensischen Befreiungskampf verharmloste und in antisemitischer Manier vom »Ausbruch des palästinensischen Volkes aus dem Freiluftgefängnis Gaza« schwadronierte.

Einen Monat später nun, am 9. November, haben sie das Fanal für den Massenmord an über sechs Millionen Juden politisch instrumentalisiert und missbraucht. Die Rednerin erdreistete sich, dem jüdischen Staat vorzuwerfen, Nazi-Methoden anzuwenden. Jenem Staat also, dessen absolute Notwendigkeit sich an eben diesem 9. November vor 85 Jahren spätestens erwiesen hatte; ebenso wie sich am 7. Oktober, dem größten antisemitischen Pogrom seit der Shoah, wieder auf traurige Weise erwies, dass der Schutz dieses Staats und seiner Bewohner nicht in Frage gestellt werden kann und darf.

Young Struggle lud nach der Kundgebung noch zum gemeinsamen Putzen von Stolpersteinen ein. Sie bewiesen damit, was Eike Geisel einst sagte: Erinnerung ist die höchste Form des Vergessens. Mit den toten Juden muss man eben nicht mehr zusammenleben, nur die lebendigen bleiben ein Ärgernis, dessen man sich zu entledigen trachtet.

So migrantisch man sich auch geben mag, stellen sich diese Kämpfer für die gute Sache damit in deutsche Tradition. Der deutsche Staat hat eine Weile gebraucht, um zu erkennen, dass das Gedenken an die Vernichtung der europäischen Juden dem Image nicht schadet, sondern es erheblich verbessert.

»Wir lernten, dass es zu unserem eigenen Vorteil ist, wenn wir uns unserer Geschichte ehrlich stellen«, fasste das etwa der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck einst pointiert zusammen. Seitdem ist Deutschland in aller Welt als Erinnerungsweltmeister bekannt. Und weil es aus der Geschichte gelernt hat, durfte es fortan allen anderen wieder mit väterlichen Ratschlägen zur Seite stehen – insbesondere Israel.

Young Struggle macht somit zutiefst deutsche Politik. Mit der Shoah kann man alles Mögliche verkaufen, auch Judenmord als Befreiungskampf. Wer »gedenkt«, geht aufrecht, darf mit dem Finger mahnen. Israel hat sicher nur darauf gewartet, von verklatschten deutschen Linke erklärt zu bekommen, welche Lehren man aus der Vergangenheit zu ziehen habe.

Der Shoah-Überlebende Jean Améry hat in den sechziger Jahren als einer der ersten den linken Antizionismus treffend analysiert. Der Antisemitismus sei dem Antizionismus inhärent »wie das Gewitter in der Wolke«, so Améry. Die Neuausgabe seiner Erinnerungen widmete er, selbst sein Leben lang ein Linker, den neuen deutschen Linken, die nur »mit allzu geschwindem Munde vom Faschismus« reden, ohne einzusehen, dass sie »über die Realität nur Raster schlecht durchdachter Ideologie legen«. Seinen ersten Aufenthalt in Deutschland nach seiner Befreiung aus dem KZ Bergen-Belsen kommentierte er dementsprechend: »Ich fahre durch das blühende Land, und es wird mir immer weniger wohl dabei.«